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Referendum ohne Glorienschein

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Der Vorstoß der österreichischen Volkspartei zugunsten der Einführung des sogenannten „Volksauftrags“ in das demokratische System Österreichs stellt Behörden, Politiker und Bürgerschaft dieses Landes vor die Notwendigkeit, sich mit der direkten Demokratie — ihrem Wesen, ihren Möglichkeiten und auch ihren Gefahren — auseinanderzusetzen. Da der Vorschlag der ÖVP durch das schweizerische Vorbild nicht unwesentlich beeinflußt worden ist, sind vielleicht die Überlegungen eines Schweizers, der das Funktionieren einer direkten Demokratie seit Jahren aus der Nähe verfolgt und miterlebt, dazu geeignet, einige Elemente zur Meinungsbildung in Österreich beizutragen. Doch müssen wir eine Bemerkung vorausschicken, damit unsere Absicht nicht mißdeutet werde: die Schweizer betrachten ihre Demokratie weder als eine Exklusivität oder ein Monopol noch als einen Exportartikel. Sie hat ihre einmaligen geschichtlichen Voraussetzungen (man denke an die Landsgemeinde und an die fördera-listische Struktur!), und sie ist das Produkt einer Entwicklung — nicht ein Geschenk, das den Eidgenossen in den Schoß gefallen ist. Sie zu kopieren, wäre sicher falsch. Wohl aber können die schweizerischen Erfahrungen mit der Referendumsdemokratie anderen

Völkern bei der Ausgestaltung ihrer Demokratie nützlich sein. Nicht alles Gold, was glänzt

Der kritische Eidgenosse kommt trotz (oder wegen) seiner Liebe zur Demokratie und bei aller Anhänglichkeit an ihre Institutionen nicht um die Feststellung herum, daß auch in der Referendumsdemokratie helvetischer Prägung nicht alles Gold ist, was glänzt. Er ist versucht, den alten Spruch zu zitieren: „Weihrauch schadet dem Gold.“ Die ständige Beweihräucherung der schweizerischen „Müsterdemokratie“ durch einhei-,mische und fremjJeyLobredner verleitet manchen Schweizer dazu, alle in seinem „Musterstaat“ für unübertrefflich zu halten; er neigt dazu, die demokratischeste aller Welten auch für die vollkommenste aller Welten zu halten, die automatisch den rechten Weg nehme, ohne daß er, der Einzelbürger, durch die Erfüllung seiner Bürgerpflichten, etwas dazu zu tun brauche. Die schlechte Stimmbeteiligung bei eidgenössischen und kantonalen Volksabstimmungen sind der sichtbare Niederschlag dieser Mentalität, die bis zu einem gewissen Grad eine Folge des konjunkturellen Wohllebens sein mag. Es wäre zu simpel, alles damit erklären zu woHen. Sie hat noch andere Wurzeln.

In der direkten Demokratie gilt, was der Durchschnitt für richtig erachtet. Die direkte Demokratie wird daher kaum politische Großtaten und keine avantgardistischen Leistung vollbringen. Eben darum nicht, weil sie bescheiden genug ist, den Maßstab der Mehrheit, das heißt des Durchschnittes, zu dem ihren zu machen. Das hindert sie an einer gewissen Größe (der Westschweizer Dichter C. F. Ramuz hat dies schmerzlich empfunden und aus diesem

Schmerz heraus ein Buch geschrieben, in dem er seinen Confederes den „besoin de grandeur“ beizubringen versuchte), es verbaut aber anderseits auch den Charlatanen und Volksbe-glückern den Weg zu ihren traurigen Erfolgen.

Bekennt man sich zu diesen Grundtatsachen (mitsamt ihren Nachteilen), so wird man auch die oben signalisierten Gefahren der direkten Demokratie in Kauf nehmen und Mittel finden, sie in Grenzen zu halten. Man darf nämlich diese Gefahren nicht überschätzen. Es gibt genug Beweise für die Feststellung, daß der zitierte Reklamefachmann unrecht hat, wenn er behauptet, mit genügend Beeinflussungsmitteln lasse sich jedes gewünschte Abstimmungsresultat erzielen. Jüngst wieder haben die Zürcher Stimmbürger die Demagogen, die einen Kampf nach diesem Rezept führten, heimgeschickt. Mit Hilfe einer üblen Hetze, welche das Volk gegen die Akademiker ausspielte, versuchten Drogisten ein neues, fortschrittliches Gesundheitsgesetz zu Fall zu bringen, weil es den von Sachkenntnis unbeschwerten Handel mit gewissen Medikamenten einschränkt. Die Antwort der Stimmbürger an den Urnen war eine saftige Ohrfeige für die Demagogen.

Sachliche Grenzen

Größer als die Gefahr demagogischen Mißbrauchs ist für die direkte Demokratie im Zeitalter des Spezialistentums und der Technisierung die Gefahr von Fehlentscheiden. Sie besteht immer dann, wenn der Souverän Urteile fällen soll, die zwar auch politische Entscheide sind und daher politischen Spürsinn verlangen, die jedoch ebensosehr Fachfragen sind, zu deren Beurteilnug die Sachkenntnis des Spezialisten erforderlich wäre, wie sie der Mehrheit der Stimmbürger abgeht. Diese Schwierigkeit taucht immer häufiger auf. Man wurde sich ihrer zum Beispiel letztes Jahr schmerzlich bewußt, anläßlich der Abstimmung über ein neues Uhrenstatut, dessen Beurteilung Vertrautsein mit kompliziertesten wirtschaftlichen Zusammenhängen und fachtechnisches Wissen erforderte — Voraussetzungen, die man dem Durchschnittsbürger einfach nicht zumuten konnte. Und eben jetzt wieder hat das Parlament einen neuen Fall dieser Art zu begutachten, die sogenannte Atominitiative der Sozialdemokraten. Nachdem Volk und Stände im vergangenen April eine von Pazifisten und Kommunisten eingereichte Verfassungsinitiative verworfen haben, welche der Schweiz ein für allemal die Beschaffung von Atomwaffen verbieten wollte, haben die Sozialdemokraten eine zweite Initiative zustandegebracht, die verlangt, daß der Entscheid über die Beschaffung solcher Waffen, der in die Kompetenz des Parlaments fällt, künftig dem Volk zu überlassen sei. Dieses Begehren, das gemäß Antrag der Regierung vom Parlament dem Volk ohne Gegenvorschlag zur Verwerfung empfohlen werden soll, greift nicht nur (wie schon so manche Volksinitiative) in die ausgewogene Kompetenzordnung und Gewaltenteilung ein, sondern es mutet dem Souverän einen Entscheid zu, für den dem Durchschnittsbürger die fachlichen Voraus-Setzungen abgehen. Die Frage ist nun, ob die Mehrheit der Stimmenden und der Stände, die demnächst zu dieser Initiative Stellung nehmen müssen, das ebenfalls einsieht und mit einem Nein bezeugt oder ob sie der Versuchung erliegen wird, sich selber neue, zweifelhafte Kompetenzen zu geben. Im Parlament besteht eine starke Strömung, welche auf einen Kompromiß hinzielt; dieser bestände darin, daß Atomwaffenbeschlüsse nicht dem obligatorischen Referendum unterständen (das heißt, auf alle Fälle dem Entscheid von Volk und Kantonen zu unterbreiten wären), sondern nur dem fakultativen Referendum (das heißt, sie müßten nur zur Abstimmung gebracht werden, wenn 30.000 Stammbürger unterschriftlich einen Volksentscheid verlangen). Dieser Kompromiß, der glaubt, das Fell waschen zu können, ohne es naß zu machen, ist schon deswegen von zweifelhafter Güte, weil er antiförderalistisch ist; denn ein fakultatives Referendum erfordert im Gegensatz zum obligatorischen nur das Volksmehr, nicht aber das Ständemehr (= Mehrheit der annehmenden Kantone).

In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister

Über derartige Kompromisse — sie segeln unter der Bezeichnung „Gegenvorschlag“ — wird im Parlament bei stark umstrittenen Initiativen, die einige Aussicht auf Annahme in der Urnenabstimmung haben, immer wieder Seil gezogen. Solche Gegenvorschläge pflegen dem Anliegen der Initianten ein Stück weit entgegenzukommen, ohne ihren Vorschlag einfach zu übernehmen. Sie ermöglichen es ihnen, ihre Initiative unter Wahrung des Gesichts zurückzuziehen, so daß dann Volk und Stände nur über den Gegenvorschlag abzustimmen haben. Ziehen die Initianten ihr Volksbegehren nicht zurück, so kommen beide am selben Tag zur Abstimmung — und häufig sagt dann der Souverän gleich zweimal nein. Der Rückzug einer Initiative durch jene, die sie lanciert haben, ist im übrigen nur gestattet, wenn ihr Volksbegehren mit einer Rückzugsklausel versehen ist. Diese Klausel fehlt kaum jemals einem Initiativtext — schon deshalb nicht, weil sie ein Köder ist, der das Parlament zu einem Gegenvorschlag verführen soll. Die eidgenössischen Räte zeigen jedoch im allgemeinen wenig Lust, diesen Ausweg zu beschreiten, da es eine Erfahrungstatsache ist, daß Volksinitiativen nur minimale Chancen auf Annahme in der Urnenabstimmung haben. In dieser Tatsache liegt ein deutlicher Hinweis dafür, daß das Schweizervolk der Auffassung ist, das Parlament genüge im allgemeinen seiner Aufgabe, es sei daher nicht angezeigt, ihm in seine Gesetzgebungsarbeit hineinzureden und die Demokratie zu überbeanspruchen. Die direkte Demokratie treibt die demokratische Staatsform so konsequent bis an ihre Grenzen, daß sie nur gesund bleiben und funktionieren kann, solange die Volksmehrheit dem Gebrauch der Volksrechte selber freiwillig und diszipliniert die Zügel anlegt. Solange sie diesen Willen zum Maß und zur Disziplin immer wieder bezeigt und demonstriert, braucht einem um die Zukunft der Referendumsdemokratie nicht bange zu sein.

Hier liegt der entscheidende Punkt: im Willen der Volksmehrheit, ihre Rechte maßvoll zu nützen. Das, scheint uns, muß wohl der entscheidende Gesichtspunkt sein, wenn Demokratien, welche Initiative und Referendum bisher nicht kennen, eine Ausweitung der Volksrechte nach schweizerischer Art ins Auge zu fassen. Die direkte Demokratie ist ein unablässiges Risiko, das dann zum Gewinn für den Staat wird, wenn das demokratische Staatsbewußtsein gefestigt genug ist, um ihre Gefahren zu „verkraften“, und wenn ein Volk mit der freiheitlichen Besinnung und Tradition auch das Bewußtsein in sich trägt, daß die Freiheit zugleich die würdigste und die schwierigste Form der Politik ist. Ein Mehr an Rechten erfordert ein Mehr an Selbstdisziplin und politischer Schulung. Die größte Gefahr für die direkte Demokratie ist ihre Überforderung, ihre Überbeanspruchung. Konsequente Ausnützung der Möglichkeiten, die sie bietet, zersetzt sie und führt sie ad absurdum. Der beste und vielleicht einzig dauerhafte Schutz gegen diese Gefahr der Selbstzerstörung liegt in einer sorfältigen Pflege der Bürgertugenden, vor allem in der unablässigen Erziehung des einzelnen und der Gruppen zur Verantwortung für das Ganze. Sie ist die erste Bedingung für ein erfolgreiches Funktionieren einer Referendumsdemokratie.

Die direkte Demokratie lebt vom Gemeinschaftssinn der Mehrheit.

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