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Schweiz: Fast ein Kulturkampf

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Soll in der Schweizer Bundesverfassung das Recht auf Leben ausdrücklich verankert und Beginn und Ende des Lebens präzis umschrieben werden? Um diese Kernfragen einer Volksinitiative vor dem Hintergrund der Abtreibungsdiskussion, über die die Stimmbürger Helvetiens am 9. Juni an der Urne zu befinden haben, ist eine Art neuer Kulturkampf mit stark emotionalisier-ten Fronten entbrannt, dessen teilweise gehässiger Unterton viele Schweizer mit Sorge erfüllt.

Die Initiative „Recht auf Leben” wurde 1980 mit der Rekordzahl von 227.000 Unterschriften (nötig für das Zustandekommen sind 100.000) eingereicht. Sie ist als Antwort auf die in den siebziger Jahren heftig geführte Diskussion über die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruches (Fristenlösung), über die Sterbe-hüfe (Euthanasie) und teilweise über die Todesstrafe zu verstehen.

Entsprechende politische Vorstöße scheiterten teils bereits im Parlament und im Bereich der Abtreibung zweimal in einer Volksabstimmung, wobei sich Anhänger und Gegner der Fristenlösung allerdings praktisch die Waage hielten.

Die Initiative „Recht auf Leben” will zu all den erwähnten Fragen, zu denen sich noch die Problemkreise Retortenbabys, Organtransplantationen, „Leihmütter”, Gen-Manipulation und ähnliches gesellen, einen positiven Gegenakzent in Form eines Volksentscheides erwirken, zugunsten des umfassenden Schutzes des menschlichen Lebens — als ethische Richtschnur in der künftigen politischen Diskussion.

Im zur Abstimmung anstehenden Verfassungsartikel soll das Recht auf Leben sowie auf geistige und körperliche Unversehrtheit ausdrücklich verankert werden, während es bisher als ungeschriebenes Grundrecht in der Rechtsprechung anerkannt wurde und auch durch Teile der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert wird.

Ein absolutes Novum in der internationalen Verfassungsgeschichte und eigentliche piece de resistance ist die im Initiativtext umschriebene Dauer des Lebens „beginnend mit der Zeugung und endend mit dem natürlichen Tod”. Ein dritter Abschnitt des Artikels besagt sodann, daß Eingriffe in das Grundrecht nicht mit Rücksicht auf weniger hohe Rechtsgüter beeinträchtigt werden dürfen.

Leicht verdeckte Hauptstoßrichtung der Initiative ist der Schutz des ungeborenen Lebens. Mit der ausdrücklichen Erwähnung der als bewiesene Erkenntnis der modernen Naturwissenschaft deklarierten Definition, daß der Mensch von der Befruchtung an Mensch sei und der Embryo als einmaliger, unwiederhol-barer Mensch existiere, wird der Weg einer liberalen Abtreibungspraxis über die Verfassung verbaut.

Die Initiative erlaubt höchstens eine Rechtsgüterabwägung: Nicht nur die Frau, auch das Kind hat Rechte und diese müssen gegeneinander abgewogen werden. Das geborene oder ungeborene menschliche Leben darf demnach nicht einem Rechtsgut von geringerem Wert geopfert werden. In Frage käme allenfalls eine unumgängliche medizinische Indikation (Leben der Mutter gefährdet), sicher aber keine soziale.

Die Gegner meinen, die Umschreibung der Dauer des Lebens sei äußerst problematisch. Der gesetzliche Schutz des Lebens könne frühestens zum Zeitpunkt einsetzen, da eine Schwangerschaft feststellbar sei und dies sei erst einige Wochen nach der Zeugung möglich.

In der Frage der Sterbehilfe sind die Forderungen des Volksbegehrens allerdings bereits erfüllt. Die aktive Sterbehilfe im Sinne einer gezielten Lebensverkürzung — zum Beispiel durch tödlich wirkende Medikamente — ist gemäß Strafgesetzbuch heute schon verboten, auch auf ausdrückliches Verlangen des Pa-. tienten hin.

Umstritten sind aber Auswirkungen auf anderen Bereichen. Wie verhält es sich zum Beispiel mit der Todesstrafe, die die Schweiz im Militärstrafrecht für den Kriegsfall nach wie vor kennt? Die Initianten meinen, trotz des rigorosen Verfassungstextes wäre dies weiterhin statthaft, wenn „das Lebensrecht des einzelnen dem Lebensrecht eines ganzen Volkes gegenüberstehe”.

Juristen aber glauben, daß man die Todesstrafe auch für diesen Spezialfall abschaffen müßte. Auch der Waffeneinsatz de* Armee in Friedenszeiten (bewaffneter Wachdienst) oder der Waffengebrauch der Polizei sei durch die Initiative gefährdet, genauso wie die Ausübung gefährlicher Sportarten.

Die Stellungen sind bezogen. Von den politischen Parteien steht als (fast geschlossene) große Gruppierung nur die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) hinter der Initiative, dazu die Evangelische Volkspartei und als eher ungeliebter Verbündeter, die „Nationale Aktion”, die auf der extremen rechten Seite vornehmlich gegen die Überfremdung antritt.

Die katholische Kirche - vertreten durch die Bischofskonferenz-hat sich ebenfalls eindeutig hinter das Volksbegehren gestellt und auf die christliche Verpflichtung zum Schutz des Lebens verwiesen.

Auch Befürworter geben zu, daß die Formulierung der Initiative nicht über alle Zweifel erhaben ist. Sie betonen aber zu Recht die Wichtigkeit des Anliegens und vor allem, daß eine Ablehnung viel schlimmere Folgen hätte als das Ja zum vorgeschlagenen Text mit einigen Interpretationsschwierigkeiten.

Der Bundesrat und die Mehrheit des Parlamentes, Freisinnige, Sozialdemokraten und die Schweizerische Volkspartei als vierte Regierungspartei lehnen in unüblichem Verbund mit zahlreichen linken Gruppierungen und Frauenbewegungen als große laizistische Koalition vor allem mit rechtlichen und politischen Argumenten den Vorstoß ab.

Viel Staub aufgewirbelt hat der Entscheid des Evangelischen Kirchenbundes, dem Volksbegehren die Unterstützung zu verweigern, weil ein „berechtigtes Anliegen auf eine medizinisch, juristisch, theologisch wie ethisch fragwürdige Weise” vertreten werde. Es gehe nicht an, auf dem Verfassungsweg Dinge zu regeln, über die der einzelne verantwortungsbewußte Mensch besser selber entscheide.

Diese eher unerwartete Stellungnahme hat zu heftigen Reaktionen der Befürworter und auch zu interner Kritik in der Evange-lisch-reformierten Kirche geführt.

Es sind hüben und drüben in diesem Abstimmungskampf schon böse Worte gefallen, häßliche Verdächtigungen ausgesprochen worden, so daß das besiegt geglaubte Gespenst des Kulturkampfes nicht zu Unrecht wieder da und dort beschworen wird, wenn auch in milderer Form als im 19. Jahrhundert. Aber die Fronten ähneln sich.

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