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Ist der Nationalrat entsetzt?

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„Der Nationalrat ist entsetzt …“

Worüber? Etwa über die Tatsachen, die aus den in den „Statistischen Nachrichten“ vom März dieses Jahres veröffentlichten Zahlen über das Anwachsen der Kriminalität hervorgehen? Das Jahr 1952 zeigt gegenüber dem Vorjahr bei den Verbrechen ein Ansteigen der Zahl der Verurteilten um 11 Prozent, bei den Vergehen um 21 Prozent, bei den Uebertretungen um 6 Prozent. Einen gewaltigen Anteil daran haben die Jugendlichen: bei den Verbrechen ist die Jugendkriminalität fast doppelt so hoch als die der Erwachsenen. Am stärksten angestiegen ist die Zahl der Sittlichkeitsverbrechen und der Körperverletzungen. Die Zahl der jugendlichen Sittlichkeitsverbrecher ist gegenüber dem Vorjahr um 21 Prozent gestiegen! Auf je hundert im Berichtsjahr nach § 127 (Notzucht) verurteilte Sittlichkeitsverbrecher entfallen 32 Jugendliche, das heißt jeder dritte nach diesem Paragraphen Verurteilte war ein junger Mensch zwischen 14 und 18 Jahren! Ist der Nationalrat. entsetzt über die ungeheure sittliche Not der Jugend, die aus diesen Zahlen spricht? Ueber diese Not, die allem Anschein nach immer ärger zu werden scheint? Oder darüber, daß er keine Mittel zu finden weiß, um dieser Not zu begegnen, die unser Volk tiefer bedroht als Lawinen und Hochwasser und selbst die H-Bombe, weil sie am innersten Mark des Volkes frißt?

Nein! Der Grund des Entsetzens ist ein anderer. Der Nationalrat hat am 31. März 1950 aus der Erkenntnis dieser sittlichen Bedrohung unserer Jugend und des Volkes ein Gesetz „über die Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen und den Schutz der Jugend gegen sittliche Gefährdung“ erlassen. Und nun muß er sehen, daß dieses Gesetz, wenigstens in einigen Fällen, tatsächlich gehandhabt und sogar rigoroser gehandhabt wird, als er meinte. So wenigstens erklärt laut Pressemeldung vom 11. September der bereitwillige Verteidiger solcher, die des Vergehens gegen dieses Gesetz angeklagt sind, Dr. Korn, bei einer Verhandlung im Jugend- gerichtt der österreichische Nationalrat sei entsetzt, in welcher Weise dieses Gesetz gehandhabt wird. Der Bericht fügt hinzut „Dr. Korn zitierte dann die übereinstimmende Auffassung der Vertreter aller Parteien im Parlament, daß die Darstellung einer unbekleideten Frau nicht unter das Schmutz- und Schundgesetz falle. Man erwäge sogar, in der nächsten Session das Gesetz zu reformieren.“

Darüber aber ist das österreichische Volk entsetzt! Wenigstens alle Anständigen im österreichischen Volk. Man konnte ja schon seit längerer Zeit beobachten, wie ein gewisser Teil der Presse, der selber allen Anlaß hat, eine strengere Handhabung des Gesetzes zu fürchten, mit den billigsten Mitteln einen systematischen Feldzug geführt hat. Jedesmal, wenn auf Grund des Gesetzes ein Verbot gegen eine Schrift, ein Plakat, eine Filmszene ergangen oder beantragt war, wurden die Urheber des Verbotes mit Spott übergossen und der Lächerlichkeit preisgegeben. Es sei daran erinnert, wie wiederholt über die lächerliche Prüderie des Herrn Unterrichtsministers oder der Vorarlberger Landesregierung losgezogen wurde.

In den letzten Monaten nun ist man mit systematischer Konsequenz vor allem gegen einen Mann vorgegangen, der sich die Achtung aller Anständigen verdient hat, gegen den Staatsanwalt im Jugendgericht Dr. Franz Erhärt, dessen amtliche Obliegenheit es war, über die Einhaltung der Maßnahmen z u m sittlichen Schutz der Jugend zu wachen. Er hat es mit offenen Augen und dankenswertem Mut getan. Daß er einer der angesehensten Fachleute auf dem Gebiet der Jugendkriminalität ist, hat diejenigen, die sich durch ihn in ihren Geschäftserfolgen bedroht sahen, nicht gehindert, ihn durch äußerst billige demagogische Argumentationen lächerlich zu machen. Man erinnert sich vielleicht, als welch abwegige Kinderei es die betreffende Presse hingestellt hat, als Doktor

Erhärt eine Verurteilung anstrengte wegen Verbreitung eines Buches, das neben Beiträgen anderer, noch schlimmerer Autoren, eine Novelle von Voltaire beinhaltete. „Ein Klassiker wegen Schmutz und Schund angeklagt!“ Als ob es nicht Klassiker der Pornographie gäbe! Und als ob eine Pornographie weniger pornographisch ist, wenn sie von einem „Klassiker“ stammt! Ich möchte wissen, welcher anständige Vater dieses Buch seinem 17jährigen Buben oder Mädchen in die Hand geben würde!

Natürlich muß jeder, der es heute wagt, in diesen Dingen ein ehrliches und verantwortungsbewußtes Wort zu sprechen, gewärtigen, als rückständig oder scheinheilig verschrien zu werden. Das wird einen aufrech- tep Menschen nicht von seiner Pflicht abschrecken. Nun aber ist das Ungewöhnliche und Unbegreifliche geschehen: Dr. Erhard ist von seiner vorgesetzten Behörde seines Postens enthoben und an eine andere, „ungefährliche“ Stelle versetzt worden! Diese Tatsache, sollte sie als endgültig zu betrachten sein, ist alarmierend. Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung ist eine der Grundlagen eines geordneten Staatswesens. Die Justiz wenigstens muß unabhängig sein von parteipolitischem Einfluß, vom Druck der Straße und auch der Presse. Wenn die Darstellungen der Presse richtig sind, dann müßte man sich ernstlich fragen: Wer wird sich in Zukunft noch getrauen, in so heikler Sache gewissenhaft seines Amtes zu walten?

Wohl noch alarmierender ist das Gerücht, daß der Nationalrat eine Revision des in Frage stehenden Gesetzes in bestimmter Richtung vorhabe. Auch wir sind der Meinung, daß es revidiert werden muß. Verschiedene Freisprüche in der letzten Zeit haben das bewiesen. Aber es kann nur revidiert werden im Sinne einer Verschärfung. Der Paragraph 1 des Gesetzes, der von „unzüchtigen“ Schriften, Abbildungen usw. spricht, läßt viel zu weite und laxe Deutungen zu. Vor allem aber ist die in den übrigen Paragraphen festgesetzte obere Altersgrenze für den Begriff „Jugend“ viel zu niedrig angesetzt. Ueberall im Strafrecht reicht der Begriff „Jugendlicher“ bis zum 18. Lebensjahr. Warum wird hier das 16. Lebensjahr als Grenze gesetzt? Man spricht zwar heute von einer Frühreife der Jugend; aber jeder, der Erfahrung mit jungen Menschen hat, weiß, daß es sich dabei lediglich um einen früheren Beginn der körperlichen Reife handelt, daß die geistig-seelische Reife keineswegs früher gegeben ist als in vergangenen Generationen. Gerade aus diesem Umstand, daß die körperliche Reifung in einem Zeitpunkt stattfindet,

da der junge Mensch noch nicht ihrer geistigen Bewältigung fähig ist, ergeben sich ja bereits so viele sexuelle Gefährdungen. Wer behauptet, der Jugendliche sei mit 16 Jahren bereits über die besondere Anfälligkeit für sexuelle Reize hinaus, kennt die Jugend nicht. Jeder erfahrene Erzieher weiß, wie verheerend für die ganze weitere Persönlichkeitsentwicklung es sich auswirkt, ja wie die normale Persönlichkeitsentfaltung geradezu abgestoppt ist, wenn in diesen Jahren der Pubertät das Sexuelle in den Vordergrund tritt. Es sei in diesem Zusammenhang an die erschütternden Tatsachen erinnert, die in der

1951 erschienenen Publikation über die Enquete der Sozialistischen Frauenschaft zu lesen sind; etwa folgendes Untersuchungsergebnis in einem Ambulatorium der Gebietskrankenkasse: von den untersuchten Mädchen waren bei den vierzehnjährigen bereits 19,4 Prozent defloriert, bei den fünfzehnjährigen 23 Prozent, bei den siebzehnjährigen 52 Prozent! Auch wenn diese Zahlen nicht schlechthin verallgemeinert werden dürfen, sind sie doch ein aufrüttelnder Hinweis auf die sittliche Not unserer Jugend.

Natürlich sind die Ursachen nicht nur in pornographischer Literatur und Darstellungen zu suchen. Da ist vieles mit schuld. Oft genug das Beispiel der Eltern und der Erwachsenen überhaupt, direkte Verführung, das Versagen der Erziehung im allgemeinen, einer gesunden, geschlechtlichen Erziehung im besonderen, mangelnde oder falsche Aufklärung, in vielen Fällen die unmöglichen Wohnverhältnisse, manchmal wirtschaftliche Schwierigkeiten, in gewissen Gegenden der frühzeitige Alkoholgenuß usw. Vor allem aber doch die völlig sexualisierte allgemeine Atmosphäre, in der unsere Jugend aufwächst. Und der zerstörende Einfluß der Schmutzliteratur hat seinen vollen Anteil daran. Ich kenne Beispiele, wo eine gante Schulklasse durch eine von Hand zu Hand wandernde pornographische Schrift verdorben wurde. Ich kenne Fälle, wo durch unzüchtige Bilder, die von Hand zu Hand gingen, ein ganzes Heer von jungen Menschen vielleicht fürs ganze Leben ruiniert wurde.

Hier geht es um die Jugend. Und da kann es keine Rücksicht auf gute Geschäfte geben. Da kann kein Hinweis darauf gelten, daß wir den Fremden, die wir im Lande brauchet), alles bieten müssen, was sie gerne finden möchten. Es interessiert uns nicht, daß man in anderen Ländern nicht so „rückständig“ ist. Es steht viel zuviel auf dem Spiel, als daß man sich aus Angst, man könnte als prüfte gelten, vom konsequenten Kampf abhalten lassen dürfte. Es geht um die Jugend! Und darum erwarten wir von allen, die für sie verantwortlich sind, vor allem auch von Regierung und Parlament, schärfste Maßnahmen zu ihrem Schutz.

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