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Warum immer noch: Problem Kindersterblichkeit ?

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Es sind fünf Jahre her, daß ich von meinem damaligen Chef, Professor fleuß, aufgefordert wurde, in der Wiener kinderärztlichen Gesellschaft über den Stand der Säuglingssterblichkeit in Oesterreich zu berichten. Es konnte damals festgestellt werden, daß die Erstjahrssterblichkeit in den meisten Kulturstaaten wesentlich geringer war als bei uns, und zwar auch in Ländern, welche vom Krieg nicht weniger heimgesucht worden waren als unser armes Vaterland, etwa Holland, Finnland, Frankreich oder England. Die erschütternde Tatsache, daß in Oesterreich jährlich mehrere tausend Säuglinge mehr gestorben sind als in jenen Ländern, wurde von der Presse als Alarmruf aufgegriffen und nicht nur in der Bevölkerung wurde die makabre Statistik leidenschaftlich diskutiert; auch im Parlament haben städtische und ländliche Abgeordnete aus eigener Wahrnehmung in ihren Wahlbezirken zu bestätigen vermocht, daß ich nicht übertrieben habe. Keine Stunde sollte mehr versäumt werden. In zahlreichen Konferenzen, Vorträgen, Aufsätzen und Eingaben aller Art wurde von Reuß selbst darauf hingewiesen, daß es vor allem gelingen müsse, durch Aufklärung der breiten Bevölkerungsmassen die Erkenntnis zu wecken, daß mangelnde und unsachgemäße Säuglingsfürsorge unseren Nachwuchs gefährde, daß man vor allem aber einem Uebel rücksichtslos zu begegnen habe, nämlich: beim Ausbau der Gesundheitsfürsorge bürokratischen Widerstand gegen wissenschaftliche Erkenntnis mit allen Mitteln zu brechen.

Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Wie hoch ist die Kindersterblichkeit heute?

In unserem Lande steht die Säuglingssterblichkeit noch immer in einem den großen Fortschritten der modernen Medizin nicht entsprechenden Gegensatz. Sie beträgt 4,5 Prozent und ist die höchste unter allen west- und, nordeuropäischen Ländern — sie ist doppelt so hoch wie in England, Norwegen, Holland oder Schweden. Mit anderen Worten: von den rund 100.000 Lebendgeborenen in Oesterreich sterben jährlich rund 5000 Kinder im Säuglingsalter; wären alle unsere Kinder in den letzten Jahren in einem der erwähnten Länder geboren worden, hätten jährlich etwa 2500 oder 3000 von diesen 5000 am Leben erhalten werden können. Hier muß aber kurz die Tatsache gestreift werden, daß die überhöhte Säuglingssterblichkeit keine natürliche Auslese im positiven Sinne der Kräftigen und Widerstandsfähigen nach sich zieht.

Als ich vor wenigen Wochen neuerlich über das Thema Säuglingssterblichkeit sprach, machte ich obige Feststellungen. Wieder haben die Zeitungen meinen Bericht aufgegriffen und wieder haben diese mit ihren Berichten den Anschein erweckt, als wollte ich anklagen. Das war aber gewiß nicht meine Absicht. Wenn jemand in Oesterreich ..anzuklagen“ ist, so ist es lediglich der Staat. Wenn ich aber weiter geschwiegen hätte, so könnte ich mich nicht von der Mitschuld freisprechen, daß es unseren Bemühungen noch immer nicht gelungen ist, die zuständige Macht, nämlich den Staat, zur Erfüllung einer seiner elementarsten Pflichten zu veranlassen.

Ich möchte zunächst erwähnen, ohne näher darauf einzugehen, daß in unserem Staatshaushalt das Gesundheitswesen in einer Weise dürftig bedacht ist, wie es auch durch noch so große Sparsamkeit nicht gerechtfertigt ist, ganz abgesehen davon, daß eine gute Fürsorge zu einer Verringerung der Ausgaben für Krankenbehandlung führen muß Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß es um die Gesundheit unserer Kinder anders stünde, wenn wir ein Gesundheitsministerium hätten und nicht nur ein kleines, ein armseliges Anhängsel des Sozialministeriums bildendes Volksgesundheitsamt — ein ganz unzureichendes Werkzeug, um die Kindergesundheitsfürsorge so auszubauen, wie es in anderen Ländern der Fall ist. Aber eines muß auch mit aller Deutlichkeit gesagt werden: Die Autonomie der Bundesländer darf in der Zukunft nicht die Ursache dafür sein, daß die bestehenden Mängel nicht schleunigst behoben werden.

Wenn man nüchtern Soll und Haben auf dem Gebiete der Gesundheitsbetreuung für das Kind betrachtet, so kann nicht geleugnet werden, daß auch bisher von den öffentlichen Faktoren — den Verwaltungen der Bundesländer und den Gemeinden — für die Gesunderhaltung unseres Nachwuchses einiges geleistet wurde, aber es ist so wenig, daß wir unsere Fürsorgeeinrichtungen für das Kind immer noch als unzulänglich und rückständig bezeichnen müssen. Das Primäre sind nicht Säuglingswäschepakete und Mutterßbeln Das Primäre ist die lückenlose Betreuung von Mutter und Kind.

Die Gesunderhaltung des Kindes muß schon vorder Geburt eingeleitet werden, es ist dies die sogenannte Schwangerenfürsorge. Heute stehen uns auf diesem Gebiete nur ganz dürftige Mittel zur Verfügung. Man kann ruhig sagen, daß es eine Schwangerenfürsorge in Oesterreich praktisch noch nicht gibt. Selbst in Wien — 1956! — muß offen zugegeben werden, daß von diesen Einrichtungen nur „gewisse Ansätze“ vorhanden sind.

Wir brauchen ferner eine gute Mutterschulung. Ihre Aufgabe wäre es auch, bei den werdenden Müttern Interesse dafür zu wecken, sich schulen zu lassen. Selbst dort aber, wo bei uns Mutterschulungskurse bestehen, läßt der Zustrom sehr zu wünschen übrig.

Die Grundlage aller Säuglingsfürsorge ist die Erhaltung der natürlichen Ernährung. In der Neugeburtsperiode, also in den ersten zehn Tagen, entscheidet es sich meist, ob das Kind gestillt wird oder nicht. In unserem Lande stehen aber nur in wenigen Entbindungsanstalten geschulte Fachkräfte, in erster Linie gut geschulte Kinderschwestern, zur Verfügung, um die Stillförderung wirklich so durchzuführen, wie es sein soll.

Der beste Beweis für die Unzulänglichkeit unserer Fürsorgeeinrichtungen ist die Verbreitung der Rachitis. In manchen Ländern, vor allem aber in den großen Städten des Westens und Nordens, gibt es seit vielen Jahren so gut wie keine Rachitis mehr. Spielt in Wien die Rachitis noch eine gewisse Rolle, so ist sie draußen auf dem Lande und in den großen Städten der Provinz immer noch sehr verbreitet, obwohl die Gelegenheit, Rachitis zu bekommen, da doch eigentlich viel weniger gegeben ist. Was wir also hier brauchen, sind nicht nur weit mehr, sondern auch häufigere und vielfach, bessere Mutterberatungsstunden.

Auch das Problem der Frühsterblichkeit, das heute im Mittelpunkt des Interesses steht, ist nicht nur eine Angelegenheit der vorher erwähnten vorgeburtlichen, sondern auch der Neugeborenenfürsorge; hängt doch das Schicksal der Frühgeborenen zum großen Teil von der richtigen Pflege während der ersten Lebensstunden und -tage ab. Es ist eine nicht fortzuleugnende Tatsache, daß nur für einen kleinen Bruchteil unserer Frühgeborenen, einschließlich Wiens, die notwendigen modernen Einrichtungen zur Verfügung stehen.

Einer der wichtigsten Zweige zur Betreuung unserer Kinder ist die sogenannte n a c hgehende Fürsorge. Sie schließt die Lücken, die sich bei der Zusammenarbeit der anderen Fürsorgezweige ergeben. Dieser Zweig der Gesundheitsfürsorge ist noch kaum ausgebaut, fehlt es doch vor allem an geschulten Kräften und an der „Motorisierung“ der Fürsorgerinnen. Es genügt nicht, daß die Mütter mit ihren Kindern in die Fürsorgestunde kommen, die Fürsorge muß zur Mutter, also ins Haus kommen.

Andere Mängel sind: Ueberbürdung des an Zahl unzureichenden Personals und mangelhafte Schulung desselben.

Um Mißverständnissen über den Begriff Säuglingssterblichkeit zu begegnen, sei festgestellt, daß im allgemeinen viel mehr vom SäugIings„tod“ als vom kranken Säugling gesprochen wird. Gewiß ist es besonders der vermeidbare Tod, der uns Aerzte in erster Linie beeindruckt. Die Mortalität ist es auch, die uns am klarsten, zahlenmäßig, zeigt, in welchem Ausmaß unsere Prophylaxe unzureichend war. Wir müssen uns aber vor Augen halten, daß es sich ja nicht nur darum handelt, die Kinder am Leben zu erhalten, sondern daß wir unsere Aufgabe darin erblicken müssen, unsere Kinder auch vor Krankheit zu bewahren. Bei kranken Säuglingen ist die Frage „Wäre die Krankheit vermeidbar gewesen?“ in der großen Mehrzahl der Fälle zu bejahen.

Wenn ich nun die Frage stelle: Welches sind die Aufgaben der Gesundheitsfürsorge? Welche Einrichtungen sind notwendig, um diese Aufgaben zu erfüllen? Welche Reformvorschläge sind zu machen?, dann kann ich mich eines leichten, aber bitteren Lächelns nicht erwehren. Wurde mir doch nach meinem Vortrag der Vor* wurf gemacht, ich solle doch nicht kritisieren, sondern lieber sagen, wie man es besser machen könnte. Aber gerade dies ist bis zum Ueberdruß geschehen. Wenn man in den früheren Publikationen des Professors Reuß nachliest, hat man den Eindruck, als hätte ein Prophet in die Wüste gesprochen. Als Reuß starb, war es, als wäre sein Alarmruf ungehört verhallt. Was er anstrebte, war so einleuchtend, so zwingend notwendig, daß er niemals und nirgends — allerdings nur in der Theorie — Widerspruch fand. Es sollte eine Ausbildungsstätte geschaffen werden, zwecks Schulung der Studierenden, der Aerzte, die auf dem Gebiete der Gesundheitsfürsorge tätig sein sollten, und nicht zuletzt der Spezialkinderschwestern und Gesundheitsfürsorgerinnen, die in großer Zahl gebraucht werden. Schon vor mehr als 40 Jahren hat dies Escherich erkannt, als er die Reichsanstalt für Mutter- und Kindfürsorge anregte. Lieber das Schicksal dieser nach Escherichs Tod fertiggestellten Anstalt, ihre Geschichte, die wahrlich eine Leidensgeschichte ist, ist bisher noch nicht berichtet worden. Wenn dieses Haus in Pötzleinsdorf, wie es nun scheint, endgültig seinem eigentlichen Zweck nicht mehr zugeführt werden kann, so muß es doch einen Ausweg geben: Die Aufgaben der Gesundheitsfürsorge am Kind sind so zahlreich und vielgestaltig, daß es einer straffen und einheitlichen Lenkung bzw. Organisation bedarf. Wenn sie sich gleichzeitig auf alle Kinder des Staates auswirken soll, müssen kleinere selbständige Rayons geschaffen und in einer großen Zentrale zusammengefaßt werden — wie dies in anderen Ländern schon längst der Fall ist. Daß eine weitere Senkung der Säuglingssterblichkeit schwierig ist und mit Problemen zusammenhänge, die nur schwer zu erfassen seien, ist sicher unrichtig. Auch nicht ein ominöser Faktor X, wie vielfach behauptet wurde, ist zu erforschen, sondern die X-Fak-toren, die wir durchaus kennen und die uns hemmen, weiterzukommen, müssen beseitigt werden.

Die Frage nach dem Kostenpunkt neuer Einrichtungen soll ruhig gestellt werden, scheitern darf das Problem Säuglingssterblichkeit an dieser Frage nicht mehr, das wäre glatte Heuchelei. Es mag Dinge geben, die ebenso wichtig sind, aber wohl keine, die wichtiger sein könnten als die Maßnahmen, welche notwendig sind, um Leben und Gesundheit unserer Kinder zu erhalten.

Vielleicht darf man sich einmal schüchtern die Bemerkung erlauben, man möge von dem Geld, das für andere Dinge vorgesehen ist, beispielsweise für sportliche Einrichtungen, einen kleinen Teil der Säuglingsfürsorge zukommen lassen, ohne deshalb gleich als „Feind des Sports“ gebrandmarkt zu werden. Im Gegenteil, kann es für den späteren, tüchtigen Sportler gleichgültig sein, ob der Körper in der zartesten Kindheit gesund gewesen ist oder nicht?

Ich glaube nicht, daß es richtig ist, beschwichtigend darauf hinzuweisen, in unserem Nachbarlande, in Westdeutschland, stehe es auch nicht viel besser als bei uns. Auch dort ist es nicht die Armut als Nachwirkung des totalsten aller Kriege, nicht die Ebbe in den staatlichen und kommunalen Kassen, die dem Fortschritt der Fürsorgeeinrichtungen entgegenwirkt, sondern die noch allenthalben herrschende Ver-ständnislosigkeit, die sich der Lösung eines der drängendsten Probleme entgegenstellt. Ich bin auch durchaus nicht der Auffassung, daß es sich noch um „viele ungelöste Fragen handle, die, nach außen hin, noch Schweigen gebieten würden“.

Nicht durch Dementis und die übliche Aufzählung all dessen, was ohnedies geschehe, soll die Bevölkerung wieder beruhigt werden, sondern ausschließlich, durch sachliche Diskussion des Problems selbst in aller Oeffentlichkeit. Wer Augen hat und Ohren, wird zugeben müssen, daß weite Kreise der Bevölkerung viel eher, schon seit längerer Zeit, durch viele Unzulänglichkeiten beunruhigt waren, nun aber doch recht froh sind, daß einiges offen ausgesprochen wurde, was mancher auf dem Herzen hatte — dabei aber doch höchstens weniger gesagt wurde als wahr ist.

Das Wort „Fürsorge“ wird oft mißverstanden. Als die Kinderfürsorge ins Leben gerufen wurde, da hatte man eigentlich nur die außerehelichen, armen und mittellosen Mütter im Auge. Später wurde das Wort „Fürsorge“ weiter gefaßt im Sinne von Vorsorge, Gesundheitsbetreuung. Diese „Gesundheitsfürsorge“ — nur von dieser ist hier die Rede — geht alle Bevölkerungsschichten an.

Ganz allgemein umschließt auch der Gedanke des Familienschutzes die Gesundheitsfürsorge. Je mehr Familienpflege und Gesundheitsfürsorge miteinander verbunden werden, um so besser ist es für die doch letzten Endes gemeinsamen Bestrebungen. Zur Familienpflege gehört vor allem die Mutterschulung, eine der wichtigsten Voraussetzungen für das gesunde Kind: Aufklärung der Frauen und Mädchen, Belehrung über Kinderpflege und alles das, was zur Mutterschaft nötig ist.

So lassen, sich die Forderungen der Gesundheitsfürsorge in die Forderungen der Familienpflege und Bevölkerungspolitik einordnen: Durch wirtschaftliche Besserstellung der Familien erst kann jene Situation geschaffen werden, die dafür bürgt, daß die zur Welt kommenden Kinder in sozialer und hygienischer Beziehung einwandfrei betreut werden. Der ethischen Beratung und der Propaganda für den Kinderreichtum müßte sich also unbedingt auch ausreichende Hilfe zugesellen. Daß die zur Verfügung gestellten Mittel in hygienisch und wirtschaftlich richtiger, fruchtbringender Weise verwertet werden, ist dann Sache der Fürsorge, die nicht nur in dieser Hinsicht, sondern auch in bezug auf die Gesunderhaltung des Kindes beratend und helfend einzugreifen hat. Das allerdings ist alles noch Zukunftsmusik.

Noch ist aber die Säuglingssterblichkeit bei uns ein Problem, hinter dem sich die zahlenmäßig nicht faßbare Morbidität verbirgt. An Aerzten fehlt es bei uns nicht. Es muß zur Erfüllung der Aufgaben, die den Aerzten gestellt sind — sie liegen im Bereich der prophylaktischen Medizin — auch die Gelegenheit geschaffen werden. Aber auch das genügt nicht. Es muß die ganze Kraft der Bevölkerung, die am Gedeihen des Nachwuchses Interesse hat, eingesetzt werden.

Es muß der Ehrgeiz nicht nur jedes Arztes, sondern jedes Vertreters eines Standes, der mit Volksgesundheit zu tun hat, jedes Politikers, jedes Volkswirtschaftlers, jeder Mutter, jedes Vaters, letzten Endes jedes denkenden Staatsbürgers sein, die Säuglingssterblichkeit auf ein Minimum herabzudrücken. In anderen Ländern ist die Bevölkerung über den Stand der Säuglingssterblichkeit im eigenen Lande recht gut orientiert. Wir müßten aber so lange darüber erschüttert sein, daß immer noch jährlich 2000 bis 3000 Menschen im ersten Lebensjahre zuviel sterben, bis auch wir sagen können, daß wir für das Wohlergehen unserer Kinder alles getan haben.

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