Bestuhlung Klassenzimmer  - © Foto: iStock / sengchoy; Illustration: Rainer Messerklinger

Stoppt das Wettrüsten!

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Anerkennung, Ansagen, Anstrengung – das ist die Formel für ein gelungenes Miteinander. Wie man das ausgestaltet, muss jede Schule selbst entscheiden. Ein Plädoyer.

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Anerkennung, Ansagen, Anstrengung – das ist die Formel für ein gelungenes Miteinander. Wie man das ausgestaltet, muss jede Schule selbst entscheiden. Ein Plädoyer.

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Der 8. März 2012 wird vielleicht eines Tages in die Bildungsgeschichte als Höhe-, aber auch als Wendepunkt in der Entwicklung eines Aberglaubens eingehen, dessen Verbreitung dreißig Jahre zuvor mit dem Bericht einer von Präsident Reagan eingesetzten Kommission zur Krise des Bildungssystems in den USA Fahrt aufgenommen hatte. Dieser Bericht hatte empfohlen, alle Energie im Schulwesen auf die Steigerung der „akademischen Leistungen“ zu konzentrieren. In der Folgezeit hatten die USA und später angetrieben durch die OECD auch viele andere Länder Kontrollsysteme eingeführt, mit denen solche Leistungen durch standardisierte Tests fortlaufend gemessen und schwach abschneidende Schulen und Lehrkräfte unter Druck gesetzt werden sollten.

An diesem 8. März wurde bei einer Anhörung des amerikanischen Senats Bilanz gezogen. Der bekannte Bildungsökonom Eric Hanushek wiederholte seine These, dass ein Zuwachs von einem Prozent bei den Testleistungen ziemlich zuverlässig bis zu drei Prozent mehr Wirtschaftsleistung hervorbringen würde. Die damit erwirtschafteten Zusatzeinnahmen würden nicht nur in kürzester Zeit alle Aufwendungen für öffentliche Schulen decken, sondern danach einen Überschuss sichern, der die Einkommen der Bevölkerung steigern und soziale Spannungen abbauen könnte. Um dies zu demonstrieren, hatte er ein Schaubild mitgebracht, in dem über 40 Jahre hinweg Testergebnisse und Wirtschaftswachstum in ausgewählten Ländern verglichen wurden.

Die soziale Schere geht weiter auf

Wie die Reaktionen sowohl der demokratischen wie der republikanischen Senatsmitglieder zeigten, war diese Botschaft äußerst willkommen. Sie hatte nur einen Nachteil: Sie war in mehrfacher Hinsicht falsch. Hanusheks Statistik beruhte auf einer zweckdienlichen Auswahl von Daten. Breiter angelegte Studien zeigten im Nachhinein, dass es den behaupteten linearen Zusammenhang von Testergebnissen und Wirtschaftsentwicklung gar nicht gibt. Zudem existiert ein Konsens in der von der Testindustrie unabhängigen Bildungsforschung, dass die Maßnahmen, mit denen die Schulleistungen hätten gesteigert werden sollen, in fast allen Fällen nicht gegriffen, oft sogar das Gegenteil erzeugt haben. Bedenklich sind vor allem die „Kollateralschäden“ des Leistungswettkampfs, der die soziale Trennung im Schulsystem verstärkt, immer mehr Lehrkräfte in die Resignation treibt und inzwischen gut drei Viertel aller amerikanischen Schulen als Versager klassifiziert. Meine wunderbare Kollegin Gloria Ladson-Billings hat das mal so zusammengefasst: „Poor kids get poor schools with poor teachers.“

Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann die Stärkung des Lernbereiches, der für alle heilsam wirkt: das Musizieren.

Stefan Thomas Hopmann

Wie so oft wurde Österreich erst sehr viel später als andere Länder von dieser Entwicklung ergriffen. Bis in 1990er Jahre hinein hatte man sich aus internationalen Vergleichsstudien herausgehalten. Umso größer war der Schock, als sich von der ersten PISA-Welle an zeigte, dass das vermeintlich so vortreffliche einheimische Schulsystem im internationalen Vergleich eher mittelmäßig abschnitt. Das löste hektische Aktivitäten der Bildungspolitik aus, die versuchte, mit immer neuen Reformen die vermutete Lücke zu schließen. Vom Pflichtkindergarten bis zur Zentralmatura wurde jeder Stein gewendet. Geändert hat sich dadurch an der PISA-Platzierung Österreichs nichts. Es gibt auch keine anderen Indikatoren, die belegen, Leistungsstand und Chancengleichheit seien dadurch nachhaltig gestärkt worden. Im Gegenteil zeigen sich immer mehr die Nebenwirkungen, die man aus anderen Ländern schon kennt.

So gab es allein in den letzten Wochen Meldungen, dass vom Pflichtkindergarten über die Verkleinerung der Klassengrößen bis hin zu Bildungsstandards allenfalls die profitieren, die ohnehin schon im Vorteil sind, dass Kinder mit besonderem Förderungsbedarf zunehmend in ohnehin schon belasteten Schulklassen landen, und dass in solchen Klassen oft die am wenigsten ausgebildeten Lehrkräfte stehen. Gleichzeitig wächst der Anteil der Privat- und Programmschulen, die denen, die es sich leisten können, mehr bieten als ein stupides Wettrennen. Die soziale Schere geht immer weiter auf. Nach vierzig Jahren ziemlich konsistenter Erfahrung könnte man jetzt innehalten und sich fragen: Wenn es das nicht ist, was ist dann eine gute Schule?

International ist diese Diskussion schon längst im Gang. Sie orientiert sich weniger an den PISA-Siegern Finnland, Hongkong oder Singapur, als an gelungenen Versuchen in Neuseeland, Schottland oder Schweden. Sie erneuert eine Fragestellung, die schon in den Anfängen des Schulsystems, zum Beispiel von Aristoteles, gestellt wurde: Worauf kommt es in der Schule an? Qualifizierung zu Spitzenleistungen oder Kultivierung der Fähigkeit, in Gemeinschaft und Gesellschaft mitzuwirken? Einer ihrer Schlüsselbegriffe ist nicht wie bei PISA & Co. individuelle „Kompetenz“, sondern „Knowledge“, das sozial geteilte Wissen und Können.

Was davon braucht die nachwachsende Generation, um die von uns hinterlassenen Probleme gemeinsam bewältigen zu können? Hinzu kommt eine Forschung, die zeigen kann, dass ein unbedingter Vorrang der Leistungsorientierung alle übrigen Aufgaben der Schule beschädigt, ohne Leistungen zu steigern. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Schulen, die sehr bewusst an der Kultivierung arbeiten, erzielen auf Sicht bessere Ergebnisse, auch und gerade für die Schwächsten. Eine Forschungsgruppe um Gjert Langfeldt hat dazu in Norwegen einen schönen Nebeneffekt gefunden, der auch schon andernorts beobachtet worden ist: In den Fällen, in denen Schule und ihr soziales Umfeld gemeinsame Überzeugungen davon haben, was eine gute Schulkultur auszeichnet, färbt das auch schnell auf von außen Hinzukommende ab.

Alle neuen Auflagen in den Schredder!

Für diese Kultivierung bedarf es nicht viel: gegenseitige Anerkennung, klare Ansagen, gemeinschaftliche Anstrengungen, nach außen hin spürbarer Gemeinschaftsgeist. Wie man das ausgestaltet, muss jede Schule selbst entscheiden, weil nur dann diese Kultur von allen mitgetragen werden kann. Oft kommt es auf scheinbar Nebensächliches an: Von der Schulleiterin, die morgens die Kinder an der Schulpforte begrüßt, über die Eltern, deren Einmischung im Schulbetrieb willkommen ist, bis hin zu den Schülerinnen und Schülern, die erleben, dass sie selbst über die Gestalt ihres Schulalltags mitentscheiden.

Die Schulen wählen sich die Stammkräfte und die Eltern die Schulen, die zu ihnen passen. Jede Schule kann in diesem Sinne eine gute Schule sein. Dafür braucht es keine neuen Gesetze oder Budgets, sondern nur guten Willen. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, ginge das gerade in Österreich mit der Stärkung des einzigen Lernbereiches einher, von dem schon Aristoteles wusste, dass er unbeschadet sozialer und kognitiver Ausstattung für alle heilsam wirkt: gemeinsames Musizieren.

In diesem Sinne würde ich mir von einer künftigen Bundesregierung wünschen, dass sie das sinnlose Wettrüsten stoppt, keine neuen Großbaustellen eröffnet, sondern den Schulpartnern die Freiheit lässt, Schule so zu gestalten, dass die Kinder und Jugendlichen gern dort hinkommen und stolz auf genau ihre Schule sind. Stellt einen Schredder in den Postausgang des Ministeriums und stopft da alle neuen Auflagen hinein! Wir brauchen nur die Verpflichtung, den Schulen bis zum Beweis des Gegenteils zu vertrauen, und für die Schulen Hilfen, wie man eine gute Schulkultur aufbaut, wenn man noch keine hat. Aber ich bin Realist: Das wird es nicht spielen. Ohne selbstverschuldete Schulkrise wüssten deren Hohepriester ja nicht mehr, wozu es ihrer bedarf. Ich weiß das auch nicht.

Der Autor ist Professor für Bildungswissenschaften an der Universität Wien.

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