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Brasilianische Skizze

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Sao Leopoldo, Brasiilen, August 1947

Vielleicht paßt auf kein Land der Erde die Bezeichnung, daß es das Land der größten Gegensätze sei und das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wie auf Brasilien, an Ausdehnung das viertgrößte Reich der Welt, das vom Äquator mehr als 30 Breitegrade gegen den Südpol sich erstreckt und vom Fuße der Anden bis an die atlantischen Gestade reidit. Die größten Widersprüche der Natur, gewaltige Gebirgszüge und ungeheure, von Urwäldern bedeckte Eb.men, fruchtbarste Gefilde und mensdienarmc Einöden, moderne Großstädte, die mit den sdiönsten der Welt wetteifern, und armselige Siedlungen von Wilden, deren Kultur nodi den frühesten Stadien der Mensdiheit angehört, sind hier zu dem buntesten Bilde der Erdkarte vereinigt. Es kann kaum anders sein, als daß dieser Vielfarbigkeit audi die geistigen Formungen des Landes in seltsamer Viclgestalt entsprechen. Brasilien zählt unter seinen 41,236.000 Einwohnern, die von der brasilianischen Volkszählung 1940 erfaßt wurden, 39,822.000 nach ihrem Religionsbekenntnis als Katholiken bezeichnete Bewohner, 1.074.000 Protestanten, 123.000 Buddhisten, 55.660 Israeliten, 37.900 Orthodoxe, 3050 Mohammedaner, 2353 Shintoisten und außer einigen sonstigen kleinen Gruppen merkwürdigerweise 463.400 Spiritisten, die sich als ein eigenes Bekenntniswesen aufgetan haben. Es mag bezeichnend sein, daß diese aus der brasilianischen Denk- und Fühlungsweise Kapital zuschlagen vermochten. Ihre religiöse VorsteIlungswelt ist ekklekrisches Gemisch, ein dogmenfreies Christentum ohne Opfer, ohne Priestertum und ohne Verwerfung, mit Engel- und Hciligenverehrung, Glauben an die Seelenwanderung und den Evolutionismus mit dem einzigen Gesetz der Nächstenliebe. Ihre Erfolge beim einfachen Volk verdanken sie ihrer zu nidits verpflichtenden Lehre und einer Propaganda, die sie mit spiritistischen unentgeltlich verabreichten Medikamenten unterstützen, die manchmal wirklich helfen, weil sie gute Natur-heilmittel^iind. Zu welcher Bizarrerie ihre Propagandafeldzüge führen, zeigte sich zum Beispiel gelegentlich einer Blinddarmoperation, von der steif und fest und feierlich versichert wurde, daß sie der Geist eines verstorbenen Arztes im verfinsterten Operationssaal unter Kontrolle ausgeführt haben soll. Zwar war die Schürze, die der „Geist“ benützte, wie nachgewiesen wurde, schweißgetränkt, also mit Merkzeichen einer Benützung, die nicht gerade ein geistiges Wesen verriet. Aber trotzdem füllte das Pro und Contra des sensationellen Falles tagelang die Zeitungen, und wenn es eines Erweises bedurft hätte, wie stark der Spiritismus hierzulande seinen Aberglauben eingegraben hat, so war es die Ernsthaftigkeit, mit der dieses Thema diskutiert wurde. Ähnliches geschah, als das Medium Chico Xaviere behauptete, vom Geiste des verstorbenen berühmten Schriftstellers Umberto de Campos neue Werke diktiert bekommen zu haben, die das Medium herausgab. Die Witwe des Verstorbenen ging hierauf mit gcrichtlighcr Klage vor, um das Honorar für diese posthumen Arbeiten ihres Gatten zu erhalten. Wie das Gericht den Fall entschieden hat, ist dem Verfasser dieses Berichtes für „Die Furche“ leider nicht bekanntgeworden. Im Dienste des Spiritismus stehen eine überaus beredte Radiopropaganda, mehr als 60 Zeitungen und Zeitsdiriften und eine spiritistische Literatur, die zwischen 1933 und 1941 Millionen Bände verbreitete. Eigene Lehranstalten, in deren Erziehungswesen der Spiritismus systematisch eingebaut ist, Bibliotheken, Ambulatorien, Spitäler, Rechtsberatungsstellen, Waisenhäuser, Nachtasyle geben der Bewegung Rückhalt und Einfluß. Man überschätzt nicht, wenn man den Einfluß des Spiritismus auf ein Vielfaches derhalben Million eingeschriebener Anhänger in Brasilien berechnet.

Es würden diese Erscheinungen nicht möglich sein, wenn überall im Lande die Voraussetzungen für eine gesunde Bildung vorhanden wären. Mehr als in europäischen Ländern unterscheiden sich in Brasilien innerhalb der großen Masse der katholischen Bevölkerung die ausübenden von den nur traditionellen Katholiken. Fast jeder Brasilianer behauptet „muito cat61ico“ („sehr katholisdi“) zu sein und sagt im gleichen Atemzug „gracas a Deus“. Für sein praktisches katholisches Christentum will dies wenig bedeuten. Die Schuld liegt nicht am Volke, dessen Glaubenstreue trotz mangelhafter Bildung und trotz der Schäden, die dieser Mangel anrichtet, bewundernswert ist; auch nicht am gegenwärtigen Klerus, der tut, was er kann, sondern einfach an den riesigen Entfernungen, die den Schul- und Kirchenbesuch unmöglich machen. Kur 1374 Millionen Einwohner, also nicht einmal ganz ein Drittel der Gesamtbevölkerung, bekannte sich bei der letzten Volkszählung zur Kunst des Lesens. Der aus technischen Gründen schwierigen Pastoration und diesem Analphabetentum steht eine viel zu kleine Zahl an Seelsorgern gegenüber. Nach der Statistik von 1943 gab es, verteilt über 100 Diözesen und apostolische Administra-turen, nicht viel mehr als 6000 Priester in 2737 Pfarreien; es ist bezeichnend, daß ein Großteil des brasilianischen Klerus genötigt ist, nicht nur zweimal, sondern auch dreimal des Sonntags das heilige Opfer zu vollbringen.

So sdiwierig und erfreulich die Verhältnisse in den dünnbesiedelten Gegenden.sind, desto blühender zeigt das religiöse Leben in.den Städten und volkreichen Gebieten des K ü s t e n s t r e i f e n s eine Regsamkeit, die in nichts der anderer katholischer Völker nachsteht. Zu den Garanten für die Zukunft gehören die zahlreichen katholischen Mittelschulen, die staatsgültige Zeugnisse ausstellen und ihren Lehrbetrieb unter der Aufsicht eines von der Anstalt zu haltenden staatlichen Inspektors verschen. Nicht hoch genug kann das Verdienst der Frauenorden gerühmt werden: Nicht weniger als 16.000 Ordensfrauen sind in den Schulen, Kindergärten und Spitälern Brasiliens tätig, ein Kader unablässiger Arbeit, das sich zu jenem von einigen 100 Maristcn und 200 Sdinlbrüdern gesellt. In Rio de Janeiro, Sao Paulo, Porto Alegre und Recive (Pernabuci) sind die katholischen Universitäten in Ausbau begriffen, von denen die zwei erstgenannten schon den Universitätstitel erhalten haben. Benediktiner, Jesuiten, der Weltklerus, Ursuünen und gebildete Laien sind im Hochschulbetrieb tätig. Eine an-sehnlidie, wohl ausgebildete katholische Intelligenz ist im Wachsen begriffen. Der guten Entwicklung kommt die neue brasilianische Verfassung zustatten, die dem Zusammenwirken der katholischen Abgeordneten aller Parteien zu danken ist. Der stundenplanmäßige

Religionsunterricht (nicht obligat), die staatliche Anerkennung der kirchlichen Eheschließung, die Unzulänglichkeit der Ehescheidung und andere grundsätzliche Forderungen wurden in der neuen Verfassung verankert. Die politische Organisation ist die LEC (Liga EleitoraJ catölac) „Katholischer Wählerbund“, ein überparteilicher Verband, der die Wählerschaft orientiert und den Parteien gegenüber die Grundsatzforderungen vertritt. Für die Wählerschaft werden nur jene Kandidaten für wählbar erklärt, die sich zur Annähme dieser grundsätzlichen , Forderungen verpflichten. Die Kraft dieser Organisation ist so groß, daß' vor den Wahlen ein eifriger Wettbewerb in Beweisen des guten Willens und der Loyalität erfolgt und manche Parteien reichlich Wasser in ihren Wein geschüttet/ haben, um überhaupt starten zu können. Eine besonders erfreuliche Erscheinung ist. die Stellung der überparteilichen katholischen Arbeiterschaft, die in dem „Circolos operarios catolicos“ vereinigt ist und in allen gemeinsamen Belangen mit den Einheitsgewerkschaften zusammenarbeitet. Sie stellen im sozialen Leben des Staates einen bedeutenden Machtfaktor dar und werden, eine Gründung des Jesuitenpaters Leopoldo Brentano, gegenwärtig in verschiedenen südamerikanischen Staaten nach brasilianischem Muster aufgebaut.

Neben dem Erfreulichen fehlt es auch nicht an einem traurigen Kapitel, der, wenn auch kümmerlichen Gründung, einer brasilianischen „Nationalkirche“, die vor'' zwei Jahren von dem exkommunizierten Titular-bischof von Maura, Dom Duarte da Costa, proklamiert wurde; er hat viele Jahre lang als Außenseiter der Kirche durch seine politischen Allüren Sorgen gemacht; während des Krieges bezichtigte er ' in einem Memorandum an die Regierung verleumderisch den in Brasilien wirkenden ausländischen Klerus und sogar den apostolischen Nuntius der Spionage und unterirdischer Machenschaften. Nach seiner schließlichen Exkommunikation schleuderte er Schmutz gegen die Ehre des Klerus: eben ist er dabei, in einem Memorandum “ah das Parlament die Staatsgefährlichkeit der Katholischen Aktion zu. beweisen. Da Costa weihte ein paar entgleiste Seminaristen und erteilte auch eine Bischofsweihe. Die in seiner Sekte eingeführte Priesterehe genügte jedoch schon dem Volke zur Erkenntnis, welch - Geisteskind der unglückliche Bischof ist. In einer Ansprache, welche die Gegenwart in Brasilien bezeichnet, sagte — noch als Kriegsminister — der“ jetzige Bundespräsident General Furico Gaspar D u t r a: „Die Feststellung ist uuausweich-lich, wo immer Brasilien stehen wird; dort wird auch der Priester stehen. Besonders gilt dies, wenn jemals Brasilien sich in Leid und Gefahr befinden sollte.“ Das freundliche Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Brasilien ist hiemit gekennzeichnet.

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