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Der „siebte Mann“

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Am 11. Dezember, in der zweiten Woche ihrer Wintersession, werden der Schweizer National- und Ständerat gemeinsam Sitzung halten. Es geht darum, an die Stelle des verstorbenen Bundesrates Feldmann einen Nachfolger zu setzen, die Exekutive wieder auf ihre Siebenzahl zu bringen. Aufgabe ist es, wie gesagt, der eidgenössischen Räte, nicht des Volkes. Seit Jahrzehnten hat es zwar an Versuchen nicht gefehlt, dem Bürger auch dieses Wahlrecht zu übertragen, an Diskussionen erst recht nicht; doch blieb es bis dato beim alten, und der Mann am Biertisch ereifert sich darob nicht sonderlich, mag er auch zu Zeiten mit diesem Rechtszuwachs liebäugeln.

Länder gibt es, wo man vom „Mann auf der Straße“ und dessen Meinungen zu sprechen pflegt. In der Schweiz finden wir statt der Straße den Biertisch, nicht etwa als Redensart, sondern zu Stadt und Land in seiner festgefügten, angeräucherten, harthölzernen Wirklichkeit, in Tausenden von Wirtschaften als runden Tisch zumeist, als wichtigstes Requisit im Raum. Nun vergeht seit Mitte November kaum ein Tag, da nicht an diesen Tischen die Nachfolge im Bundesrat erörtert würde. Wieso nur, wenn doch der Bürger dazu nichts zu sagen hat?

Immer stoßen Wechsel in der Exekutive auf reges Interesse, auch wenn es sich wie eben jetzt „bloß“ um eine Ersatzwahl handelt, weil es um Namen geht, um Persönlichkeiten, um Menschen, die vor den Gegenständen der Politik stehen, nicht wie sonst um Anonymes, um die Gegenstände selber, durch deren Beziehungsnetz das Menschliche kaum mehr zu scheinen vermag. Und zudem gilt wie anderswo auch: regiert zu werden, liebt das Volk, in die Verwaltung schickt es sich. Also wird die Angelegenheit nach Feierabend am runden Tisch besprochen, bald kühl, bald spöttisch, bald leidenschaftlich, nie teilnahmslos; man betrachtet die politische Vergangenheit der Kandidaten und ihre Leistungen, wägt ihre Chancen ab, versucht auch wohl, allfällige Folgen der Wahl schon als Für oder Wider ins Feld zu führen — und bei alldem scheint diese Ersatzwahl schwerer zu wiegen als frühere.

DIE WAHLSITUATION

Für den vakanten Sitz im Bundesrat stehen zwei Anwärter auf dem Plan. Es sind Dr. S i e-genthaler, der Präsident der Berner Kantonsregierung, und Professor Dr. Wahlen, vormals Standesvertreter für Zürich, derzeit in Rom Direktor der FAO, der internationalen

Landwirtschaftsorganisation. Beide gehören derselben Partei an wie der verstorbene Bundesrat Feldmann, der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei. Niemandem würde es einfallen, der „Bauernpartei“, wie sie bequemlichkeitshalber genannt wird, den Sitz etwa streitig machen zu wollen. Das rührt vom „freiwilligen Proporz“ her, einer ohne Gesetz oder Abmachung gültigen Uebereinkunft, nach der nicht nur die einzelnen Landesteile in der Exekutive vertreten sein sollen, sondern in gerechtem Verhältnis auch die größeren Parteien, sofern sie gewillt sind, ihr I eil an der Verantwortung zu tragen. Als viert-stärk's'te “fAktion des Parlaments stellt' die Bauernpartei seit Jahrzehnten einen der sieben Bundesräte, und traditionsgemäß stammt er aus dem Kanton Bern, wo die Partei am meisten Anhänger hat. Sie verdankt ihren bisherigen Magistraten Minger, v. Steiger und F e 1 d m a n n ein schönes Stück ihres Ansehens, waren doch diese Männer nicht nur ihrem Amte gewachsen, sondern verliehen dem Amt die Würde, leiteten sie nicht erst davon her.

Die kantonalbernische Bauernpartei brauchte nur einen fähigen Mann zu nominieren, um leidlich gewiß zu sein, daß mehr als die Hälfte des Wahlgeschäftes erledigt1 war. Gleich vier Namen wurden zunächst herumgeboten, worauf sich die Sache aber ganz glatt anließ: es erklärte sich der eine als zu alt, der zweite (mit 42 Jahren!) als zu jung, der dritte gab bekannt, er wäre seines Standes froh und begehre nicht anderer Würden. Blieb eben einer, Dr. Siegen thalti. Eines Vormittags geschah im Parteivor- t stand die Schilderhebung, welches Faktum die Delegierten am nachmittäglichen Parteikonvent denn auch billigten. Zwar wußten ihrer einige, wie man vernimmt, weder das Prozedere noch die bereitwilligen Erklärungen zu schätzen, • knüpften vielmehr die Vermutung daran, ob nun zu Recht oder Unrecht, hier sei ein abgekartet Spiel'ge'tri'efeen worden.'„Item“, wie der Berner sagt, oder zu deutsch1:sei dem, wie es wolle, zugleich erfuhr man, es sei Herr Professor Wahlen brieflich angefragt worden, nicht etwa, ob er eine Kandidatur annehmen, sondern wie er sich zu einem eventuellen Vorschlag einstellen würde — ein Kabinettstück von Brief, wie man sieht.

Rom die Interessen Zürichs. Mit ihm hatte darum die bernische BGB-Partei gar nicht gerechnet. Als auch nur leise angetönt wurde, er möchte dem verwaisten Sitz wohl anstehen, ließ sich diese Möglichkeit nicht leichthin ausschließen. Beim ganzen Volk steht Prof. Wahlen in hohem Ansehen, weil jedermann noch genug weiß, daß in erster Linie dank seiner Arbeit, dem „Plan Wahlen“, das Land während der Kriegsjahre sich in einem Maße selber versorgen konnte, wie man es vorher nicht hatte hoffen dürfen. Dergleichen außer acht zu lassen, können sich Politiker nicht leisten: der Brief diente als Alibi und war ja schlechterdings nicht falsch zu verstehen.

Antwort aus Rom traf ein, spät im November: man danke, hieß es darin, und jawohl, man würde eine Kandidatur annehmen.

STREIT UND HINTERGRÜNDE

Hatten schon vorher die andern, vorab die liberale und sozialistische Presse, auf die bäuerlichen Pläne ausgesprochen sauer reagiert, so regnet es nun offene Vorwürfe. Niemand möchte Dr. Siegenthaler das bundesrätliche Format absprechen; aber das Bessere sei der Feind des Guten, argumentiert man dort und fragt, ob ein Land es sich leisten könne, nicht den besten Mann an die höchste Stelle zu setzen. Und auf Bauernseite heißt es etwa, primo, Wahlen sei eben doch kein rechter Berner; zweitens habe der so lange im Ausland gelebt, daß... und zum dritten sei ihr Siegenthaler, „gesamthaft betrachtet“, vielleicht doch der bessere Mann - ja„ ja,. Aristpphobie.und Demokratie haben sich schon immer vertragen.

In Wahrheit dreht es sich gar nicht um mehr oder minder gute Eigenschaften. Heißt der künftige Bundesrat Wahlen, so wird man nicht umhin können, ihm das Volkswirtschaftsdepartement zu übertragen. Bestimmt würde er nicht zögern, seine Arbeit klar zu konzipieren, würde sich auch nicht scheuen, sein Konzept geltend zu machen. Da liegt der Hase im Pfeffer. Das fürchten gewisse Kreise wie die Kinder hierzuland am Nikiaustag die Rute.

Seit Jahren nämlich leistet sich das Schweizervolk einen Luxus: seinen Bauernstand, dem kaum noch 15 Prozent der Bevölkerung angehören. Daß für den Notfall die Schweiz einer leistungsfähigen Landwirtschaft bedarf, versteht sich von selber. Was dafür aufgewendet wird, beläuft sich auf ganz erstaunliche Summen; nach Berechnungen würde das Volk zu Weltmarktpreisen, ohne eigenen Bauernstand, jährlich um mindestens 600 (sechshundert) Millionen Franken billiger leben können. Wer wollte es dem Konsumenten verargen, wenn er zur Ansicht neigt, er sei nicht zum Lastesel geboren? Längst bilden Produktions- und Preisfragen ein zu dichtes Gestrüpp, und die stets erneuerten Forderungen des schweizerischen Bauernverbandes sind die Ursache. Die Folgen illustriert am besten der Witz: Vor einem Landgasthof stehen Autos parkiert, fünfzig Mercedes, ein Volkswagen. Und wieso? Weil dort der Tierarzt den Bauern einen Vortrag hält.

Begreiflich jetzt, weshalb dieser Ersatzwahl soviel Gewicht zukommt. Unschwer zu erraten, einfach zu formulieren, was sich viele Politiker und viele Bürger von Prof. Wahlen versprechen: Maß und Ziel. Aber wird die Wahl auf ihn fallen? — Will die Berner Bauernpartei nicht im Armesünderhemd dastehen, so darf sie nicht krebsen. Den andern Parteien zu trotzen und den .eigenen Genossen aus andern , Landest,eile|n ihren Willen aufzuzwingen, könnte sich bitter rächen. Vielleicht wird sie sich besinnen, das eine tun und das andere nicht lassen, den Räten zwei Kandidaten vorstellen, um sowohl dem Land zu dienen als auch das Gesicht zu wahren.

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