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Jugendnot und Jugendfürsorge in großen Städten

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Die Jugendfürsorge in Österreich hat sich in ihren Anfängen aus der Not der Zeit heraus selbständig entwickelt. Der erste österreichische Kinderschutzkongreß von 1907 hat auf Grund der von allen damaligen Kronländern eingeholten Berichte ein erschütterndes Bild von dem großen Notstände aufgerollt, in dem sich ein nicht unbeträchtlicher Teil des heranwachsenden Geschlechts in gesundheitlicher und sittlicher Beziehung befand. Die stark im Zunehmen begriffene Säuglingssterblichkeit und Tuberkulose im Kindesalter, das Elend der Pflegekinder, die Steigerung der Jugendkriminalität, dann aber auch einige besonders krasse Fälle von Kindesmißhandlungen hatten das Gewissen der .Öffentlichkeit wachgerüttelt. Man begann sich darauf zu besinnen, daß jedes Kind mit seiner Geburt das Lebensrecht zum Leben und daher auch ein Recht auf möglichste Entwicklung seiner körperlichen und sittlichen Kräfte erhält und daß Staat und Gesellschaft die Pflicht haben, diesem angeborenen Recht des Kindes, wenn die zunächst verpflichtete Familie dazu nicht imstande ist, Rechnung zu tragen. Bedeutende Männer wie der unermüdliche Vorkämpfer der Jugendfürsorge, Prof. Dr. Heinrich Reicher, der mit seinem aufsehenerregenden Werke „Die Fürsorge für die verwahrloste Jugend" ein Standardwerk der Jugendfürsorge geschaffen hat, der erste Präsident der österreichischen Zentralstelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge, Dr. Bärn- reither, und nicht zuletzt der große Rechtslehrer und Menschenfreund, Justizminister Dr. Klein, stellten sich damals an die Spitze dieser Bewegung. Diesem Umbruch der Geister, dieser sozialen Bewegung, die nicht mehr zum Stillstand kam und durch den ersten Weltkrieg mit seiner ins Ungeheuerliche gesteigerten Jugendnot einen mächtigen Auftrieb erhielt, verdanken wir letzten Endes, daß auch Österreich trotz dem tiefen Falle und trotz dem Unglück, das es seit 1918 erlitten hat, auf dem Gebiete der sozialen Fürsorge und im besonderen auf dem der Jugendwohlfahrt Einrichtungen schaffen konnte, die ihm das Recht geben, sich in die Reihe jener Kulturstaaten zu stellen, die in der denkwürdigen Genfer Deklaration vom Jahre 1923 die Fürsorge für die hilfsbedürftige Jugend als internationale Pflicht der gesamten Menschheit festgelegt und damit eine Magna Charta der Jugend geschaffen haben.

Es ist ein unvergängliches Verdienst besonders der österreichischen Städte, daß sie als erste diese Notwendigkeit erkannt haben und sich schon vor mehr als dreißig Jahren in den auf der Berufsvormundschaft aufgebauten kommunalen Jugendämtern Einrichtungen geschaffen haben, um dem Notstände unserer Jugend zu begegnen. Nach Brünn und Mährisch-Ostrau waren es vor allem Wien, Graz und Linz, die ihre Jugendfürsorge einheitlich und zielbewußt organisierten.

Das Jugendamt der Stadt Graz nahm seine Tätigkeit mit Mai 1917 auf, kann daher auf eine mehr als dreißigjährige Erfahrung zurückblicken. Zwei Weltkriege mit all ihren für die Jugend so verhängnisvollen Folgen fielen in diese Periode. Doch haben wir aus dieser Zeit des schwersten Jugendnotstandes auch das eine gelernt, daß wir Jugendfürsorge treiben müssen nicht obwohl, sondern gerade deshalb, weil wir arm sind.

Graz, dessen Einwohnerzahl sich schon stark einer Viertelmillion nähert, ist nach Wien die größte österreichische Stadt und hat einen starken industriellen Einschlag. Die Verhältnisse in den großen Städten bringen aus naheliegenden Gründen für die Jugend weit größere Gefahren mit sich, als das flache Land kennt. Die Anhäufung größerer Menschenmassen auf engem Raume, das häufige schlechte Beispiel der Erwachsenen, die Verlockungen der Großstadt, die gesteigerte Not, das Wohnungselend, das nicht seltene In- Arbeit-Stehen beider Elternteile, die Lockerung oder Zerstörung der Familienbande und vieles andere spielen hiebei eine maßgebende Rolle.

Es ist ein Dreifrontenkrieg, den wir zum Schutze der Jugend in den Städten zu führen haben. Neben der wirtschaftlichen Not sind es vor allem die Säuglingssterblichkeit, die Tuberkulose im Kindesalter und die nicht unbedenkliche Zunahme der Geschlechtskrankheiten bei Jugendlichen und die noch immer nicht im wesentlichen Absinken begriffene Jugendverwahrlosung und Jugendkriminalität auf der anderen Seite, die unsere Großstadtjugend bedrohen.

Da es sich um soziale Massenerscheinungen, Massennotstände handelt, galt es vor allem, in möglichst viele Kinderschicksale Einblick zu bekommen. Deshalb ist der „Ermittlungsdienst“ die Voraussetzung jeder fürsorgerischen Arbeit. Er schöpft aus mehreren wichtigen Quellen: die Generalvormundschaft gibt in Graz rund SOOOMündelindie Aufsicht des Jugendamtes. Dessen Ziehkinderaufsicht, die sich auf alle unehelichen Kinder und alle in fremder Pflege befindlichen Kinder erstreckt, betreut rund 5000 bis 6000 Kinder. In den 18 Mütterberatungsstellen des Amtes, die einen 90 bis lOOpro- zentigen Besuch aufweisen, werden Tausende von Kindern unseren Ärzten vorgestellt. Über 2 0.0 00 Schulkinder werden durch die vom Jugendamte in allen 59 Grazer Pflichtschulen organisierte Schulfürsorge erfaßt. Durch ein Abkommen mit den zuständigen Behörden werden wir von allen polizeilichen oder gerichtlichen Beanstandungen Jugendlicher, aber auch von solchen Delikten Erwachsener, durch die jugendliche Personen gefährdet oder verletzt werden, sogleich in Kenntnis gesetzt. Hiezu kommen noch die Wahrnehmungen unserer Fürsorgerinnen, die, auf 37 Fürsorgebezirke verteilt, in restloser Durchführung der Einheitsfürsorge auf allen drei Hauptgebieten unserer Tätigkeit arbeiten. Ihre Wahrnehmungen und Berichte finden eine nicht unwesentliche Ergänzung durch die vom Jugendamte eingerichtete freiwillige Jugendaufsicht Jugendpolizei, die sich aus sozial verantwortungsbewußten Frauen und Männern aller Gesellschaftskreise zusammensetzt und der es Zufällt, angesichts der abnormal gesteigerten Jugendverwahrlosung und Jugendkriminalität vornehmlich in Unterstützung der Polizei die Einhaltung der Jugendschutzbestimmungen zu überwachen. All das sowie die Berichte unserer sonstigen ärztlichen und erzieherischen Beratungsstellen verschaffen uns einen ziemlich eingehenden, wenn auch nicht lückenlosen Einblick in die Lebensverhältnisse unserer Jugend.

Die Generalvormundschaft des Jugendamtes, die alle in Graz geborenen und hier wohnhaften unehelichen Kinder, die keinen gesetzlichen Vormund haben, und auch gefährdete eheliche und uneheliche Kinder bevormundet, erweist sich als die wichtigste Einrichtung auf diesem Fürsorgegebiet. Dadurch, daß sie dem Kinde, so rasch als irgendwie möglich, zu seiner Alimentation verhilft, trägt sie auch nicht unwesentlich zur Herabminderung der Säuglingssterblichkeit bei. Die Arbeit der Generalvormundschaft könnte nicht geleistet werden, wenn wir das österreichische Unterhaltsschutzgesetz vom 4. Februar 1925,

BGBl. Nr. 69, nicht hätten, das der Generalvormundschaft ermöglicht, gegen Kindesväter, die sich ihrer Alimentationspflicht zu entziehen suchen, vorzugehen. Dankbar muß man der Frau gedenken, die dieses Gesetz auf Grund der persönlichen Erkundung im Grazer Jugendamte im Parlamente einbrachte, der vor kurzem in Graz verstorbenen Nationalrätin Olga Rudel-Zeynek, die sich auch als Vizepräsidentin der Zentralstelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge die größten Verdienste um die Jugend erworben hat. Das Unterhaltsschutzgesetz, die „lex Rudel-Zeynek", ohne die Tausende von armen Kindern ohne Alimentation hätten bleiben müssen, sichert ihr auf immer einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der Jugendfürsorge.

Ein Teil der Sozialfürsorge, hat die Jugendfürsorge die Bestimmung, vorbeugend zu wirken; sie hat nicht den Eintritt eines Schadens abzuwarten, sondern durch rechtzeitiges Einschreiten ihn zu verhüten. Sie soll nicht den Eltern ihre Pflichten abnehmen, sondern nur dann einschreiten, wenn sie dazu nicht imstande sind. Dieser Subsidiarität der Fürsorge entsprechend werden Unterstützungen jeder Art durch das Jugendamt nur auf Grund der fürsorgerisch erhobenen Bedürftigkeit gegeben und bei allen Fürsorgemaßnahmen die Eltern oder sonstigen Alimentationsverpflichteten ihrem Einkommen entsprechend zur Kostendeckung herangezogen.

Das zweite Hauptgebiet, die Gesundheitsfürsorge, wurde in Graz von vornherein in den Aufgabenkreis des Jugendamtes einbezogen, von dem Standpunkte aus, daß, wie das Leben des Kindes unteilbar ist, auch der Kampf um dieses Leben nur einheitlich geführt werden kann. Unterhaltsfürsorge, Gesundheitsfürsorge und Erziehungsfürsorge sind nicht zu trennende Begriffe, sondern nur verschiedene Seiten einer und derselben Sache, die in Ursache und Wirkung vielfach ineinander übergehen und sich gegenseitig beeinflussen. Unsere Gesundheitsfürsorge wird wesentlich von dem Grundsätze geleitet, daß Vorbeugen besser ist als Heilen. Diesem Grundsätze dienen alle vom Jugendamte geführten und von Fachleuten geleiteten ärztlichen Beratungsstellen für Mütter und Schwangere, die orthopädische Beratung mit angeschlossenem Haltungsturnen, das nunmehr auch in den städtischen Kindergärten und Schülerhorten eingeführt wurde, und schließlich die Stellen für laryngologische und für heilpädagogische Beratung. Auch die Schulfürsorge, die von den acht hauptamtlich bestellten Ärzten des Jugendamtes und unseren Fürsorgerinnen durchgeführt wird, dient in erster Linie der Vorbeugung. Der Mittelpunkt der gesamten ärztlichen Tätigkeit des Jugendamtes ist die Zentralfürsorgestelle, wo auch die röntgenologische Untersuchung derjenigen Kinder erfolgt, die bei den Reihenuntersuchungen und Schulsprechstunden als krankheitsverdächtig festgestellt wurden. Auch die Tbc-Fürsorge für Kinder und Jugendliche wird in Zusammenarbeit mit der Lungenfi.’ rsorgestelle des Gesundheitsamtes vom Jugendamte durchgeführt. Auch in Graz ist eine Zunahme der Tbc im Kindesalter und in der Pubertät festzustellen. So haben in den ersten Volksschulklassen rund 16% und in den höheren Klassen bis zu 36% der Kinder auf Tuberkulin positiv reagiert. Rund zwei Drittel der Grazer Kinder sind erholungsbedürftig; die Erholungs- und Ferienausreisen des Jugendamtes wurden deshalb stark vermehrt.

In der Erziehungsfürsorge nahm das bedrohliche Zunehmen der Jugendverwahrlosung und Jugendkriminalität nach dem Zusammenbrudie alle Kräfte des Jugendamtes in Anspruch. Die Kriminalität der Jugendlichen ist zwar heute im Rückgang, hat aber noch lange nicht das normale Maß erreicht. Auch hier suchen wir zunächst vorbeugend zu wirken und vor allem der Aufsichtslosigkeit zu begegnen. Denn das Wort Victor Hugos „Das Verbrechen des Mannes beginnt bei der Vagabundage des Kindes“ bestätigt sich immer wieder. Durch unseren Ermittlungsdienst erfahren wir meistens noch rechtzeitig von dem Beginn solcher Verwahrlosungsfälle, ebenso wie von den Gefährdungen Jugendlicher durch Milieuschädigungen, wie sie namentlich durch das Wohnungselend der Großstadt nur allzuhäufig vorkommen. Wenn es irgendwie angeht, suchen wir zu helfen, ohne das Kind aus dem Elternhaus zu nehmen, denn die beste Anstalt kann ein halbwegs gutes Elternhaus nicht voll ersetzen. Hiebei leisten uns die halboffenen Anstalten Kindergärten und Schülerhorte die wertvollsten Dienste. Graz besitzt derzeit zwanzig Kindergärten und dreizehn Schülerhorte. Wenn es auf Grund der fürsorgerischen Erhebung notwendig erscheint, geschieht Überwachung der Pflege und Erziehung des Kindes im Elternhaus durch regelmäßigen Besuch unserer Fürsorgerinnen. Ist ein Verbleiben im Elternhaus, wie es leider allzu häufig ist, unmöglich, erfolgt die Aufnahme in eine der sechs städtischen’ Internate, beziehungsweise zunächst in die Kinderüber- nahmsstelle. Bei schon eingetretener Verwahrlosung kommt es zur Fürsorgeerziehung durch Gerichtsbeschluß, die von den Ländern in eigenen, von ihnen zu errichtenden Anstalten durchgeführt wird. Wie die Arbeitsgemeinschaft der Jugendämter wiederholt und auch kürzlich der Zentralrat gegen Jugendverwahrlosung am Institut für vergleichende Erziehungswissenschaft in Salzburg festgestellt haben, ist der Kampf gegen die Jugendverwahrlosung solange ein Kampf mit untauglichen Mitteln, als diese Anstalten nicht wirklich den modernen Erkenntnissen der Erziehungswissenschaft und Jugendpsychologie entsprechend eingerichtet und vor allem differenziert sind. Heute werden in diesen Anstalten meist schulpflichtige Kinder und Jugendliche b i s 18 Jahre, normal Verwahrloste, Debile und Psychopathen zusammen, wenn auch in getrennten Abteilungen, erzogen. Durch Zusammenarbeit aller Bundesländer und Verteilung der einzelnen Aufgaben auf verschiedene Länder würde hier leicht Wandel geschaffen werden können.

Bei schulentlassenen Jugendlichen handelt es sich meistens darum, ihnen so rasch als möglich eine passende Arbeit zu verschaffen. Wir arbeiten hier in engster Verbindung mit Arbeitsamt und Berufsberatung. Eine nicht unbedeutende Hilfe leistet das von der Stadtgemeinde und dem Arbeitsamte geschaffene Hilfswerk „Jugend am Werk“, durch das arbeitslose Jugendliche beider Geschlechter gegen kleine Bezahlung zu zusätzlichen gemeinnützigen Arbeiten, bisher innerhalb der Stadtverwaltung, herangezogen und außerdem berufsmäßig fortgebildet werden.

Als großen Mangel empfinden wir das Fehlen eines polizeilichen Jugendheims, wie es vor dem Kriege in Graz jahrelang bestanden hat und in dem in gerichtlicher Untersuchung stehende oder strafentlassene Jugendliche solange untergebracht werden konnten, bis sie entweder in Fürsorgeerziehung abgegeben oder auf einen geeigneten Arbeitsplatz vermittelt werden konnten. ,

Aus der auf langjähriger Erfahrung fußenden Erkenntnis, daß Schundliteratur und Schundfilm in mehr Fällen, als man gemeiniglich annimmt, Ursachen einer Jugendverwahrlosung sind, hat das Jugendamt auch hier entsprechende Maßnahmen getroffen. Durch die vom Jugendamte geschaffene freiwillige Jugendpolizei werden die Grazer Kinos in Unterstützung der Polizei regelmäßig überwacht. Ein Vertreter des Jugendamtes sitzt in dem neu geschaffenen Filmprüfungsausschuß. In Zusammenarbeit, mit der Polizei, dem Jugendreferenten des Unterrichtsministeriums und dem steirischen Vertreter der Jugendschriftenkommission sind wir mit Erfolg bemüht, der sintflutartig auf unsere Jugend einströmenden Schundliteratur Einhalt zu tun. Eine be-friedigende Lösung wird selbstverständlich nur dadurch erfolgen können, daß man diese sogenannten „Literaturerzeugnisse“ schon an ihrer Quelle bekämpft.

Ich konnte hier die schweren und verantwortungsvollen Aufgaben, denen sich die öffentliche Jugendfürsorge der Großstadt heute gegenübersieht, zum Teil nur andeuten. Es ist nicht wenig, was seitens der Stadtverwaltungen und ihrer Jugendämter zum Schutze der Jugend geschieht und doch bleiben all diese Bemühungen dem wirklichen Notstände gegenüber noch immer unzulänglich. In einer stetig steigenden Anzahl von Fällen haben heute die Jugendämter die Eltern nicht nur zu ergänzen, sondern vollkommen zu ersetzen. Von einem Verantwortungsbewußtsein der Erwachsenen gegenüber der Jugend ist heute nicht viel zu bemerken. Oft muß heute der kriminell gewordene junge Mensch mit einem verlorenen Leben dafür bezahlen, was andere an ihm verschuldet haben. In dem Worte Heinrich Reichers „Das Strafrecht des Staates fängt erst dort an, wo seine Erziehungspflicht aufgehört hat“, liegt tiefster Sinn.

Die öffentliche und gesellschaftliche Wertung der gesamten Sozialfürsorge und zugleich der Jugendfürsorge ist keineswegs allgemein so, wie es ihrer Bedeutung entsprechen würde. Und doch müßte es eigentlich jedem klar sein, daß der gesamte Wiederaufbau unseres Staates letzten Endes von dem körperlichen, geistigen und sittlichen Zustande seiner Jugend abhängt.

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