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Volks wähl der Minister?

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In Helvetien ist bekanntlich manches anders als ringsum — wenigstens was die Politik betrifft. Nicht nur hat seine Majestät, der simple Bürger, mehr zu sagen als in manchem Lande die gekrönten Häupter. Nicht nur ist seine Meinung zu allen Verfassungsänderungen einzuholen, er kann auch, wenn er genug Unterschriften zusammenbringt, gegen jedes Gesetz, das das Parlament zu Bern beschließt, an die Bürgerschaft appellieren. Diesem Referendumsrecht entsprechend hat er auch ein Initiativrecht, durch das er im Verein mit 50.000 Mitbürgern eine neue Verfassungsbestimmung Vorschlägen kann, die in Rechtskraft erwächst, sofern sie von der Mehrheit des Volkes und der Kantone (Bundesländer) gutgeheißen wird.

Kein Staatsoberhaupt

Nur eines kann der mit so reichlichen Rechten ausgestattete Eidgenosse nicht, was viele andere Republikaner Europas tun können: er kann kein Staatsoberhaupt wählen — aus dem einfachen Grunde, weil es in der Schweiz kein Staatsoberhaupt gibt! Zwar kennt Bern die Institution des Bundespräsidenten, aber dieser ist nicht Staatsoberhaupt, sondern lediglich Vorsitzender der Landesregierung, des siebenköpfigen Bundesrates. Gewiß hat er als solcher auch repräsentative Funktionen, wie andernorts Staatspräsidenten haben, aber er hat nichts zu sagen zur Regierungsbildung und -abberufung. Diese ist ausschließlich Sache des Parlamentes, das heißt der vereinigten beiden Kammern. Der schweizerische Bundespräsident gilt denn auch nicht als der höchste Magistrat des Landes. Diese Ehre fällt vielmehr dem Präsidenten der Vereinigten Bundesversammlung, also des Parlamentes, zu.

Die schweizerische Republik ist anders als alle andern. So sind im Parlament beide Kammern, Nationalrat und Ständerat, völlig gleichberechtigt. Der Bundesrat seinerseits ist nicht ein Ministerium im eigentlichen Sinne, an dessen Spitze ein die Richtlinien bestimmender Ministerpräsident steht. Die Ministerien nennen sich bescheiden Departemente. Ihre Zahl ist durch die Verfassung auf sieben beschränkt. Noch wichtiger ist, daß es kein Mißtrauensvotum des Parlamentes gegen die Regierung, den Bundesrat, gibt und daß auch nicht ein einzelner Bundesrat zur Demission gezwungen werden kann. Es gibt daher in Helvetien keine Kabinettskrisen. Das Parlament wählt zu Beginn jeder Legislaturperiode jeweils nach den Nationalratswahlen auf vier Jahre sieben Mitglieder der Regierung, und niemand kann diese von Gesetzes wegen in der Zwischenzeit zum Rücktritt zwingen. Bundesräte treten natürlich trotzdem öfter während der Amtsdauer zurück, aber meistens freiwillig und ausnahmsweise einmal unter dem Druck der öffentlichen Meinung. Und noch etwas Einmaliges zeichnet die helvetische Regierung aus: das Kollegialsystem. Der Bundesrat entscheidet als Kollegialbehörde, in der der Bundespräsident lediglich Versammlungsleiter und als solcher primus inter pares ist, ohne irgendwelche selbständige Entscheidungsbefugnis. Die Schweiz hat also, streng genommen, nicht nur kein Staatsoberhaupt, sondern auch keinen Ministerpräsidenten. Sie wird vielmehr von einem Kollegium, eben den sieben Bundesräten, „regiert”.

Reform des Regierungssystems

Dieses System hat, wie jedes, seine Vor- und Nachteile. Hielten es früher die Eidgenossen für die beste aller möglichen Welten, so neigen sie heute eher dazu, seine Nachteile zu überschätzen. Es ist allerdings nicht zu bestreiten, daß die seit 1959 praktizierte Regierungsformel ihre Schwächen hat. Die Formel verlangt, daß alle großen Landesparteien entsprechend ihrer Stärke in der Regierung vertreten sind: Freisinnige (Liberale), Konservativ-Christlichsoziale, Sozialdemokraten und Bauern, Gewerbe- und Bürgerpartei. Das führt in der Praxis dazu, daß die Regierungspolitik die klare Konzeption oft vermissen läßt. Jeder „Minister” wird in seinem Departement trotz Kollegialsystem von anderen Kollegen ziemlich unbehelligt gelassen. Den sieben Landesvätem, (wie der Volksmund die Bundesräte etwa nennt) wachsen die Aufgaben immer mehr über den Kopf. Die schweizerische Regierung ist mit ihnen altertümlich aufgebauten „Ministerien” in ein Korsett aus dem 19. Jahrundert gezwängt, das zu eng geworden ist. Seit Jahren ertönt daher immer wieder und immer lauter der Ruf nach einer Neukonstruktu- rierung der Regierung und insbesondere nach einer Vermehrung der Zahl der Departemente auf neun oder elf. Die Forderung soll Gegenstand einer Verfassungsinitiative werden, die gleichzeitig die Volkswahl des Bundesrates anstrebt.

Remedurbedttrftiges Wahlsystem

Warum der Gedanke einer Volkswahl der Minister? Tatsächlich wird die Kandidatenauswahl, die das Parlament bei der Wahl der Nachfolger zurücktretender Bundesräte hat, durch veraltete Verfassungsbestimmungen und ungeschriebene Gesetze und Traditionen eingeengt.

Daß eine Reform der Regierungsformel und darüber hinaus die Reform des Bundesratswahlsystems nötig ist, wird ziemlich allgemein bejaht. Man darf daher heute schon Voraussagen, daß die durch Traditionen und Verfassung der Auswahl der geeignetsten Kandidaten entgegengesetzten Hindernisse vom Parlament beseitigt werden, wenn vielleicht auch nur schrittweise. Die angekündigte Volksinitiative wird diesem Reformwillen gute Schrittmacherdienste leisten. Aber mehr wohl nicht. Ihre Chancen, angenommen zu werden, sind gering. Zum Glück!

Ein untaugliches Patentrezept

Die Initianten scheinen das selber instinktiv zu spüren. Jedenfalls ist es auffallend, wie sie ihr Konzept selber immer wieder ändern und umbauen. Ursprünglich verkündeten sie, es werde für die Volkswahl die Einteilung der Schweiz in elf Majorz-Wahlkreise vorgeschlagen werden. Von diesen hätte jeder eines der künftig elf Mitglieder der Landesregierung zu wählen. Bald mußten sie erkennen, daß eine gerechte und zweckmäßige Einteilung der vier Sprach- und Kulturkreise und der 25 Kantone ein Ding der Unmöglichkeit ist, es sei denn, man gehe darauf aus, in allen Ecken des Schweizerhauses hochexplosives Dynamit einzulagern und gleichzeitig den Kindern Helvetias die Zündhölzer in die Hand zu geben.

Patentlösung: Einerwahlkreis

Die Neuerer haben daher, kaum daß sie ihr Wunderrezept zur Rettung der Schweiz verkündet hatten, es wieder in die Schublade versenkt und offerieren nun ein neues, aber kaum besseres Patentrezept. Sie schlagen vor, die Schweiz solle einen einzigen Bundesratswahlkneis bilden, und in diesem Einerwahlkreis solle das ganze Volk (also nicht nur je ein Elftel) jeden einzelnen der neun oder elf künftigen Landesväter erküren. Dabei sind sich allerdings die Initianten noch selber uneins darüber, ob der Idealbundesrat aus den neun oder elf Besten des Landes bestehen soll. Einig sind sie sich hingegen darüber, daß den Minderheiten eine angemessene Vertretung von vornherein sichergestellt weiden muß. Die Methode, mit der sie dies bewerkstelligen wollen, ist aber derart, daß der beabsichtigte Minderheitenschutz leicht zu einer Majori- sierung der Minderheiten und damit zu Gefahren für den inneren Zusammenhalt des so heterogenen Schweizervolkes und -Staates führen kann. In der Praxis liefe nämlich die proponierte Lösung darauf hinaus, daß die Dreiviertelmehrheit, die die Deutsch-Schweizer stellen, bestimmen würde, welche der von ihren Westschweizer Confėdėrės und den Tessiner Confederati aufgestellten Kandidaten das Rennen machen würden. Das wäre das sicherste Mittel, den Graben Deutsch-Welsch zu vertiefen.

Der Eindruck, daß die Volkswahl die Reform remedurbedürftiger Praktiken mehr erschweren als fördern würde, nährt sich aber auch aus ganz praktischen Überlegungen. Wie sollte, so wird zum Beispiel den Neuerern entgegengehalten, ein Bürger Müller oder Meier, der am Bodensee daheim ist, ein fundiertes Urteil darüber fällen können, ob von den am Genfersee unten portierten Ministerkandidaten Monsieur Dupladn, Monsieur Perrier oder Monsieur Bonnet der Beste der Besten sei?

Nur das Parlament hat den nötigen Einblick in die Staatsgeschäfte und kann sich das Urteil über die Anforderungen des Amtes und die Qualitäten der Anwärter bilden. Die Meinung herrscht daher in allen politisch versierten Kreisen vor, daß es Wahlbehörde bleiben muß, ob dann die Zahl der Bundesräte auf neun oder elf erhöht werde. Aber ebenso bricht sich die Überzeugung Bahn, daß die altertümlichen, früher einmal berechtigten, aber heute schädlich gewordenen Einschränkungen, die der Auswahl der Geeignetsten entgegenstehen, beseitigt werden müssen.

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