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Ordnung und Fortschritt?

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„Ordern e Progresso” — Ordnung und Fortschritt ist der nationale Wahlspruch der „Bundesrepublik von Brasilien”, der dem Besucher vor allem in der neuen Hauptstadt Brasilia von allen Monumenten, vor allem in der Vorhalle des Kongreßgebäudes, dem Gegenstück zum Kapitol in Washington, in die Augen springt.

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„Ordern e Progresso” — Ordnung und Fortschritt ist der nationale Wahlspruch der „Bundesrepublik von Brasilien”, der dem Besucher vor allem in der neuen Hauptstadt Brasilia von allen Monumenten, vor allem in der Vorhalle des Kongreßgebäudes, dem Gegenstück zum Kapitol in Washington, in die Augen springt.

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Neuerdings wird erfreulicherweise auch Erziehung und Unterricht großgeschrieben, die erste Voraussetzung für eine wirklich fortschrittliche Entwicklung. In den zehn Jahren der Militärregierung und seit der Wiederherstellung geordneter Verhältnisse an den Hohen Schulen sind die Inskriptionen trotz der Einführung strenger Aufnahmsprüfungen, vielleicht gerade wegen derselben, um nahezu 600 Prozent gestiegen; man rechnet im nächsten Jahr mit rund 1 Million Hochschulstudenten1.

Im übrigen sieht Brasilien mit wohl fast allen Staaten der Alten und Neuen Welt dem beginnenden Jahre mit einiger Sorge entgegen. Nach Ablauf der vierjährigen Amtsperiode des Präsidenten und dem am 15. März 1974 eingetretenen Führungswechsel ist ein neues Kapitel aufgeschlagen worden, das schon auf seiner ersten Seite Akzentverschiebungen zeigt. Der von deutschen Einwanderern abstammende neue Präsident Ernesto Geisel — früher Direktor des staatlichen Erdölkonzerns „Petrobras” — hat ein schweres Erbe von seinem Vorgänger General Medici übernommen, der ihn im Namen der Militärjunta dem Wahlkollegium vorschlug. Von insgesamt 503 Wahlmännem fielen 400 Stimmen auf ihn, gegen 76 Stimmen der Opposition bei 27 Stimmenthaltungen. Das Wahlkollegium ist aus Abgeordneten des Kongresses, Senatoren und Delegierten der 22 Bundesstaaten gebildet.

Präsident Medici hatte mit eiserner Hand sein Konzept durchgezogen, oft auch gegen die gewiß nicht grundlosen Proteste zum Schutz der Menschenrechte, die immer wieder in der internationalen Presse Schlagzeilen machten. Sie kamen von der einzigen artikulierten außerparlamentarischen Opposition, nämlich, wie auch schon in vergangenen „liberalen” Zeiten, vom sozial engagierten Teil des katholischen Episkopats. Ihm hatten sich im letzten Jahr auch US-amerikanische kirchliche Kreise angeschlossen. Sie forderten Einstellung der amerikanischen Wirtschaftshilfe für Brasilien — und natürlich auch Chile. Nun ist das allerdings gewiß keine gefährliche Drohung. Nach offizieller amerikanischer Angabe betrug nämlich die amerikanische Wirtschaftshilfe für Brasilien im Fiskaljahr 1972 — 12 Millionen Dollar, ungefähr gleich viel wie für Guatemala mit 6 Millionen Einwohnern oder Liberia mit 1,5 Millionen, weniger als ein Viertel dessen, was für Bolivien mit rund 6 Millionen Einwohnern aufgewendet wird.

Ob gerade dieser Vorschlag auf die oft überspitzt national denkenden Brasilianer jeder Hautfarbe und politischen Schattierung Eindruck macht, ist fraglich; zumal angesichts der permanenten „Revolution” im benachbarten Argentinien. Tatsache ist, daß es zur Zeit weder Monto- neros noch Tupamaros oder überhaupt nennenswerte Gruppen von Stadtguerilleros in Brasilien gibt. Das besagt natürlich nicht, daß ihr Wiedererscheinen für immer gebannt ist. Auch auf deren Rechnung geht bekanntlich ein gerütteltes Maß von politischer Erpressung, von Torturen, und vor allem von Menschenleben.

Präsident Medičis große Erfolge lagen auf wirtschaftlichem, aber auch schul- und sozialpolitischem Gebiet, nicht zuletzt auch in der Säuberung der Verwaltung von Korruption und Protektionswirtschaft in den oberen Rängen. Dem vor allem verdankte er seine unleugbare Popularität; dies, trotzdem er an seinem- Finanzminister Professor Delfim Neto festgehalten hatte, der ob seiner wiederholten Feststellung, daß „der Kuchen zuerst auszubacken sei, bevor er verteilt werden könne, und dies werde nicht vor 1980 sein”, auch in den eigenen Reihen im Mittelpunkt sachlicher Kritik stand.

Allerdings erfüllte sich eine Hoffnung nicht, die Präsident Medici bei seinem Amtsantritt aussprach: daß er vor seiner Amtsübernahme in vier Jahren die volle Demokratie wiederherstellen könne. Später nach der Fortdauer des gegenwärtigen Regimes befragt, erwiderte er, es werde bleiben, solange es nötig sei. Das war, bevor, das restaurierte ; peronistische Regime sich genötigt sah, in Argentinien den Ausnahmezustand zu verhängen.

Zu den spektakulärsten Erfolgen seiner Amtszeit gehört die Fertigstellung der im März 1974 erfolgten Straßenbrücke von Rio de Janeiro : über den Golf von Guanabara nach Niteroi, die mit einer Länge von 13,2 km, davon 9 km über dem Golf, und einer Breite von 6 mit sechs Fahrspuren, sowie einer Höhe bis zu 72 m über dem Wasser zu den größten Brücken der Welt zählt Ferner die Fortführung des großen Projekts. der Amazonas-Straße; die Rodung und Erschließung weiter Flächen für die Landwirtschaft; wesentliche. Verbesserungen auf dem Gebiet der Schul- und Erwachsenenerziehung und des Gesundheitswesens.

Schließlich ist auf Grund eines Ab- . kommens mit dem benachbarten . Paraguay im Zuge des Bemühens um zusätzliche Energieversorgung ein Wasserkraftkomplex am oberen Paranä-Fluß bei Itaipu, 17 km nördlieh der argentinischen Grenze, im Bau, der bis 1980 vollendet sein soll mit einer geplanten Jahresproduk- : tion von 60 Milliarden kW2.

Wie alle südamerikanischen Wäh- : rungen ist auch die brasilianische eine reine Inlandswährung. Der Cruzeiro steht derzeit im Verhältnis 7,10 zum Dollar, wobei der Kurswert des Dollars auf dem schwarzen Markt etwas höher liegt. Die Preise steigen, die Löhne und Sozialleistungen hinken nach. Der forcierte Export von Fleisch und Milch führte gelegentlich zu Verknappungen auf dem Inlandsmarkt. Importgüter sind zum Teil mit prohibitiven Zöllen belegt. Bei aller Bedürfnislosigkeit der breiten Masse glaubt man doch gelegentlich ein Grollen zu vernehmen, von dem manche meinen, daß es bei anhaltender Teuerung zu lokalen Explosionen führen könnte und jedenfalls Stoff zu Agitation gibt.

Dazu kommt, daß die Erschließung des natürlichen Reichtums des Landes an Rohstoffen und der Bau immer neuer Industriezentren rasanten Fortschritt macht. Großinvestitionen stammen aus den USA, der BRD, Canada, der Schweiz, Großbritannien und Japan, dem Umfang nach in dieser Reihenfolge; dabei hat in jüngster Zeit Japan stark aufgeholt, so daß für Japans Investitionstätigkeit Brasilien nach den USA und Großbritannien heute bereits der drittgrößte Markt ist. Von einer Überfremdung kann trotzdem nicht gesprochen werden, da die Mehrheitskontrolle in brasilianischen Händen liegt und staatliche Planung und Führung der industriellen Entwicklung unangetastet bleiben.

Natürlich gibt es eine Kehrseite der Medaille, mit der Medičis Nachfolger, Präsident Geisel, zu rechnen hat. Auf dem Gebiet der besonders wichtigen Landreform hat das Regime Medici sein Plansoll nicht erreicht, und manches, was auf diesem Gebiet in Angriff genommen wurde, erwies sich bislang als Fehlschlag. Trotz aller Versuche der Erschließung weiter, dünn besiedelter Gebiete im Innern des Landes hält die starke Konzentration der Bevölkerung entlang der über 4500 Meilen langen atlantischen Seeküste und ihres Hinterlandes an, mit Ausnahme etwa des Bundesdistrikts rund um die neugeschaffene nationale Hauptstadt Brasilia. Der Norden und Nordosten des insgesamt fast 9 Millionen Quadratkilometer umfassenden Territoriums mit seinen heute 104 Millionen Einwohnern gehören nach wie vor zu den ausgesprochenen Notstandsgebieten.

Der neue Präsident Ernesto Geisel dürfte es in mancher Hinsicht schwerer haben als sein Vorgänger; einmal wegen der nach zehn Jahren unvermeidlichen Abnützungserscheinungen des Regimes, das jedoch hinsichtlich Stabilität und Effizienz sich von anderen lateinamerikanischen Staaten immer noch vorteilhaft abhebt. Dann auch wegen der internationalen Wirtschaftslage, deren Rückwirkungen auf Brasilien nicht ausbleiben konnten. Weniger als ein Viertel des Ölverbrauchs wird von der eigenen Produktion gedeckt; der Ausfall wurde bisher durch massive Importe, vornehmlich aus Venezuela, Bolivien und Nigeria ausgeglichen. Langfristige Abkommen sicherten brasilianische Ölbohrungen großen Umfangs in Ägypten und Libyen. Daneben spielt der forcierte Ausbau von Wasserkraftwerken im Konkept der brasilianischen Energiepolitik eine große Rolle. Die laufenden Preiserhöhungen und die allgemeine Teuerung bewirken wie überall wachsende Unzufriedenheit (zumal in den städtischen Ballungszentren), die jedoch noch nirgends zu Unruhen führte. Die Beschneidung der persönlichen Freiheitsrechte und der zweifellos noch immer herrschende Polizeiterror haben entgegen sonstiger Erfahrung noch nicht zum Gruppen-Antiterror lateinamerikanischen Musters geführt. Das vermag verschiedene Gründe haben: sie liegen einmal in dem von den Kreolen (amerikanische Nachkommen der spanischen Einwanderer) verschiedenen Volkscharakter der Brasilianer, deren Geschichte keine Unabhängigkeitskämpfe vom Mutterland kennt. Brasilien erreichte seine Unabhängigkeit bekanntlich kampflos durch die Erklärung Dom Pedros I. aus dem Haus Braganęa. Das im Lande unvergessene Wirken seiner Gattin Dona Leopoldina aus dem Haus Österreich, Tochter des Kaisers Franz I., wurde in einer kürzlich erschienenen dokumentierten Biographie3 gewürdigt. Auch der Übergang zur Republik war 1889 durch eine Proklamation der Armee ohne jedes Blutvergießen erfolgt. Im 20. Jahrhundert wurden zwar wiederholt Revolutionen ausgerufen und durchgeführt, so 1930 und 1964, aber es war nie zu einem Bürgerkrieg gekommen; die ausschlaggebende politische Ordnungskraft waren immer die führenden Berufsmilitärs gewesen.

Dann aber bleibt zu beachten, daß Armee und Polizei streng geschieden sind. Die Armee fällt in die Bundeskompetenz, während die Polizei zur Zuständigkeit der Gliedstaaten (Staatspolizei) und der Gemeinden (Kommunalpolizei) gehört. Oft genug haben Übergriffe der lokalen Polizeibehörden zu Beschwerden und zur Korrektur durch die Kommandostellen der Armee und die Bundesregierung geführt. Die Stadt- guerilleros vor 1964 (meist trotzkisti- sche und maoistische Gruppen) bestanden überdies in Führung und Zusammensetzung zu erheblichem Teil aus Ausländern und wurden von einem Exilspanier und Veteranen des Spanischen Bürgerkriegs geführt.

Der neue Präsident hält strikt an dem bisherigen antikommunistischen Kurs Brasiliens fest. Wirkliche oder vermeintliche kommunistische Organisation und Propaganda werden verfolgt und unterdrückt, wobei bestimmt auch Übergriffe in der Vergangenheit passierten. Die chaotische Entwicklung im benachbarten Argentinien mag ein übriges dazu tim, um die brasilianische Regierung in ihren Auffassungen, aber auch die große Masse der Brasilianer in ihrer Vorsicht zu bestärken, die keineswegs mit Indolenz verwechselt werden sollte. In der Ablehnung des Fidel-Castro-Regi- mes in Kuba hat sich auch unter dem neuen Regime in Brasilia nichts geändert. Es folgt hier nicht der neuen Linie der USA, denen Brasilien nicht so ausgesprochen kritisch wie die meisten iberoamerikani- schen Staaten, jedoch mit freundlicher Reserve gegenübersteht. Die antikommunistische Politik im eigenen Land hinderte aber nicht den Fortbestand normaler diplomatischer Beziehungen mit den UdSSR, denen die Aufnahme solcher mit China, der DDR, Rumänien, Bulgarien und Ungarn in den Jahren 1973 und 1974 folgte. Die beiden führenden Architekten des Landes, die für Planung und Bau der neuen Hauptstadt Brasilia verantwortlich zeichnen, sind als ideologische Edelkommunisten bekannt. Dem Kommunismus neuerer Prägung ist ein an kollektives Denken gewöhnter nationaler Pragmatismus in mancher Beziehung nicht fremd, der im Fall Brasilien keine außenpolitischen Risken birgt, weil keinerlei historischen Nostalgien bestehen, die von Grenzverschiebungen träumen oder jenseits der eigenen Grenzen exklusive Einflußzonen suchen. Dem widerspricht nicht der Traum, von einer wirtschaftlichen Großmacht zur Weltmacht aufzusteigen. Dem wiederum stehen allerdings wohl die natürlichen Gegebenheiten und Eigenschaften eines Tropenlandes entgegen.

Das Regime des Präsidenten Geisel ließ von Anbeginn den Willen zu einer gelockerten Zügelführung erkennen. Er kam in der Zusammensetzung . des neuen, übrigens zum größten Teil zivilen Führungsteams zum Ausdruck. Die öffentliche Meinung reagierte zunächst mit abwartender Haltung.

Noch vor seinem Amtsantritt beauftragte der Präsident den neuen Leiter seines Militärkabinetts, mit dem Kardinal-Erzbischof von Säo Paulo als dem Sprecher der progressiven katholischen Oppositionsgruppen und dem Sekretär der Bischofskonferenz in Fühlung zu treten, um die Möglichkeit eines Einvernehmens herzustellen. Das Gespräch ergab die beiderseitige Ausgleichsbereitschaft, wobei die Vertreter der Kirche Erweiterung der politischen Freiheiten und stärkere Berücksichtigung der Postulate sozialer Gerechtigkeit als Bedingung stellten4.

Spektakuläre Ergebnisse sind kaum von heute auf morgen zu erwarten, wohl aber schrittweiser Fortschritt.

Im November fanden Kongreßwahlen statt, an denen allerdings nur die Regierungspartei („Arena”) und eine zugelassene Oppositionspartei (Brasilianisch-Demokratische Bewegung) teilnehmen konnten. In diesem Rahmen waren Wahlpropaganda und Wahlvorgang völlig frei, unbehindert und lautstark. Es kam bei starker Wahlbeteiligung weder vor noch während oder nach den Wahlen zu irgendeinem ernsteren Zwischenfall. Das Ergebnis brachte der Oppositionspartei einen klaren Sieg, der allerdings an den Mehrheitsverhältnissen nichts Wesentliches änderte. Der Präsident reagierte mit der Feststellung, daß die unbehinderte Freiheit des Wahlvorgangs und die Entwicklung zur Normalisierung nunmehr vor aller Welt erwiesen seien. Im übrigen, setzte er allerdings dem Sinne nach hinzu, werde sich an seinem Programm durch den Ausgang der Wahlen nichts ändern.

Gewiß ist Brasilien genauso weit entfernt von einer parlamentarischen Demokratie im engeren und weiteren Sinn dieses Begriffes wie es früher war. Darin unterscheidet es sich nicht von der Mehrzahl aller anderen lateinamerikanischen Länder. Es ist trotz aller Lippenbekenntnisse und vorübergehenden Versuche in Wahrheit immer eher eine Oligarchie am Ruder gewesen, auch wenn sie sich eine andere Etikette gab.

Gewiß ist in Brasilien, genau wie in anderen Ländern, die Stimmung nicht immer rosig. Einen wirklich nationalen Trauertag, der restlos alle erfaßte, hat es im letzten Jahr jedoch nur einmal gegeben: nämlich, als Brasilien das Länderspiel dm Fußball gegen Argentinien verloren hatte.

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