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Randbemerkungen ZUR WOCHE

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IWIEN WAR IN DIESEN TAGEN der Schauplatz einer einzigartigen. Demonstration des altösterreichischen Kosmos, von der hier zu berichten ist: weil sie nur wenige miterleben konnten und weil sie für alle kaum je wiederkehren wird. Im Schubert- Saal des Konzerthauses hatten sich zur Feier des neunzigsten Geburtstages von Alexander Spitzmüller- Harmersbach Freunde des Geehrten und Persönlichkeiten aus jenen Räumen und Reichen versammelt, denen jener gedient hatte: als Mann der Wirtschaft, als Minister, als Fachmann der Finanz und Verwaltung, der Wissenschaft, der Kunst Und Musik. Die Revue der Vorträge und Darbietungen ,— von Mautner- Marl hof und Josef Gregor bis zur Wohlgemut und Anday, zur Seidler und zu Aslan zeigte in einer harmonischen Geschlossenheit, wie sie Europa nach dem letzten Zeitalter der „Großen Form“, des Barocks und der Klassizität verlorenging, auf, welchen weiten Umkreis einmal europäische Existenz umschloß: da war also die Rede von der Verantwortung hoher staatspolitischer Entscheidungen (der jahrzehntelange Kampf Spitzmüllers als Finanzminister um den österreichisch-ungarischen „Ausgleich“, zuletzt seine Rücklegung der Kabinettsbildung 1916), da war zu sprechen von den Staatsmännern, die Österreich-Ungarns letzten Weg bestimmten; da klang aber auch, und ebenso notwendig, das Wort der hohen Kunst auf, der Spitzmüller als zielbewußter Förderer der Staatsbühnen, als Freund Ger- hart Hauptmanns und — als Chorist, etwa in der Matthäuspassion, gedient hatte. Bis zum heutigen Tage dient: das stellte der Greis selbst unter Beweis, als er, körperlich gedrückt unter aller Last der langen schweren Jahre, geistig jugendfrisch wie wenige unter den heute „Jungen“, das Vortragspodium bestieg, um hier noch einmal Rechenschaft abzulegen für die Werte und Wirklichkeiten seines Lebens, Bekenntnis auch zu jenen Persönlichkeiten, die ihm von führender Bedeutung erschienen. Homer und Shakespeare (quellfrisch in der Ursprache zitiert), dazwischen die Staatsmänner der donauländischen Mitte, zuletzt die Evangelien und Psalmen: wer mußte da nicht zurückdenken an die universalen Geister unseres Kulturraumes, an Goethe (hier beschworen durch eine Tasso-Szene aus dem Burgtheatergastpiel in Weimar vor 20 Jahren, das auf die Initiative Spitzmüllers hin zustande kam), an Leibniz auch, an den das nahe Belvedere, Prinz-Eugen-Schloß, gemahnt Dazu tritt, nicht zufällig, das Gedenken an jene englischen Staatsmänner, die in oft heißester politischer Schlacht nicht ihres Klassikers in der Rocktasche vergaßen. Spitzmüller, der Freund und Vertraute der englischen und französischen Dichtung, ist wohl der letzte lebende Zeuge jener alteuropäischen Kultur einer hohen Einung von klassischer Bildung und politischem Humanismus, die uns Nachgeborenen entrückt ist Nachdenklich verließen die Zeugen dieser Bekundung Alteuropas den Saal und wünschten, daß jene, die heute von Moskau über Straßburg bis Washington Pläne schmieden für das Europa von morgen, die Chance hätten, zu sehen, was Europa einst war; ehe es in jene Zwischenzeit eintrat, die um ihr eigenes Gesicht nicht zuletzt so schwer ringen muß, weil sie den Blick für die echte Problematik und Größe der Vergangenheit verloren hat.

DER NUTZWERT DER PARTEIPROPAGANDA — jeder Parteipropaganda! — steht schon lange in keinem Verhältnis mehr zu dem Aufwand, der mit ihr getrieben wird. Ungeheure Papiermassen bedecken die Mauern der Bundeshauptstadt und der Städte der Länder, Hektoliter von weißer Ölfarbe wurde auf den Gehsteigen verschmiert, Schwärme von Schaukasten — an denen insbesondere die Besatzungsmächte eine fast rührende Freude zu empfinden scheinen — haben sich an den Fassaden niedergelassen. Das verwittert, verschmutzt, macht das Stadtbild häßlich, ruiniert den Hausverputz und wird, ach, so wenig beachtet. Und wenn es beachtet wird, so geschieht es bestenfalls mit Ironie, schlech- testenfalls und meistens aber mit Ärger… Somit freute sich die Öffentlichkeit von Herzen, als sie von dem Antrag im Gemeinderat hörte, der energische Maßnahmen gegen die „Verschandelung“ Wiens forderte. Sie war freilich auch etwas entsetzt, als sie vernahm, daß die Gemeinde in den letzten zwei Jahren fast 40.000 Schilling für Säuberungsaktionen ausgeben mußte. 40.000 Schilling, die ja schließlich aus Steuergeldern gedeckt werden! Ausgegeben nur für das Abkratzen häßlicher bedruckter Papiere, für das Übertünchen kurzlebiger Parolen. Das ist viel Geld; kein Wunder, daß sich der Antrag im Gemeinderat sofort einer bedeutenden Popularität erfreute. Möge er mit großer Mehrheit angenommen, mögen die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen auch auf die Propaganda der Alliierten ausgedehnt werden können — und, vor allem, mögen sich ihn nicht nur die ganz dunkelroten Propagandasekretariate zu Herzen nehmen.

ALLEN ERWARTUNGEN ENTGEGEN scheint sich die Regierung Pinay zu stabilisieren. An ihrer Wiege standen keine guten Feen. Das französische Parlament hatte Pinay zunächst in der Erwartung unterstützt, er werde ohnedies in Kürze das Schicksal seiner Vorgänger teilen. Die öffentliche Meinung dagegen gab ihm einen aufrichtigen Vorschuß an Vertrauen. Sie erkannte und anerkannte den ehrenhaften Geschäftsmann, der ein vorbildliches Familienleben führt und ausübender Katholik ist. Daß er kein Mann aufregender Konzepte ist und in klarer Form Gedanken von natürlicher Logik vertritt, machte ihn sympathisch. Denn man war der zünftigen Politik und ihrer Finasserien müde und suchte festen Ankergrund. Pinay verstand es, ihn für das Regierungs- und Staatsschiff zu nutzen. Insoweit hatte die unglückliche Innenpolitik der letzten Jahre den Boden für einen Mann des „gesunden Menschenverstandes“ vorbereitet. Pinays Programm der echten Ersparungen, der Förderung von Erzeugung und Ausfuhr, der Hebung des wirtschaftlichen Vertrauens sprach für sich und für ihn. Und neben den ökonomischen Früchten beginnen nun auch die politischen zu reifen. Die Senatswahlen hatten bereits Pinay einen eindeutigen Erfolg gebracht. Der Abschluß des Bonner Vertrages folgte. Er rief die Kommunisten auf den Plan, die sich, wo dies nützlich sein kann, an nationaler Intransigenz nicht gern überbieten lassen. Pinay griff zu — fester als man erwartet hatte. Und manche, die sich um de Gaulle geschart hatten, weil sie ihm allein eine „starke Hand“ zugetraut hatten, sehen, daß auch ein Politiker der Mitte der Entschlossenheit nach links fähig ist. Der Vertrag mit Westdeutschland wird nun auch ein Prüfstein sein, ob das Parlament der Realität oder der politischen Suggestion zu folgen gewillt ist. Das Land selbst ist sich darüber im klaren —- und in den Filmtheatern ertönt Applaus, wenn sich Pinay auf der Leinwand zeigt.

ZWANZIG VON DEN SECHZIG MITGLIEDSTAATEN der UN — also ein volles Drittel — gehören der mittel- und südamerikanischen Gruppe an, wiewohl nur zehn Prozent der in dieser Organisation vertretenen Bevölkerung in Mittel- und Südamerika wohnen. Die wendigen und weltoffenen Diplomaten dieser Nation haben sehr wohl die großen politischen Möglichkeiten erkannt, welche ihnen das Weltforum der Vereinten Nationen bietet. Ihre Staaten haben, wenn sie gemeinsam Vorgehen, die Möglichkeit, ein Veto auszuüben, denn die Charta verlangt bei den wichtigsten Entscheidungen eine Zweidrittelmehrheit der Vollversammlung. Tatsächlich stimmen sie meist in gleichem Sinne, wiewohl sie außenpolitisch verschiedenen Lagern zugehören. Denn sie sind wohl alle von den USA weitgehend wirtschaftlich abhängig, stehen aber weltpolitisch durchaus nicht alle in deren Lager. Ihre antikolonialen Affekte und Aspirationen nähern sie in manchen Punkten den asiatischen Ländern. Guatemala möchte sich Britisch-Honduras eingliedern, Argentinien die britischen Falklandsinseln, das Erdölland Venezuela sympathisiert mit dem Iran, Panama — durch dessen Gebiet die zweite künstliche Weltschiffahrtsader führt — mit Ägypten. Stark sind die kulturellen Bindungen zu den Muttemationen Spanien und Portugal. Während schließlich das peronistische, USA-feindliche Argentinien deutlich nach der Vorherrschaft in seinem Raum strebt und durch den Umsturz in Bolivien einen neuen Stein auf seinem Schachbrett gewonnen hat, ist eine neue Gruppierung, die „Lateinische Union“, auf den Plan getreten, die ungefähr eine „Dritte Kraft“ darstellt. Sie steht unter der Führung von Frankreich und Brasilien und lehnt sowohl die Peronschen Ansprüche wie das Dominieren des USA-Einflusses ab. Wie stark der Gedanke dieser Union bereits ist, zeigt sich, als die meisten, sonst „antikolonialen“ südamerikanischen Delegierten bei den UN in der Marokkofrage mit Frankreich gegen Ägypten stimmten. Eine Kooperation der zehn islamitischen Länder mit den lateinamerikanischen steht also noch nicht vor der Türe — sie könnte aber dem „Westen“ erhebliches Kopfzerbrechen bereiten.

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