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Diagnose oder Todesurteil?

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So steht es mit unserem Brasilianer, dachte ich. Der Doktor drückte maliziös seine Augenschlitze zu, sein Patient hatte den Eingriff nicht gespürt. Ein Exempel von der erschrek- kenden religiösen Ignoranz der Haibund Ganzgebildeten in Brasilien. Die große Paulistaner Tageszeitung „Folha”, das Leibblatt der Spiritisten, gibt dazu eine Erklärung: „Kindisch, ja absurd ist es zu glauben, irgendwer, der vor 2000 Jahren auftrat, ob Sokrates, ob Konfuzius, ob Christus, könnte uns noch moralisch verpflichten! Heute, im Zeitalter der Kosmonauten!”

Senhor Manoel hatte erwidert, und es war typisch: „Blasphemie! Ein Stein ..ruht auf. dem anderen, die Grundsteine liegen in- der Tiefe der Vergangenheit:’- aber- ‘-.Ms Gründsteine unseres neuen Glaubens.” (Def Spiritismus betrachtet sich als Vervollkommnung des Christentums!)

Schon zückte der Japaner wieder sein Messer: „Wollen wir nicht einen Abend eigens dem Spiritismus widmen?” schlug er vor. „Lassen Sie Ihr Licht leuchten, wir sind dankbare Schüler.” Shigemitsu erinnerte an seine Anregung. Zuvor jedoch, riet er, sei, den ersten Abend abschließend, zu untersuchen: Wer hat das tägliche Brot der Lateinamerikaner vergiftet? Wer ist schuld, daß sie sich heute in Krämpfen winden? Wollen wir eine Krankheit bekämpfen, so suchen wir ihre Ursache. Wir Ärzte nennen das kausale Therapie. Wenn ich einen Fisch kaufe, sehe ich mir zuerst den Kopf an, nicht wahr? Der Fisch beginnt am Kopf zu faulen. Bei den Völkern ist es ebenso. Ist die führende Schicht, der Kopf, gesund, dann ist das ganze Volk gesund.”

Die Schule Europas

Auf und ab gehend, waren wir seine aufmerksamen Hörer. „Die europäischen Revolutionäre, Philosophen und Theologen des 19. Jahrhunderts (voran die deutschen!) brauchten ihre Aufklärung und ihren Atheismus nicht exportieren, die Söhne des lateinamerikanischen Kontinents — auch wir Japaner waren dabei, darunter ich — holten ihn an Ort und Stelle in Paris, Berlin, Wien, Zürich. Berauscht von der neuen Vernunft, vom neuen Fortschrittsglauben, von der Enthüllung der Welträtsel, wie sie uns Kant, Hegel, Comte und andere vortrugen, wollten wir von Gott los sein.

Für die neue Welt war die Religion des progresso mit ihrer Verurteilung alles Übernatürlichen und dem positiven Glauben der Naturwissenschaften die große Offenbarung. In Brasilien schlug sich dieser Materialismus im faden Abguß des Positivums nieder. Er war ganz auf den Brasilianer zugeschnitten mit dem Standpunkt, der nur das sinnlich Gegebene (Positive) als wirklich erkennbar gelten läßt, dagegen alle über die bloße Erfahrung hinausgehende Erkenntnis und alle spekulative Erkenntniskraft bestreitet. Oder schmackhafter von einem Berliner einmal definiert: Ein Pfund Rindfleisch gibt eine gute Suppe! Eine prächtige Lebensphilo sophie, die auch der Lebemann akzeptiert. Der Mensch ist weiter nichts als ein Leistungswesen — genau so, wie ihn dann der Kommunismus einrangierte.”

Senhor Manoel schien eine Einwendung vorzubereiten. Shigemitsu dozierte unbeirrt weiter.

„Heute sind es nicht mehr Kant und Hegel usw. Heute ist det Wortführer in Buenos Aires, Mexiko, Rio der französische Philosoph und Atheist J. Paul Sartre. Die katholische Kirche eroberte in den letzten Jahrzehnten doch einiges Gelände in gebildeten Kreisen zurück, aber die Mehrzahl, in laizistischen Schulen herangebildet, brauchte vom Positivismus zu Sartre nur einen kleinen Sprüht - übeVi(ifeif°G?äbeii?r-ju 3mhöhhh.!

eigene Existenz gerechtfertigt, im Nihilismus, der ihr die Sinnlosigkeit einer Bindung bescheinigt. Denken wir dabei nicht an den russischen Nihilismus von 1917, aus dessen Haupt gerüstet Lenin dann entsprang? Ja, meine Freunde”, er blieb stehen und starrte auf die gleißende Finsternis über dem Meer, „die Parallele ist erschreckend. Ich wiederhole: Sehen wir uns den Kopf des Fisches an!”

Am Ende des Lateins

Senhor Manoel nickte eifrig Shigemitsu zu. Die Gefechtspause benützend, ergriff ich das Wort. „Der religiöse Notstand nimmt gewöhnlich bei den oberen Sterblichen ihren Anfang. Siehe Frankreich! Die rapide Ausbreitung des Existentialismus in Südamerika ist nicht erstaunlich. Die Folgen spüren wir alle. Die moralischen Zügel sind gefallen, Gott ist begraben. Statt der zehn Gebote gibt es nur ein Gebot: Leben! Leben! Unheimlich rasch keimt diese Saat: unvorstellbare Korruption. Die Prostitution beherrscht die Straßen am hellen Tag. Der Kapitalismus tobt sich in der rohesten Form aus, die Trusts, mit den ausländischen vereinigt, sind die absoluten Regenten. Ihrer Verschwörung wagt niemand zu trotzen. Wer es versucht, wie Janio Quadros, verliert. Oder er wählt den Verrat wie Fidel Castro. Niemand ist bestürzter über diese allgemeine Zersetzung als die Liberalen, und sie sind doch die Väter dieser Ausbeuter. In dieser trostlosen Stunde haben sie nichts anzubieten als Pressefreiheit. Freiheit des Fernsehens, Freiheit des Films, Freiheit der Freiheit. Sie beschwören die Bischöfe, das Volk zu besänftigen im Namen des Christentums, aber der Priester ist für die Schule überflüssig. Sie sind am Ende mit ihrem Latein, in Uruguay, Mexiko, Peru genauso. Senhor Manoel, Ihren Ohren tue ich weh, es ist aber noch viel schlimmer. Und auf solchem Misthaufen sollen Priesterberufe gedeihen? Nicht einmal Ge lehrte, Wissenschaftler. Der Pan- sexualismus macht steril. Seht doch die vierzigjährigen Greise! Sie haben das Leben verpaßt.

Erinnern sich die Herren noch an den deutschen Philosophen Professor Dr. Fritz Joachim von Rintelen aus Mainz? War das ein Aufsehen, als er auf dem Internationalen Philosophenkongreß an Sao Paulo den fortschrittstrunkenen Südamerikanern ins Gesicht erklärte: Der Mensch wird heute in seiner radikalen Gefährdung und das Dasein in seiner vollen Schwere gesehen, um sich ihm alsdann herrisch aus Trotz oder — paradox — aus liebender Hingabe zuzukehren. Und direkt an Sartres Jünger wandte sich Rintelen, als er ausführte:

,Wir sehen die Welt somit nicht mehr als geordnetes Wunderwerk Gottes, sondern in ihrem Gefälle, ihren Dissonanzen, in ihren Wettern, Katastrophen und verwüsteten Szenen als Gegenbild unserer aus den Fugen geratene»: Zeit….. Da uns nicht nur stimmungsgemäß, sondern überhaupt jeder philosophisch faßbare Bezug zur metaphysischen Transzendenz zu verweigern ist, beschleicht uns notwendig das Gefühl der bedrückenden Unheimlichkeit, und wir stehen vor einem Vakuum am Gestade des Nichts. Das ist ein gramvoller, auswegloser, tragischer Weitblick.1”

Rintelens Diagnose — sie ist hier wörtlich zitiert — rief seinerzeit bei vielen des vollbesetzten Auditoriums einen kalten Schauder hervor. War sie nicht fast ein Todesurteil?

Beschwörend erhob Senhor Jose Manoel Candido seinen Zeigefinger und erklärte sehr erschreckt, was wir schon längst wissen: „Einen idealeren Mutterboden, meine hochedlen Herren, könnte der Bolschewismus nicht antreffen. Gott behüte uns!”

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