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„Inzest-Schock" in der Eidgenossenschaft

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Selten wurde in der Schweiz in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit so heftig auf einen Expertenvorschlag reagiert, wie auf den Bericht von 31 Fachleuten für eine Liberalisierung des geltenden Sexualstrafrechtes, den die Landesregierung in Auftrag gab und — wie das in der Schweiz politische Usanz ist - in eine breite Vernehmlassung bei Kantonsregierungen, Parteien, Verbänden, interessierten Organisationen und kirchlichen Kreisen schickte, bevor sie dem Parlament ihren (Kompromiß-)Vor-schlag unterbreitet.

Obwohl noch nicht alle Antworten eingegangen sind, läßt sich heute schon sagen, daß dem Bundesrat wenig Spielraum für eine Lockerung der geltenden Regelungen bleibt, wenn er nicht angesichts des massiven Widerstandes überhaupt auf eine Vorlage verzichtet.

Das Kernstück der von umfangreichen Erläuterungen begleiteten Expertenvorschläge bilden die Neuerungen betreffend strafbare Handlungen im Sexualbereich. Die Kommission ging dabei davon aus, daß sich in diesem Bereich die sozialethischen und gesellschaftlichen Auffassungen in einer Weise geändert haben, denen auch das Strafgesetz Rechnung tragen muß.

Grundprinzip der neuen Vorschläge ist es, geschlechtliche Handlungen nur noch für strafbar zu erklären, wenn sie einen anderen Menschen schädigen (könnten) oder gegen dessen Willen vorgenommen werden. Die Kommission schlug daher unter anderem vor, das Schutzalter von heute 16 auf 14 Jahre zu senken, den Inzest („Blutschande") nur noch dann als strafbar zu erklären, wenn er mit dem eigenen

Kind unter 18 Jahren oder einem Großkind vollzogen wird, das homosexuelle Verhalten dem heterosexuellen gleichzustellen und die Pornographie und das Bordellwesen zu liberalisieren.

Dagegen soll neu die Vergewaltigung der eigenen Ehefrau auf Anzeige hin bestraft werden. Eine Reihe weiterer, sehr wichtiger, aber offenbar nicht so „publikumswirksamer" Bestimmungen, wie besserer Schutz der Kinder vor Mißhandlungen, Strafbarkeit der Abgabe alkoholischer Getränke und anderer gesund-

heitsschädigender Stoffe inklusive Betäubungsmittel an Kinder usw. sind in der Diskussion über die Paragraphen, die den sexuellen Bereich beschlagen, völlig untergegangen.

Im Zentrum der heftigen Auseinandersetzung steht die Frage der Herabsetzung des Schutzalters von 16 auf 14 Jahre. Während die Fachleute (unterstützt vor allem von den Vernehmlassern des linken Spektrums) argumentieren, die Beschleunigung nicht nur der körperlichen, sondern auch der seelischen Entwicklung der

Jugendlichen von heute spreche für eine Reduktion der Grenze, konnte die große Mehrheit der Vernehmlasser dafür kein Verständnis aufbringen.

Sie führen zur Begründung dieser Haltung im wesentlichen an, 14jährige seien nach wie vor unfähig, in sexuellen Fragen eigenverantwortlich zu entscheiden und die Integration der Sexualität in die Gesamtpersönlichkeit überfordere junge Menschen zu diesem Zeitpunkt.

Im Gegensatz zur Meinung der Experten sei heute eher eine Verzögerung der Persönlichkeitsentfaltung festzustellen. Auch die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) ist überzeugt, „daß die psychischen und physischen Folgen eines niedrigen Schutzalters die Entfaltung junger Menschen gefährden könnte".

Sie betont auch, daß in diesem Bereich ethische Fragen nicht ausgeklammert werden dürfen. Ahnlich argumentiert auch die Bischofskonferenz, die an verschiedene Berührungspunkte zwischen Moral und Recht erinnert, wie etwa daß das Strafrecht bewußtseinsbildenden Charakter habe, den einzelnen und die Gemeinschaft vor Schaden bewahren müsse und vor allem die Grundwerte zu schützen seien.

Das zweite überaus heiße Eisen, bei dem sich die Vernehmlasser vorwiegend gegen den Expertenbericht stellen, ist die Frage des Inzests. Hier erklären sich viele von dem Vorschlag der Straflosigkeit „schockiert". Verwiesen wird vor allem auf das „Volksbewußtsein", das „Blutschande" als eines der schlimmsten Vergehen beurteile.

Die Experten müssen sich auch öffentlich vorhalten lassen, daß sie falsche Behauptungen über den Stand der erbbiologischen Forschungen aufstellten und die Gefahr körperlicher oder geistiger Schäden von Inzestkindern verniedliche. Die CVP stellt auch in diesem Punkt den Schutz der Familie und die Erziehungspflicht in den Vordergrund ihrer ablehnenden Haltung. Auch die Bischofskonferenz widersetzt sich der Entkriminalisierung des Inzestes.

Nicht gar so breiten Widerstand hat die Gleichsetzung von Homosexualität mit Heterose-xualität gefunden, obwohl auch hier kritische Stimmen häufig sind. Verlangtj wird insbesondere weiter strafrechtlicher Schutz für 16- bis 20jährige. Uberraschend wenig Opposition bei den offiziell zur Stellungnahme Angefragten hat die Entkriminalisierung der

Pornographie und die Anpassung der Bestimmung über das Bordellwesen gefunden.

Es gibt allerdings eine breite Volksbewegung, die sich gegen jede Liberalisierung des Sexualstrafrechtes wendet 190.000 Petitionsunterschriften wurden in diesem Sinne beim Bundesrat hinterlegt und das Referendum (das Erzwingen einer Volksabstimmung) angekündigt, wenn Bundesrat und Parlament zu einer Lockerung Hand bieten.

Aber auch Kritiker, die nicht so kategorisch negativ reagieren, machen sich grundsätzliche Gedanken, an denen die Regierung bei ihrer Wertung der Reaktionen nicht so ohne weiteres vorbeigehen kann.

So werden Fragen aufgeworfen, ob es denn richtig sei, das Sexualstrafrecht auf eine bloße Schutzfunktion zurückzudrängen und von der „Leitplankenfunktion", daß der Staat mit dem Strafrecht auch grundlegende Werte der Gesellschaft schützen müsse, abzurücken sei. Es gehe — so wird argumentiert — auch um den Schutz des Rechtsgutes öffentlicher Sittlichkeit und um den Schutz der menschlichen Würde und der Ehe.

Sollte es zu einer Abstimmung kommen, so wird sich weisen, ob die häufig gehörte Kritik, die Experten hätten lautstark propagierte Postulate von Randgruppen oder Hypothesen einer Minderheit innerhalb der Gesellschafts- und Rechtswissenschaft übernommen und „am Volke vorbei" argumentiert, zutrifft.

Die traditionelle eidgenössische Kompromißfindung steht hier vor einer schweren Aufgabe. Eine Nullösung zeichnet sich ab.

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