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Auf, auf zur reaktionären Romantik!

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Eine Gesellschaft, die die Träume in die Kloaken verdrängt hat, züchtet ihre eigenen Mörder. Denn der Mensch läßt sich weder in Ware noch in die berechenbare Einheit eines Planes verwandeln; seine Phantasie, sein Geist, seine Seele, sein besseres Ich ■— wie immer wir es nennen wollen —t bricht sich einen Weg, begehrt auf, fiebert nach Taten. Das Phänomen ist selbstverständlich und für alle Altersstufen charakteristisch, doch kanr es freilich in der hohen Zeit .der ersten Reife am reinsten hervortreten, noch ungetrübt durch Trägheit, Weisheit, materielle! • Interesse. Die jungen Frauen, und Männer, die den Berliner Politiker Peter Lorenz entführt haben, entsprechen somit einer gana bestimmten sozialen Atmosphäre: sie verneinen die Verneinung der Utopie

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Eine Gesellschaft, die die Träume in die Kloaken verdrängt hat, züchtet ihre eigenen Mörder. Denn der Mensch läßt sich weder in Ware noch in die berechenbare Einheit eines Planes verwandeln; seine Phantasie, sein Geist, seine Seele, sein besseres Ich ■— wie immer wir es nennen wollen —t bricht sich einen Weg, begehrt auf, fiebert nach Taten. Das Phänomen ist selbstverständlich und für alle Altersstufen charakteristisch, doch kanr es freilich in der hohen Zeit .der ersten Reife am reinsten hervortreten, noch ungetrübt durch Trägheit, Weisheit, materielle! • Interesse. Die jungen Frauen, und Männer, die den Berliner Politiker Peter Lorenz entführt haben, entsprechen somit einer gana bestimmten sozialen Atmosphäre: sie verneinen die Verneinung der Utopie

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Sie sind Verbrecher — doch bringt uns diese Feststellung nicht vorwärts. Sie sind für ihre Untat voll verantwortlich — doch gehört auch diese Überlegung in den Bereich blasser Theorien. Wichtiger für die Bekämpfung und für die Überwindung jener herangezüchteten Schar potentieller Mörder ist der Blick in einen gesellschaftlichen Mechanismus, der solches Handeln erzeugt. Denn zwar nicht im hegelianischen, wohl aber im Leibnizschen Sinne entspricht der Gewaltakt von Berlin einer tieferen Notwendigkeit. Diese gilt es zu ändern.

Wohin mit den Träumen? — so lautet die erste Frage. Die technische Zivilisation westlicher Prägung hat ein Menschenbild geschaffen, das ausschließlich aus naturwissenschaftlich exakt überprüfbaren Zügen besteht und für die Gemeinschaft vor allem als Produzent und Konsument existiert, als Objekt, dessen Misere oder Wohlergehen durch Markt- und Meinungsforschung ermittelt und in Form von Zahlen statistisch ermittelt werden kann. Die marxistische Terminologie nennt ungefähr diesen Zustand „Entfremdung“, womit ausgedrückt werden soll, daß der Erzeuger von Waren seiner eigenen Produktion „entfremdet“ wird durch Arbeitsteilung und durch die Unmöglichkeit, den Weg des eigenen Produktes zu verfolgen und den Ertrag voll und ganz zu genießen. Die Vorstellung, man könnte die menschliche Gesellschaft in Begriffen wie „Produzent“ und „Konsument“, „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“, „Opinionleader“ und „Multiplikator“ verstehen, das heißt, man könnte die menschliche Wirklichkeit auf die Funktion des Menschen im Produktionsprozeß von Waren reduzieren: diese Vorstellung ist ebenso irreal und irrational wie etwa die Hypothese, man müßte bloß die Produktionsmittel aus Privtbesitz dem Besitz der Allgemeinheit zuführen — und der Mensch wäre sogleich viel glücklicher.

Das heißt: das Weltbild der führenden Leute der hochentwickelten technischen Zivilisation ist ebenso falsch wie das Weltbild ihrer Widersacher. Ja, in diesem Sinne sind die Entführer von Peter Lorenz echte Kinder dieser sogenannten Konsumgesellschaft: erstens in ihrem sehr vulgär materialistischen Menschenbild, zweitens in ihrer Freude an Perfektion und Publicity, und drittens in ihrem Unbehagen an der Plattheit, Traumlosigkeit, Phantasielosig-keit ihrer Umwelt. Das wirklich Erschreckende liegt darin, daß die jungen Leute nicht einmal in ihren Träumen bereit sind, sich vom Menschenbild der Traumlosigkeit loszulösen. Sie bewegen sich in irrealen und irrationalen Wahnvorstellungen, und zwar in der Welt einer reaktionären Romantik. Sie kranken an einem zerstörten Verhältnis zur Wirklichkeit, hervorgerufen durch das falsche Menschenbild einer zweckgebundenen (also halben) Ratio, durch den Kult der Jugendlichkeit in der „Konsumgesellschaft“, durch den törichten Gnostizismus der modischen Lektüre (Kampf der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Dunkelheit), letztlich durch die totale Säkularisierung der Phantasie.

Für das zerstörte Verhältnis zur Wirklichkeit ist es bezeichnend, daß die Folgen einer Aktion nur falsch eingeschätzt werden können. Die Entführung des Peter Lorenz dient dem „Fortschritt“ in keiner Weise, nicht einmal dadurch, daß sie den „Monopolkapitalismus“ provoziert, ihn zum schroffen Vorgehen ermutigt und damit „seine wahre Natur entlarvt“. Die Terroristen erwecken oder ermutigen latente Denkprozesse. Ihr Auftreten bestärkt die Ansicht, daß satte Bürgerlichkeit, Ordnung und Gesetz in jedem Fall besser sind als irgendwelche ungewöhnliche politische Aktionen. In einer Zeit wirtschaftlicher Schwierigkeiten wird durch Terrorismus die Sehnsucht nach dem „starken Mann“ noch verstärkt. Die Schicksalsfrage der Weimarer Republik taucht wieder auf: soll man am Parlamentarismus festhalten, selbst wenn dieser von den (nationalsozialistischen) Terroristen mißbraucht und möglicherweise beseitigt wird, oder muß man den Terrorismus bekämpfen, auch um den Preis, daß die Ordnungsfunktion des Staates vorübergehend verstärkt wird? Kann aber die Demokratie auf ihre eigenen Grundprinzipien verzichten, um wenigstens in gewandelter Form zu überleben? Die Entführer des Peter Lorenz haben ihren Anteil daran, wenn in Deutschland nazistische Tendenzen erstarken. Durch reaktionäre Romantik werden Urquellen des Nationalsozialismus wieder freigelegt.

Haben wir es hier vielleicht mit dem „deutschen Wesen“ zu tun? — so lautet eine weitere Frage. Die deutschen Länder haben die Ideen der französischen Aufklärung wenn überhaupt, so nationalistisch interpretiert. Beispielhaft für diesen Aberglauben ist der Standpunkt von Fichte: Freiheit sei etwas spezifisch Deutsches, da jeder, der an Freiheit und Fortschritt glaubt, im Grunde ein Deutscher ist (gleich welcher Nationalität er auch sein mag). Achtundzwanzig Jahre nach der Drucklegung von Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ schrieb ein anderer Deutscher über die Konsequenzen. Die Überlegungen von Heinrich Heine im zweiten Band des „Salon“ 1835) sind von bestürzender Aktualität:

„So wird der Naturphilosoph dadurch furchtbar sein, daß er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, daß er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann, und daß in ihm jene Kampfeslust erwacht, die wir bei den alten Deutschen finden, und die nicht kämpft, um zu zerstören noch um zu siegen, sondern bloß um zu kämpfen. Das Christentum — und das ist sein schönstes Verdienst — hat jene brutale, germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut . . . Jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, wo er kläglich zusammenbricht. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome.“ Dieser „Naturphilosoph“ erscheint nun als Träumer der Traumlosigkeit, als Gegner der menschlichen Freiheit im Namen eines verschwommenen, blutrünstig reaktionären Frei-heitsbegriffes, ein Feind des „Establishments“, das bei Hitler noch „Plutokratie“ geheißen hat, ein Verbündeter der zahlenmäßig größeren Gruppe von Semiten, nämlich den Arabern, gegen die kleinere semitische Gruppe der Juden; die Parallelen sind fürwahr überraschend; und das Wort „Fememord“ bekommt einen eigentümlichen Beiklang, wenn wir wissen, daß „Feme“ ursprünglich „Genossenschaft“ geheißen hat. — Hinter dem so sachlich wirken wollenden, so aufklärerisch gedrechselten Vokabular der Terroristen, hinter der praktischen, zweckbezogenen Gesinnung der „Konsumgesellschaft“, hinter der scheinbaren Menschenliebe erscheint plötzlich der Urwald. Wirre Gefühle artikulieren sich „soziologisch“ im antiurbanen Affekt: eine längst überwundene, tierischidyllische „Naturverbundenheit“ richtet sich gegen die „sündige Großstadt“, in der die Menschen freilich einsamer sind als im wärmenden Hordenverband. Die Abenteuerlust wird zum Ausgangspunkt eines politischen Programms der Intoleranz; im „Anti-Imperalismus“ wirkt die Blut-und-Boden-Redlichkeit einer vor-bürgerlichen Zeit, die unüberschaubare Handelsbeziehungen und globale Industrieunternehmungen instinktiv ablehnt; der Werwolf doziert professoral, während er eigentlich mit Ernst Moritz Arndt (1769—1860) aufrichtig sagen müßte: „Jene Allerweltphilosophie und Allerweltliebe, welche die Leute mit einem blanken Namen auch Liberalität und Humanität der Ansichten und Gesinnungen nennen, ist mir immer ein Greuel gewesen, hinter welchem alle Schwächlichkeit und Jämmerlichkeit und Zierlichkeit zerbrochener und mürber Seelen sich so gern versteckt.“ Das heißt aber, daß die Berliner Terroristen als Alternative für die Unmenschlichkeit der „Konsumgesellschaft“ nichts anderes zu bieten haben als den Rückfall in die noch weitaus größere Unmenschlichkeit der Wildnis.

Hier aber treten fürwahr welthistorische Zusammenhänge zutage. Denn der Gedanke ist nicht ohne

weiteres von der Hand zu weisen, daß die Entführer von Peter Lorenz wirklich die Wildnis vertreten, und zwar nicht im übertragenen Sinn, sondern tatsächlich: jenen Urwald, den wir in Europa bezwungen und nahezu vernichtet haben, und der nun aus den Weiten der südlichen Hemisphäre heranrückt wie in Shakespeares „Macbeth“ der Birnams-wald „feindlich emporsteigt“. Noch lebt man auf Grund all der früheren Eroberungen in Saus und Braus, genießt öffentliche Dienste und gut organisierte technische Systeme, die tadellos funktionieren, erfreut sich einer ergötzenden Stille, ohne recht zu wissen, ob sie die ehrerbietige Stille der Macht oder jene andere Stille der Verödung und der Ohnmacht ist, von den Mächtigen toleriert und von den Mitbürgern als Melodie einer lieblichen Idylle empfunden. Die alten Wurzeln tief unter den Steinquadern der römischen Kriegs- und Handelsstraßen sind noch vorhanden und sie könnten eines Tages zu sprießen beginnen; nicht nur unsere Schlösser und Burgen, sondern auch ganze Bezirke unserer Städte könnten eines Tages von emporrankendem Unkraut überwuchert werden; wir könnten zu einer Lebensform herabsinken, die uns vom überflüssigen Kopfzerbrechen befreit und mit provinzieller Einfalt beglückt.

Es könnte sein, daß die Berliner Terroristen, auf Umwegen zwar und halb unbewußt, eine solche Wendung der Dinge betreiben, indem sie versuchen, uns dem Gesetz des Dschungels zu unterwerfen, worauf dann der Dschungel selbst nachfolgen kann, um die europäische Gesellschaft mit Naturgewalt zu liquidieren. Eine Gesellschaft, die die Träume in die Kloaken verdrängt, züchtet, wie gesagt, ihre eigenen Mörder, denn wir leben und überleben letzlich nicht durch die Ökonomie, sondern durch die Vision.

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