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Jeder fünfte Österreicher ist vorbestraft

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Solche Vorgänge haben in Österreich bereits längst den Reiz des Neuen verloren; besonders gefährlich jedoch und unbedingt anzuprangern sind diese Praktiken bei einer Materie, die den einzelnen Staatsbürger unmittelbar berührt, welche die Grenzen der staatlichen Macht in direkter Weise in die Entscheidungssphäre des Individuums ausweiten kann. Wo es um Leviathans Reich geht, sollte gerade in einer Demokratie die menschliche Freiheit nicht zum Gegenstand oder gar zum Opfer taktischer Machinationen herabgewürdigt werden.

Wie eng sich in Österreich der Kontakt zwischen Bevölkerung und Strafgericht gestaltet, wird durch die Anzahl der jährlichen Verurteilungen deutlich: 105.394 Personen wurden 1966 im Namen der Republik für schuldig befunden, einen strafgesetzlich verbotenen Tatbestand erfüllt zu haben; was gegenüber dem Vorjahr einen „Zuwachs“ von 4 Prozent, allerdings im Vergleich zum „Rekordjahr“ 1960 mit fast 120.000 Verurteilten ein erfreuliches Absinken bedeutet. Daß der Personenkreis jener „Gestrauchelten“ ständig erweitert wild, beweisen die 53 Prozent bisher Unbescholtener, die 1966 mit einem Paragraphen des Strafgesetzes kollidierten. Berücksichtigt man, daß die Strafmündigkeit erst mit dem 14 Geburtstag ein tritt und somit im Bundesgebiet knapp über fünfeinhalb Millionen „potentieller Verbrecher“ existieren, von den durchschnittlich rund hunderttausend Verurteilten seit 1945 nur ungefähr die Hälfte vorbestraft ist, erhält man als erschreckendes Resultat, daß jeder fünfte Österreicher vorbestraft ist oder war. Nicht in 'diesen Zahlen enthalten sind natürlich die bei einigen Tatbeständen zahlreichen Dunkelziffern sowie jene Fälle, in denen die Tat zwar bekannt, in Ermangelung eines „ausgeforschten Täters“ jedoch keine Anklage erhoben werden konnte.

Antiquiert in Inhalt und Form

Somit scheint die Behauptung nicht aus der Luft gegriffen, daß fast schon jeder Staatsbürger irgendeinen Paragraphen des geltenden Strafgesetzes übertreten hat und daher im herkömmlichen Sinn als „kriminell“ zu bezeichnen ist. Der Mythos vom „maßstabgerechten Menschen“, den die Strafrechtslehre im Zusammenhang mit den Gefährdungsdelikten entwickelte und der im Gesetz als „Kautschukparagraph“ seinen Niederschlag findet, wird von der Statistik ad absurdum geführt. Augenscheinlich besteht die große Gefahr eines so bedeutenden Gesetzeswerkes — auf Grund einer gewissen Lebensfremdheit — nicht ernst genommen zu werden. Wie anders sind die „Kavaliersdelikte“ zu erklären, deren Existenz vielfach geleugnet, in der Volksmeinung jedoch weit verbreitet und in manchen Urteilen sinngemäß sogar bestätigt werden? Ein wirksamer Schutz der Gesellschaft -vor kriminellen Elementen, den das Strafgesetz letzlich realisieren soll, kann durch eine solche Abwertung des gerichtlichen Strafurteils bedenklich in Frage gestellt werden. Jede Ausdehnung des Gemeinschaftsschutzes beinhaltet notwendig eine Einschränkung der individuellen Freiheit. Einen goldenen Mittelweg beschreitet auch der neue Entwurf nicht.

Wie „modern“ sich glücklicherweise nur einzelne Bestimmungen des Gesetzentwurfes präsentieren, geht aus folgendem Satz-Moloch hervor: „Wird eine strafbare Handlung gegen die Ehre gegen einen Beamten oder einen Seelsorger einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft während der Ausübung seines Dienstes oder wird eine solche Handlung gegen eine der genannten Personen in einem Druckwerk, im Rundfunk oder sonst auf eine Weise, daß sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wird, in Beziehung auf eine ihrer Berufshandlungen begangen, so hat sie der öffentliche Ankläger mit Ermächtigung des in seiner Ehre Verletzten und der diesem vorgesetzten Stelle innerhalb der dem Verletzten für das Verlangen nach Verfolgung offenstehenden Frist zu verfolgen, wenn das in öffentlichem Interesse geboten ist.“ Wer kann feststellen, ob diese Bestimmung in der Form oder im Inhalt antiquierter ist?

Amtsehre gegen Unzucht

Das andere Extrem wählten die Verfasser bei der Schutzbestimmung für das höchste Rechtsgut — das menschliche Leben. „Wer einen anderen tötet, wird mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren bestraft.“ Auch dem Laien wird bewußt, wie schwierig sich eine korrekte Rechtssprechung auf Grund einer solchen Gesetzesformulierung gestalten muß. Die Richterschaft wird sehnsüchtig auf übereinstimmende oberstgerichtliche Entscheidungen warten…

Auf den ersten Blick positiv, in seiner Anwendung und Auslegung aber problematisch scheint — ein weiteres Beispiel — die Formulierung der Hilfeleistungspflicht — in ihrer generellen Postulat eine absolute Novität: ‘ „Wer es bei einem Unglücksfall oder einer Gemeingefahr unterläßt, die zur Rettung eines Menschen aus der Gefahr des Todes oder einer beträchtlichen Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erforderliche Hilfe zu leisten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 100.000 Schilling bestraft, es sei denn, daß die Hilfeleistung dem Täter nicht zuzumuten ist.“ Man spürt deutlich den Gummi, der zwischen Lebensrettermedaille und einem Täter, der nichts tut, gezogen ist.

Die hier angedeuteten Probleme bilden jedoch nicht die Hauptschwierigkeiten in dem Ringen der Parteien nach Übereinstimmung, die unbedingt erreicht werden muß, um das neue Strafgesetz nicht a priori mit dem Makel eines knappen Mehrheitsbeschlusses zu behaften. Gewarnt werden muß aber vor jenen in der Vergangenheit unsachlichen Proporzpraktiken: wenn allerdings eine Partei nicht davor zurückschreckt, die Verlängerung eines Marktordnungsgesetzes von der Besetzung eines Vorstandspostens in einem verstaatlichten Unternehmen abhängig zu machen, so droht eine „Einigung“ etwa auf der Basis, daß ein erhöhter Schutz der Amtsehre durch eine geringere Inkriminierung der Schwangerschaftsunterbrechung, oder die Qualifizierung von Homosexualität und Blutschande als Verbrechen mit einem Senken der Altersgrenze für Jugendschutzbestimmungen kompensiert wird. Ob nicht bezüglich der „Zankäpfel“ eine Volksabstimmung ein wirklichkeitstreueres Bild der Volksmeinung ergäbe als die Stellungnahme einzelner Interessenvertretungen? Es würde das Schlagwort „mehr Leben in die Demokratie“ inhaltlich beseelen, das Parlament beziehungsweise die Parteien in ihrer derzeitigen Konstellation von einer schier unlösbaren Aufgabe in der Hauptsache entbinden und die Verantwortung schließlich denjenigen übertragen, die auch die praktischen Auswirkungen des nach der Verfassung wohl bedeutsamsten Gesetzes am eigenen Leib oder der Brieftasche zu ertragen haben werden. Denn ein Abgeordneter stolpert doch nicht so leicht über „gar so manch’ Delikt, das noch Metternichs Relikt“.

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