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Rios Geister fahren Autobus

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Es ist Nacht. Im Grunde weiß niemand, wohin es geht. Aber die Kerzen an den Wegkreuzungen flackern noch. Eine offene Flasche, daneben angerauchte Zigarren. Sie weisen den Weg. Weiter geht es, weiter die Morros (Felsenhügel Rios) hinauf. Links und rechts seltsame Gegenstände: Hüte mit Geld, Schuhe, Hosen, Kerzen und angerauchte Zigarren. Dann ein dunkles Tor mit einem Neger als Wächter. Ein kurzes Losungswort. Man macht Platz. Auf hölzernen Bänken sitzen Hunderte von Menschen, Gebannt starren sie auf die Tänzer. Noch ist alles ruhig, nur die Tamtams dröhnen in dumpfem Ostinato. Mitternacht ist längst vorüber. Plötzlich beginnt es. Eine Mulattin jagt über den Platz. Dutzende folgen ihr, werfen sich auf den Boden, winden sich wie Wahnsinnige. Ekstatische Schreie hallen über die Lichtung. Zuckende Flammen stehen in der Luft. Raketen steigen. Flaschen fliegen. Dichte Rauchwolken hüllen den kreischenden Menschenknäuel in wogende und brodelnde Nebel. Da — ein dröhnender Schlag. Auf dem Höhepunkt bricht alles zusammen. Zum Himmel erhobene Hände, durch die die Perlen des Rosenkranzes gleiten. Ein dünner Rauchfaden hängt noch über dem Kreuz in der Mitte des Platzes. Ein letztes Lied,

feierlich wie ein alter Choral, der Spuk ist vorbei...

Nur ein Beispiel, eines von den vielen, die man heute schon in jeder Illustrierten finden kann. Für sie ist der südamerikanische Spiritismus nur noch eine seitenfüllende Sensation. Eine Sensation? Gewiß! Aber sie droht bereits einen ganzen Kontinent in ihren Bann zu ziehen.

Allein im Staate Rio de Janeiro zählte man vor einigen Jahren bereits mehr als 30.000 „tendas“ oder „terreiros", die zum guten Teil schon zur Attraktion für den Fremdenverkehr geworden sind und daher von zuständiger Stelle allein im Jahre 1955 zehn Millionen Cruzeiros an Subventionen erhalten haben. Die Erzdiözese Curitiba gibt offiziell zu, daß 40 Prozent ihrer Katholiken mit dem Spiritismus sympathisieren. In Rio hat jede Vorstadtstraße ihr Zentrum, jede Pfarrei hat deren hunderte, aber alle, selbst die „babalaos" (Vorsteher), sind selbstverständlich „auch katholisch". P. Kloppen- b u r g OFM., zur Zeit wohl der beste Kenner des südamerikanischen Spiritismus, urteilt: „Der Spiritismus befindet sich in einer Blüteperiode, sein Fortschritt ist geradezu beängstigend. Von Jahr zu Jahr nimmt er zu, dehnt sich aus bis in die entlegensten Ortschaften des Binnenlandes, durchdringt alle sozialen Schichten, erfaßt auch die Reichen und Intellektuellen und hat gegenwärtig im Militär seine besten Propagandisten und Beschirmer gefunden.“

In der Karwoche (!) 1957 feierte der Spiritismus Brasiliens sein erstes hundertjähriges Jubiläum in großem Stil. 1857 hatte Allan Kardec (Pseudonym für Leon Hippolythe Denizard Rivail, 1804 bis 1869) in seinem Werk „Le Livre des Esprits“ die okkultischen Botschaften kodifiziert und zu einem „System“ vereinigt.

Dieser „Kardecistische Spiritismus" bildet ungefähr den „ideologischen Ueberbau“ für den „baixo espiritismo“, den niederen Spiritismus. Er ist in der Federafäo Espirita Brasileira (Sao Paulo) zusammengefaßt und verfügt allein in Brasilien bereits über einen großen Propagandaapparat: 7 Verlage, 17 Zeitungen und Zeitschriften und einen eigenen Sender, neben den 74 änderen Stationen, die regelmäßig spiritistische Sendungen bieten, dazu noch 1000 Sozialunternehmen (Krankenhäuser usw.).

Alle Formen altkirchlicher Häresie, angefangen vom Doketismus und extremen Pelagianismus, über die Reinkarnationslehre bis hinauf zum Rationalismus, Monismus und Evolutionismus, haben in ihm ihre Heimstatt gefunden. Daneben blüht die Theosophie, schwelt ein geheimer Esoterismus und wuchert der Okkultismus. „;i k; ¿ aites 1

Man ist überzeugt, daß „es bis zur Stunde drei Offenbarungen gegeben habe. Die erste geschah durch Moses: das Judentum; die zweite durch Christus: das Christentum; die dritte, gegeben durch die Gesamtheit der Geister des Jenseits, kodifiziert durch Allan Kardec: der Kardecistische Spiritismus. Nur auf ihn kam der von Christus verheißene Paraklet, nur in seinen Schriften ist die Wahrheit zu finden; „90 Prozent des Bibeltextes sind daher wertlos..."

Doch auch Allan Kardec ist bereits „überholt“. Ueberholt vom Umbandismus, der „vollkommensten aller Religionen“, der „Vierten Offenbarung“. In ihm haben sich drei Bewegungen zusammengefunden: der Batuque (im Süden), die Macumba (in Rio) und der Can- domble (in Baia).

Man hat die Umbanda die Religion der „Caboclos" genannt, der abhängigen Landarbeiter und kleinen Pächter. Die Religion dieser Menschen ist jedoch ein durchaus orthodoxer Vulgärkatholizismus, allenfalls mit abergläubisch-magischem Einschlag, bei Ueberbetonung des Marien- und Heiligenkultes. Umbanda ist jedoch, so urteilt Paulus Gordan, ein religiöser Gärungsprozeß innerhalb der Massenexistenz des städtischen „Niedervolkes" und bedeutet nichts anderes als das zum Teil planmäßig und ausbeuterisch gesteuerte Aufleben der nie ganz erloschenen afrikanischen Kulte der Millionen getaufter, aber unwissend gebliebener Negersklaven. Die Kulthandlungen reichen von primitiver Traumdeutung und Kurpfuscherei über mediumistische Geister- und Totenbeschwörungen bis zum förmlichen Gebet und Opfer. Jedes „terreiro“ hat seinen Altar, hat seine Heiligenstatuen, seine Bilder und Kerzen. Man opfert, man tauft, firmt und traut; man hält Totenoffizien und Dankandachten. Der Wahnsinn hat durchaus Methode, und der harmlose Tourist wird sich vielleicht erbauen. Der Eingeweihte aber weiß, daß hinter den goldverbrämten Gewändern katholischen Heiligenkultes eine furchtbare Vielgötterei und Dämonie getrieben wird. Hinter dem Bild des „guten Heilandes", des „Senhor do Bonfim“, steht in Wirklichkeit „Oxala“ oder „Obatala“, der „höchste Führer des himmlischen Hofes“. Man will Unsere Liebe Frau, die Patronin der Schiffahrer, verehren, in Wirklichkeit aber opfert man „Iemanjä“, der Göttin des Wassers und Meeres. Hinter dem heiligen Georg verbirgt sich „Ogum“, der Kriegsgott, hinter Kosmas und Damian „Ibeji", der Beschützer der Kinder. Ehrliche Umban- disten — es sind deren nicht allzu viele — geben dieses Komödienspiel unumwunden zu. Das einfache Volk aber geht zu seinen Heiligen, ob sie nun in der Kirche des heiligen Georg stehen oder im „terreiro" des offenbar doch gleichen heiligen Georg! Und das „Ritual de Umbanda“ schreibt ungeniert vor: „Die Kinder, blau und rosa gekleidet, wohnen in der katholischen Kirche dem Feste der heiligen Kosmas und

Damian bei. Hernach beginnen die Zeremonien nach dem afrikanischen Ritual..."

Und das Ergebnis? 60 Prozent der Katholiken besuchen heute nach dem Urteil Prof. Kloppen-, burgs spiritistische „terreiros“. Und es sind nicht nur Schwarze. Unter den Kunden sitzen zum Teil elegante Damen und Herren. Sie vertrauen ihre intimsten Sorgen diesen von afrikanischen Gottheiten besessenen Medien an, die in Wirklichkeit dieselben Gemüsefrauen, Kellner und Autobusschaffner sind, mit denen die Ratsuchenden tagsüber nie am selben Tisch Platz nehmen würden. Vor allem in der Neujahrsnacht kann man an den eleganten Strandstraßen von Copacabana (Rio) Tausende von chromblitzenden Luxuslimousinen bewundern, deren Besitzer das Fest der Iemanjä (= Unsere Liebe Frau?!), der Göttin des Meeres, mit Blumenopfern und Gesängen begehen ...

Es ist nicht unsere Sache, Heilmittel zu empfehlen. Nur ein Beispiel sei zum Schluß erwähnt. Gewiß, es mag hart sein, aber die Entwicklung scheint ihm recht zu geben.

Dom Paulo Robert, Bischof von Gonaives auf Haiti, entschloß sich vor zehn Jahren, energisch durchzugreifen. Von seinen 570.000 Diözesen nannten sich 5 5 5.000 katholisch. Der Bischof stellte sie vor folgende Entscheidung: entweder ihr seid katholisch und brecht mit eurem Aberglauben oder ihr behaltet ihn und seid exkommuniziert. Nur 2 4.7 5 7 (5 %) blieben der Kirche treu. Mit diesen fünf Prozent begann der Bischof ein gründliches Kate- chumenat und ließ außerdem unzählige Statuten aus den Kirchen entfernen (in seiner eigenen Kathedrale steht überhaupt keine Statue mehr!), denn die Vermengung von Heiligen und Orixä war zu groß. Sogar die meisten Patronatsfeste, die doch nichts anders als eine heidnische Kundgebung unter kirchlicher Attrappe waren, wurden abgeschafft. Man schickte den Bischof wegen Bilderstürmerei nach Rom. Im November 1953 stellte er sich dem heiligen Offizium und — kehrte ermuntert und ermutigt wieder zurück. „Die Reinheit der Lehre geht allem vor", meinte Kardinal Ottaviani. „Und heute“, so schreibt Dom Robert, „da die offizielle Zahl der Katholiken viel geringer ist, sind bei jedem Gottesdienst die Kirchen gefüllt und erweisen sich plötzlich als zu klein.“

Haiti mag ein warnendes Beispiel sein, und vielleicht wird noch mancher den Mut haben müssen, den Bischof von Gonaives nicht nur zu bewundern, sondern auch nachzuahmen.

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