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Der diplomatische Januskopf

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In der New-Yorker liberalen Zeitschrift „The New Leader“ hat kürzlich Reinhold N i e b u h r, der bedeutendste protestantische Theologe Amerikas, unter der Ueberschrift: „The Janus Face of American Diplomacy“ zwei sich gelegentlich ergänzende, gelegentlich einander ausschließende Verhaltensweisen der amerikanischen Außenpolitik einander gegenübergestellt.

„Ob siedas selbst wissen oder nicht“, meint der Verfasser, „Eisenhower und sein Außenminister Dulles repräsentieren in Weg und Ziel der amerikanischen Diplomatie zwei verschiedene Grundauffassungen.“ Auf der einen Seite herrscht die Haltung jenes leicht sentimentalen, in der Welt um Verständnis werbenden Amerika vor, das anderen Nationen gern auf halbem Wege entgegenkommen will; auf der anderen selbstbewußte, energische, nicht selten selbstgerechte Intransigenz.

Natürlich sind solche Gegenüberstellungen nur halb wahr, wie alle Verallgemeinerungen. Dennoch, stellt Niebuhr fest, kann man ganz konkrete Verschiedenheiten bei bestimmten politischen Anlässen, wie sie zwischen der Einstellung Eisenhowers und der von Dulles bestehen, in den Konturen so ziemlich auf diesen Nenner zurückführen.

Meinungsverschiedenheiten über die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit bestimmter außenpolitischer Stellungnahmen gibt es in jedem Land. Aber die erwähnten Unterschiede, die sich des öfteren in der Haltung von Eisenhower und Dulles bemerkbar machen, kommen ja in der gleichen Administration vor, sind, sagt man, Ausdruck der gleichen Parteiideologie, des „dynamischen Republikanismus“, sind kurz gesagt, zwei Gesichter ein und derselben im gleichen Zeitpunkt betriebenen amerikanischen Diplomatie.

Daß hier ein Augurenabkommen vorliegt, gewissermaßen mit verteilten Rollen zu spielen, ist im höchsten Maße unwahrscheinlich. Der naiv-aufrechten Simplizität des Präsidenten-Generals liegen Machiavellismen dieser Art in ktnj.Wjise. Und da der innenpolitisch .maßgeblichen Einfluft ausübende, „Schattenkanzler“ ShriM$ria,n Aianii sich, ,-konsequent, yon, allen außenpolitischen Fragen ferngehalten hat, liegt auch kein Anlaß vor, seine Hand hinter den Kulissen im Spiel zu vermuten.

Es handelt sich hier schon um einen echten „Januskopf“ der amerikanischen Haltung in der Außenpolitik, bei dem die Namen der beiden Gesichter nur beispielhaften Charakter haben und überdies kein Parteiemblem tragen.

Aber ein Januskopf hat eben die eine Eigenschaft: seine zwei Gesichter sind untrennbar voneinander — was Ausgleich und Balance bedeuten, aber auch verwirrend wirken kann!

Im letzten Halbjahr zum Beispiel hat sich die amerikanische Außenpolitik einer teilweise recht scharfen .Kritik im eigenen Land und nicht zuletzt im Lager der herrschenden Partei gegenübergesehen. Der Hauptvorwurf war der, daß man stets improvisiere, taktischen Erwägungen des Tages zuliebe darauf verzichte, eine eindeutige, strategische Linie konsequent zu verfolgen, kurz — daß man keine profilierte Außenpolitik in der Diplomatie der Vereinigten Staaten zu entwickeln verstanden habe: meist sich gegen die Person des Außenministers wendend, aber im. Kern die These vom „Doppelgesicht“ überzeugend dokumentierend.

Die nicht nur strategische, sondern auch methodische Zweigleisigkeit der amerikanischen Außenpolitik — man kann durchaus auch mit gewisser Berechtigung dazu „Elastizität“ sagen — zeigte sich auch in der Deutschlandpolitik, wo nicht so sehr der Gegensatz „Isolationismus — Interventionismus“ eine Rolle spielte, als die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges übernommene Verpflichtung, gewissermaßen als Gendarm der Weltsicherheit zu agieren. Die dabei aufkommende Alternative zwischen „missionarischer“ und „strafender“ Funktion'hat gelegentlich zu etwas groteskem Frontwechsel geführt.

Hier muß zum Beispiel eine Einschaltung gemacht werden, den berüchtigten „Morgenthau-Plan“ bestreffend.

Die in dem Buch des Rooseveltschen Finanzministers enthaltenen Vorschläge zur völligen Desindustrialisierung Deutschlands waren niemals offizielle Regierungspolitik, auch wenn etwa innerhalb der USA-Besatzungsbehörden in Deutschland sich zeitweise Tendenzen zeigten, die in dem Bestreben, in Zukunft ein für allemai aie „aeutscne ueranr zu Dannen, der Min-tanz dieses Programmentwurfs nicht fernstanden.

Präsident Truman zum Beispiel hat am 16. Mai 1946 in seinen Memoiren notiert:

„ .,. weiterhin stellte ich fest, daß ich den sogenannten Morgenthau-Plan, das heißt die Umwandlung Deutschlands in einen reinen Agrarstaat, nicht billige. Schon als Senator hatte er mich ungünstig beeindruckt, und seit ich im Weißen Haus saß, gefiel er mir noch weniger. Ich hielt es für richtig, Deutschland zu entwaffnen, seine Militärmacht zu zerschlagen, die Kriegsverbrecher zu bestrafen und es bis zum Friedensschluß einer Alliierten-Kontrolle zu unterstellen. Aber die Rückbildung Deutschlands zu einem Agrarstaat billigte ich nicht; denn ein solches Vorgehen könnte seine Bevölkerung dem Hungertode ausliefern...“

In einer zweiten Notiz, anläßlich eines Besuchs Morgenthaus im Weißen Haus am 5. Juli, bei dem der Schatzkanzler darauf bestand, als Delegationsmitglied zur Potsdam-Konferenz mitgenommen zu werden, was Truman ablehnte, wird der Plan lakonisch zu den Akten gelegt: „ . .. Das war das Ende unserer Unterhaltung und das Ende des Morgenthau-Plans.“ '

Die unideologische Art, mit der so ein zuerst durchaus nicht ganz von der Hand gewiesenes Programm später als unzweckmäßig beiseitegeschoben wird (die Wendung um 180 Grad, die schließlich von der Absicht, den deutschen Militarismus ein für allemal mit Stumpf und Stiel auszurotten, bis zu der nachdrücklichsten. Bemühung um die deutsche Wiederbewaffnung führt, ist nur das sinnfälligste, aber keineswegs das einzige Beispiel dafür) hat merkwürdigerweise in den Vereinigten Staaten selbst kaum zu ernsthaften Gegensätzlichkeiten geführt.

Das hat nur zum Teil damit zu tun, daß der Durchschnittsamerikaner auch heute noch unter Politik vor allem die Regelung der ihn persönlich angehenden Fragen in der „Community“ versteht und außenpolitische Probleme ihr“im Grunde nur in .Krjsenzeittn „zu. isayv. .yfifv., mögen, sondern vor allem damit, daß man sich gerade in führenden Kreisen über die „Un-gleichzeitigkeit“ der zu lösenden Fragen soweit klar war, daß nüchternes Lernen am Objekt vorerst einmal ratsamer schien, als dogmatisches Festhalten an grundsätzlichen Standortbestimmungen.

So ist die erstaunliche Akzentverschiebung amerikanischer Außenpolitik in den letzten dreizehn Jahren, wenn man Deutschland als Beispiel nimmt (und'damit natürlich vor allem auch die Stellung zur UdSSR, deren Einschätzung sich von der eines Verbündeten immer mehr in die eines potentiellen Gegners verwandelte) unter anderem durchaus auch ein Ausdruck der komplexen Situation, in der sich eine Staatsführung befindet, die auf der einen Seite dem eigenen traditionellen Bild von gesellschaftlichen Beziehungen folgend handeln will, aber auf der anderen mit einer skh ständig verändernden Umwelt konfrontiert wird

Der „amerikanische Traum“ und die „un-amerikaniäche“ Realität in der Weltpolitik haben noch keinen Ausgleich gefunden. George F. Kennan, heute in Europa weit williger Gehör findend als im eigenen Land, hat das recht eindrucksvoll einmal dahingehend zusammengefaßt:

„ ... Amerikanisches politisches Denken1 wurde in der Nachkriegszeit von einer Art von Schizophrenie ergriffen. Es operierte auf zwei verschiedenen Ebenen, ganz getrennt voneinander und anscheinend nichts miteinander zu tun habend. Wir fanden heraus, daß wir in zwei verschiedenen Welten lebten: einer Welt, geistig klar und vernünftig, in der wir uns zu Hause fühlten, in der wir von Menschen umgeben waren, an die wir gewöhnt waren und auf deren Reaktionen wir uns verlassen konnten; und einer anderen Welt des Alpdrucks, in der wir so etwas wie ein gejagtes Tier waren, wo wir nichts anderes als Ueberleben im Auge hatten, jeden Nerv und Muskel dazu benutzend, am Leben zu bleiben. In einer dieser Welten galten noch die alten traditionellen Konzeptionen, und wir konnten dort noch, schien es, vom .amerikanischen Traum' geleitet werden. In der anderen gab es nur das Gesetz des Dschungels, und wir mußten sogar unseren eigenen traditionellen Prinzipien Gewalt antun — viele von uns jedenfalls hatten das Gefühl, das zu tun —, um uns für den erbarmungslosen Kampf, dessen Schauplatz sie ist, vorzubereiten.“

Und dann fragt er — man sieht, immer wieder kommt von irgendwoher die amerikanische Selbstbesinnung auf das doppelgesichtige Janus-symbol zurück —,. ob denn eigentlich wirklich die beiden Welten miteinander unvereinbar wären, ob sie nicht in eine sich ergänzende Beziehung zueinander gebracht werden können:

„Gab es keine Möglichkeit, um wieder Einheitlichkeit und Harmonie in die amerikanischen außenpolitischen Konzeptionen einzuführen?“

Es ist ein langer Weg, der noch einmal „nachzudenken“ ist — wenn wir zum Beispiel auch nur weiterhin für einen Augenblick bei der Deutschlandpolitik der USA verweilen, um die unsichtbaren Fäden zu verfolgen, die gesponnen wurden, um der hier verlangten Synthese zwischen „Idealismus“ und „Realismus“ Ansatzpunkte zu geben. Das Pathos verschwand fast spurlos. Wie. Wilsons „Vierzehn Punkte“ hat die Atlantic • Charter nie auch nur für einen Augenblick die Phantasie des Durchschnittsamerikaners beflügelt. Als davon nicht mehr die Rede war, hat das so gut wie niemand vermißt. /

Anderes hinterließ tiefe Spuren: Jalta, Potsdam ... ! i

Dje Vereinigten Staaten haben — und England und Frankreich folgten, wenngleich zuerst zögernd — nach der berühmten Stuttgarter Rede von Byrnes am 6. September 1946 mit der Konstituierung des Marshallplans und der Erklärung auf der Londoner Außenministerkonferenz im November des gleichen Jahres, daß man in den Westzonen jetzt eigene Wege gehen würde, eine solche „kalte“ Revision der Politik der deutschen „Reeducation“ eingeleitet, die sich zuletzt logisch aus der Losung General Eisenhowers ergeben hatte: „Wir kommen nicht als Befreier, wir kommen als Sieger!“

Man stimmte dem „Grundgesetz“ zu, ließ am 29. September 1949 Westdeutschland seine eigene souveräne Regierung bilden, beteiligte die Bundesrepublik an den Vorbereitungen zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, nahm sie schließlich in die NATO, erlaubte nicht nur, sondern befürwortete die deutsche Wiederaufrüstung: aus dem, Gegner war ein Verbündeter geworden. Hat sich damit der „Realismus“ endgültig in der amerikanischen Außenpolitik durchgesetzt?

„Während der letzten Jahre behaupteten die sogenannten nüchternen Realisten“, stellt John J. McCloy fest, „immer wieder, unsere Politik sei durch einen Mischmasch aus Moral, Sentimentalität und Idealismus vernebelt. Diese Männer fordern eine kalte Politik unter dem

Diktat der Macht und dessen, was sie ,natiow nales Eigeninteresse' nennen.“

Bestimmt dieser Typ der Politiker heute die Außenpolitik der USA?

So scharf gestellt, muß die Frage wohl in der Schwebe bleiben.

Die Vereinigten Staaten befinden sich heute auf einem Experimentierfeld in der Außenpolitik, das zwischen „Idealismus“ und „Realismus“ liegt (in beiden Fällen gehören die Anführungszeichen durchaus dazu.'). .- x

Die heutige amerikanische Diplomatie scheint immer noch häufig (oder etwa definitiv?)' als Sprachrohr militärischer Notwendigkeiten zu dienen. An die Stelle der Aushandlung von Interessen treten immer häufiger Drohung und Gegendrohung: Machtgefühl ersetzt nicht selten Rechtsgefühl. Acheson trieb noch „Außenpolitik“ im alten Sinne; Dulles (und der Kreml) treiben weitgehend „Sicherheitspolitik“, was keineswegs das gleiche ist. Darauf wird im Zusammenhang mit den Fragen der Auf- oder Abrüstung in einem späteren Artikel zurückzukommen sein.

Ein ehemals glückliches Land

Argentinien — ungeschminkt

Von Dr. E. von H O F M A N N S T H A L, derzeit Buenos Aires

Ich gehe durch die Straßen eiller wohlbekannten Stadt, dereft große Paläste und stillen Winkel mich an die glücklichen Stunden dieses LantffS-Vrinhern. Vor 3 5 Und vor 20'JahfelV war es ein glückliches Land, dessen unerschöpflicher Reichtum zu den kühnsten Zukunftshoffnungen berechtigte. Auch ohne die Glücksfälle des Krieges — ja, für dieses Land hätten die Leiden anderer Glücksfälle werden können — hätte Argentinien das reichste Land zwischen Feuerland und Rio Grande, mit ihnen zwischen Feuerland und Alaska werden können.

Da kam ein Erdbeben. Kein geologisches, sondern ein politisches. Die Bocksprünge der Geschichte warfen ein Paar an die Spitze des Landes, das es mit seinen Anhängern, dank der Fortschritte moderner Staätstechnik, noch gründlicher zugrunde richtete als der Faschist Rozas zwischen 1829 und 18 52. Die Milliarden Pesos, die eine Ausbeutrgruppe aus de Bevölkerung herauslockte, herausschwindelte, herauspreßte, die dem Land abgehen und mit denen jetzt von außen Krieg gegen das Land geführt wird, wären nicht das Aergste. Das Aergste ist, daß mit den Methoden der Demagogie der Arbeitswille dieses Volkes, das einst als das Preußen Südamerikas galt, untergraben wurde. Die Arbeitermassen wollen nicht mehr möglichst viel erzeugen und möglichst viel vom erzeugten Produkt für sich haben, sondern sie wollen nur soviel Geld wje möglich für sowenig Arbeit wie möglich bekommen. Mit dieser von Perön für seine Ziele erzeugten Einstellung kann ein ausgeplündertes Land nicht aufgerichtet, der Inflation nicht entgegengewirkt werden. Die Massen, von denen der eine Teil links nach Moskau, der andere rechts nach Ciudad Trujillo, dem augenblicklichen Arbeitszentrum Peröns, schielt, bekommen zwar immer mehr Pesos, aber diese werden immer weniger wert, und das ganze Land, einst das reichste, bestverwaltete, aussichtsreichste Land Südamerikas, geht zugrunde. f

Die militärische Zwischenregierung suchte dieser Entwicklung, mit halben Mitteln und auf halben Wegen, entgegenzuarbeiten, hatte aber nicht die Zivilcourage, der kommenden, „vom Volke erwählten“ Regierung vorzugreifen. Der kluge und ehrgeizige, aber gewiß nicht große Frondizi ist mit Hilfe von perönistischen und kommunistischen Stimmen an die Spitze gekommen und ist nun der Gefangene dieser Stimmen und der Methoden, nach denen sie rufen. Er wird sich wohl hüten, Perön zurückkommen zu lassen, was sein eigenes Ende bedeuten würde. Dafür öffnet er dem perönistischen System und dessen Handwerkern die Hintertüren, durch die die Seuche hereindringt und das Land vergiftet.

Das Ergebnis? Es ist kaum möglich, Lesern, die die eigentümliche' Atmosphäre1 Südamerikas uncf'das“' besondere ' Klima 'Argentiniens“ nicht kennen, den' unrationellen Mechanismus ihrer Staatsapparate und die Kluft zwischen den wenigen sehr Gebildeten und Gescheiten, die die Geschicke ihrer Länder immer weniger bestimmen, und den vielen, die nur schreien können und immer mehr zu reden haben, begreiflich zu machen. Das würde eine soziologische Abhandlung erfordern. Vielleicht können aber einige Momentaufnahmen charakteristischer Erscheinungen etwas zum Verständnis der verworrenen Lage dieses einst so glücklichen, nun verunglückten Landes beitragen.

Will man in der Millionenstadt Buenos Aires . eine Straße kreuzen, so hat dies Wagnis symbolische Bedeutung. Es gibt nur drei Verkehrslichter in der ganzen Stadt („sie erzeugen ja doch nur Unfälle, weil sie niemand beachtet“) und nicht, wie in dem ärmeren Santiago de Chile, Polizisten an jeder Kreuzung. Du mußt dich also in das Gewirbel von Autos, Omnibussen, Lastwagen, Motorrädern stürzen, in der Hoffnung, daß du ihnen oder sie dir schon im letzten 'Moment ausweichen werden. Meist gelingt das Wagnis, aber es ist ein Hasardspiel. So ist es auch im Geschäftsleben. Da gibt es keine Voraussicht, keine ernste Berechnung, denn die sorgfältigste Ausarbeitung wird durch ein Regierungsdekret, das auch rückwirkend sein kann, oder durch ein Schmuggelgeschäft oder durch die Laune eines Beamten umgeworfen. Da stürzt man sich eben ohne viel Rechnen ins Ge-. schaff und kommt oft, aber nicht immer, schadlos heraus, und oft fälscht die Inflation einen Schaden in Nutzen um.

Diese Inflation, die nicht schleicht wie in den Vereinigten Staaten und nicht galoppiert wie in Brasilien und Chile, aber mit der Sicherheit eines Pinzgauer ' Rosses unaufhaltsam fortschreitet, verfälscht alles. Der Preis von heute ist schon nächste Woche falsch. Untergrundbahn, Omnibusse, Inlandpost kann man für den Bruchteil eines Schillings benützen, Taxi kosten nur ein paar Schilling; das sind aber subventionierte oder diktierte Preise, durch die das Volk über den Wert des Pesos getäuscht werden soll. Die kleinen Fälschungen merkt selbst der Reisende, aber die großen Fälschungen, durch die Bilanzen, die alle falsch sind, weil sie Pesos von 60 Groschen und solche von 10 Schilling zusammenwerfen, Gewinne vortäuschen und der Besteuerung aussetzen, die in Wirklichkeit Kapitalsverluste sind, spürt nur der Einheimische, direkt oder indirekt, auch wenn er sie nicht versteht oder nicht verstehen will.

Inflation plus Korruption wirkt aber noch viel verderblicher. Vielleicht ist es nicht gerecht, ein so grobes Wort zu gebrauchen. Süd- lieh vom Rio Grande wird vieles anders beurteilt, was im rauheren Klima rauher gewertet wird. Warum soll das unzulängliche Gehalt eines Beamten nicht durch Spenden von jenen, die seine mühevolle Tätigkeit in Anspruch nehmen, aufgebessert werden? Er wird sie dann nur besser bedienen. Wenn der gewöhnliche Bürger groteske Zölle und Abgaben entrichten muß, um Autos oder Kühlschränke einführen zu dürfen — so daß selbst ein gebrauchter Chevrolet oder Volkswagen fünfmal soviel kostet als ein neur in den Vereinigten Staaten oder in Deutschland —, warum soll nicht ein verdienter General oder Sektionschef reich werden dürfen, weil ihm die Einfuhrerlaubnisse ins Büro regnen? Das kostet doch dem Staat nichts, und das Staatsorgan ~ wird glücklich.

Das alles sind Symptome einer Mentalität, für die früher nur Ansätze vorhanden waren, die aber in neun Jahren gemischter Unterdrückung und Aufhetzung sich üppig ausgewachsen haben. Wenn die Regierung predigte,' daß jeder Arbeitnehmer vom Dienstgeber ausgebeutet wird und sich nur sein Recht selbst suchen soll, so sagt sich der Staatsbeamte, der weniger gezahlt bekommt als der Privatbeamte, daß er sich auch sein Recht selbst nehmen muß oder, genauer, daß es sein Recht ist, zu nehmen, was er kann. Während vor Perön ein harmonisches, wenn auch patriarchalisch durchsetztes Verhältnis zwischen den Volksschichten bestand, gefestigt durch die angeborene Höflichkeit des- Argentiniers, haben diese neun Jahre sozialer Hetze eine ausgesprochene Feindseligkeit zwischen ihnen hervorgerufen, die mit sozialoiden, gelegentlich sogar kommunistischen Schlagworten verbrämt wird. Natürlich ist es schwer, so verseuchte Volksschichten wieder zu der für die Aufrichtung der ausgebeuteten Volkswirtschaft nötigen Arbeit zu erziehen, wenn es ihnen noch in den Ohren klingt und gelegentlich frisch in die Ohren dringt, daß sie sich damit nur der Ausbeutung einer Herrenschichte ausliefern.

Ist aber der Unternehmer gar ein Ausländer, dann ist er ein doppelter Ausbeuter und jedes Mittel gegen ihn gerechtfertigt. Wie hoch hin- ,' auf diese'geistige Inflation'gedrungen ist. be-weist, dal) ganz ernste Juristen Argumente für das' juristische Täschenspleierkunststück finden, mit dem man die CADE, eines der besten ausländischen Unternehmen, dem Argentinien durch Jahrzehnte Licht und Kraft zu billigen Preisen zu verdanken hatte, eingesteckt hat. Angeblich soll sie vor 20 Jahren bei der Verlängerung ihrer Konzession Mittel verwendet haben, die damals unerläßlich waren, um irgendeine beflördliche Tätigkeit zu erzielen, aber gegen den neuentdeckten behördlichen Puritanismus verstoßen (siehe oben), so daß man die Konzessionsverlängerung jetzt rückwirkend ungültig erklären will. Man kann sich vorstellen, wie solche Kunststücke ausländisches Kapital trotz seines kurzen Gedächtnisses einwanderungsfreudig machen.

Daher hat der ganz kluge Präsident Frondizi zu einem anderen Kunststück gegriffen, um die eingefrorene Oelfrage aufzutauen. Er weiß natürlich, daß das Land sich bei steigendem üen-zinbedarf an der Benzineinfuhr verblutet und daß das staatliche Oelmonopol YPF seine Unfähigkeit zur Erschließung der Oelvorkommen in jahrzehntelangem, heißem Bemühen restlos bewiesen hat. Da er aber fremden Gesellschaften die noch unentdeckten heimischen Oelvorkommen nicht „ausliefern“, also das Wort „Konzession“ nicht in die Feder nehmen darf, macht er eine Reihe verwickelter Verträge, die auf folgendes hinauslaufen: Die ausländischen Gesellschaften arbeiten für die YPF im Lohn, den sie sich aber selbst aus der Erde bohren und vom Produkt abziehen dürfen. Der Staat bleibt also der Herr, übernimmt aber das Risiko oder, genauer, verspricht, es zu bezahlen. Sofort erhebt sich ein Geschrei, daß diese Verträge für die Ausländer zu günstig seien — auf dem Papier scheinen sie auch wirklich günstiger als Konzessionen —, und jeder Kenner argentinischen Ree1 ts und argentinischer Politik kann mit Sicherheit prophezeien, daß diese Verträge in dem Augenblick unter irgendeinem Vorwand gebrochen werden, in dem sie sich für die Ausländer günstig auszuwirken beginnen sollten. So kann man Kapital nicht hereinlocken. Inflation, Korruption und Rechtsunsicherheit oder, richtiger, Sicherheit des Unrechts sind doch zuviel.

Dazu kommt, daß ein erheblicher und vor allem lauter und energischer Teil des Volkes Eva preist und Perön ruft. Er kann sich jetzt nicht mehr auf Unkenntnis berufen,'wie man es bei Mauthausen und Auschwitz getan hat. Jetzt weiß jedes Kind, wie Perön und seine Scharen das Land ausgeplündert, wie „Evita“ durch Wohltätigkeitsschwindel ungeheure Summen erpreßt und zum großen Teil in Schmuck und Pelzen angelegt hat, daß Perön eine nicht nur für argentinische, sondern auch für europäische Begriffe ungeheuerliche Vorliebe für die unreife Jugend weiblichen Geschlechts betätigte, und man zeigt sich seine „Erholungsstätten“, die die Hirschparks früherer Duodezfürsten vertraten. Das alles macht nichts. Wenn man nur etwas von den Milliarden Pesos, die er ins Ausland geschleppt hat und mit dnen er nun im Inland den Bürgerkrieg finanziert, in die eigenen Taschen lenken könnte! Da gibt es Stadtteile in Buenos Aires, in denen die Häuser mit Hammer und Sichel bemalt sind, und andere, in denen sie mit „Esjebe Evita! — Perön kehre zurück.'“ bemalt sind. Alles unter den Augen, mit stiller Duldung der Frondizi-Regierung,

Es ist kein Trost, sich zu sagen: „Nur die allergrößten Kälber wählen ihre Metzger selber“, denn er soll doch auch für die anderen gewählt werden, die neun Jahre unter ihm gelitten haben, jene — man muß es leider fürchten — Minderheit, jedenfalls Minderheit an Stimmgewalt und Organisationstalent, die einen Sisyphuskampf dafür führt, um ihr Vaterland, das Land mit der liberalen und religiösen Tradition Belgranos und Morenos, dieses schöne, liebe, einst so blühende Argentinien, wieder auf seine frühere wirtschaftliche und kulturelle Höhe hinaufzuheben. Dem freundlich gestimmten Fremden tut das Herz weh, wenn er merkt, wie wenig dies Wirken gewertet wird, wie wenig man auf diese echten Argentinier hört, wie gering deren Chancen sind, ihre Heimat zu retten. Wohl sind schon öfter in der Weltgeschichte Wunder geschehen, so kann man Argentinien und mit ihm Südamerika nichts Besseres wünschen als ein baldiges Wunder.

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