6856374-1977_17_10.jpg
Digital In Arbeit

Versuch einer Standortbestimmung

19451960198020002020

György Sebestyén, seit Jahren der FURCHE eng verbunden und unseren Lesern durch viele Beiträge bekannt, erhielt am 18. April 1977 den Anton-Wildgans-Preis. Aus der Dankesrede, die Sebestyén bei diesem Anlaß im „Haus der österreichischen Industrie“ hielt, veröffentlichen wir im folgenden einige wesentliche Auszüge.

19451960198020002020

György Sebestyén, seit Jahren der FURCHE eng verbunden und unseren Lesern durch viele Beiträge bekannt, erhielt am 18. April 1977 den Anton-Wildgans-Preis. Aus der Dankesrede, die Sebestyén bei diesem Anlaß im „Haus der österreichischen Industrie“ hielt, veröffentlichen wir im folgenden einige wesentliche Auszüge.

Werbung
Werbung
Werbung

Zehn Jahre nach dem Zerfall des alten Reiches Österreich-Ungarn hielt Anton Wüdgans eine Rede über Österreich, versuchte das Neue zu beschreiben, indem er das Kontinuierliche erfaßte, denn er sah offenbar mit großer Klarheit, daß man an die Zukunft nur glauben kann, wenn man eine Vergangenheit besitzt, wenn man im Streben nach einer Utopie die Dimension der Zeit miteinberechnet. Geschichtsbewußtsein ist kein Hindernis, sondern Voraussetzung des Fortschritts. Auch damals, im Jahre 1930, wurde von Terroristen der Versuch unternommen, die Gesellschaft in den Zustand eines neuen Absolutismus zurückzuwerfen, auch damals wurde der Rückfall in das Barbarentum als Fortschritt gepriesen, auch damals gab es unter den Denkern und Schreibern manche Figuren, die sich bereit erklärten, die Geschichte nach den Bedürfnissen der zukünftigen Diktatur auf das völkische Maß zu reduzieren. Indem nun Anton Wildgans daranging, für das neue Österreich Zeugnis abzulegen, fand er selbstverständlich zu dem Satz: „Denn wir Werkleute an dem Aufbau dieses Neuen brauchen das Alte nicht zu verleugnen.“ Und nun fuhr er fort, das Bleibende zu beschreiben: den Wert eines „besonderen Menschentums“. Er sagte: „So ist der Österreicher seit Jahrhunderten gewöhnt an das unmittelbarste Erleben von ganz großen Vorgängen der Geschichte, deren blutige Rechnung er unzählige Male bezahlt hat, und dies ist das erste Moment, das ihn frühzeitig, wenn auch in einem mehr schmerzlichen und passiven Sinne, über sich selbst erhoben und zum Europäer gemacht hat.“

Dieses „unmittelbarste Erleben von ganz großen Vorgängen der Geschichte“ hat den menschlichsten und - im Sinne der bedeutenden Theorie von Georg Lukäcs - auch fortschrittlichsten Teil der österreichischen Literatur geformt, hat meine verwundete, verbitterte, nun in der Eiseskälte weiterhin Wort an Wort fügende Generation geprägt. Denn verbittert sind wir, und das Streben nach Freundlichkeit, die Lust an der Vitalität entspringt bösen Spannungen und finsteren Erinnerungen.

Man hat uns getäuscht, mißbraucht, verlacht upd zwischendurch immer wieder hingerichtet. Ja, hingerichtet, und wir leben dennoch: das erste Mal und auch das zweite Mal sind wir klüger als die Mörder gewesen, schlauer und also auch in gewissem Sinne stärker, aber wir tragen das Bild unserer Hinrichtung in uns als Traum, als Trauma, als Maß der Dinge. Und also wenn ein Mensch zu uns über einen abstrakten und vielleicht in der Technik lauernden Tod spricht, und wenn ein anderer Mensch schön gedrechselte Worte findet für seine Sehnsucht nach dem Tod und in allen Dingen die schreckliche Poesie des Todes entdeckt, um sie zu Literatur zu sublimie- ren, dann werden wir all diesen Menschen wohl geduldig und vielleicht sogar mitfühlend, ja mit einem gewissen ästhetischen Vergnügen zuhören können, doch kann uns durch solche Art Morbidität die große Erschütterung nicht treffen - und das ist ja die unmittelbare, fast physische Wirkung jeder wirklichen Kunst: sie trifft uns wie ein elektrischer Schlag, indem sie durch ihre übergroße Spannung unsere Alltäglichkeit radikal relativiert. Das Todeserlebnis macht es uns unmöglich, literarische Hervorbringungen der affektierten Naturschwärmerei, der verschnörkelten Volksverbundenheit, der lieblich kecken Sprachspielerei allzu emphatisch zu feiern, und man wird wohl verstehen, wenn wir den Ideologien des Mordes humorlos entgegentreten und auch an den unschuldigen Koketterien mit dem Chaos keinen besonderen Gefallen finden.

Wir haben jene „ganz großen Vorgänge der Geschichte“ nicht nur „unmittelbar erlebt“, sondern halb tot durchlitten, wir tragen den Tod in unserer Phantasie, in unserem Nerven system, in dem unsere guten Freunde, unsere schönheitstrunkenen Kameraden und fröhlich trinkfesten Kumpane ewig gefangen sitzen: Opfer der verschiedenartigen Personenkulte um Hitler und um Stalin.

Nichts ist vorbei; die von Neonlichtern luxuriös erhellten Nächte riechen nach Mord, die mit jedem technischen Komfort ausgestatteten Flughäfen sind Waffenlager, in neuen Staaten kennen die Henker alte Kniffe, wir erleben die „ganz großen Vorgänge der Geschichte“ abermals immittelbar, und also sammeln wir unsere Heere der Toten, denn sie sind es, die uns beistehen, Opfer des Terrors oder der stillen und feinen Unterdrückung durch Lieblosigkeit und durch Gleichmut: mein erster Meister in der Literatur, Miklös Radnöti, Poet in Ungarn, wurde Anfang 1945 von einem bis heute unbekannt gebliebenen Nationalsozialisten am Straßenrand erschlagen; andere schleppten sich noch durch die Jahre und die Länder, verwundet, geschwächt, an den Rand des Wahnsinns getrieben durch Verfolgung, durch Krieg, und also ertränkte sich Paul Celan in der Seine, und also machte Gerhard Fritsch eines Tages in Wien dem Kampf mit der Dummheit ein Ende; und Herbert Zand ging verletzt, in stiller Gewißheit seines Todes dahin, und Reinhard Federmann zerbrach an den Verhältnissen während des Krieges und letztlich an ihren Folgen; erbarmungslos sind die Spätwirkungen.

Längst sitzen die früheren Mörder als friedlich alternde Bürger in idyllischen Stuben und immer noch fallen da und dort ihre Opfer; kein Alkohol dieser Welt kann den aus der Erinnerung losspringenden Sadismus zähmen, verwundet sind meine Freunde, psychisch verletzt oder von Narben gezeichnet - warum ewig das schamvolle Schweigen? Ich will sie nennen -: Hochwälder, Eisenreich, Dor, Michael Guttenbrunner.

Wildgans hatte 1930 recht, auch für die Zukunft: das unmittelbarste Erleben der Geschichte hat den Österreicher in einem fürwahr schmerzlichen Sinne zum Europäer gemacht.

Zu einem Europäer - so fährt Wildgans fort -, der die Fähigkeit besitzt,

sich „in fremde nationale Gefühlswelten, in fremde Volksseelen“ hineinzudenken.

„Psychologie ist Pflicht im Zusammenleben der Menschen und Völker“, sagt Wildgans. „Das Unheil… es stammt zumeist… von der Trägheit der Geister und der Herzen, die sich mit bloßen Gerüchten über den anderen begnügen, anstatt ihn zu erkennen und dadurch in seiner Wesensart, in seinen Leidenschaften, Empfindlichkeiten und Ansprüchen zu begreifen.

„Dieses Erkennen und Begreifen nun ist sozusagen die historische Natur des österreichischen Menschen.“ Wirkt aber diese historische Natur immer noch ungebrochen?

Es scheint mir, daß das Lebensgefühl des österreichischen Internationalismus - wenn wir’s so nennen wollen - da und dort schwächer geworden ist, daß wir, in einem Rückfall in den bereits überwundenen Zustand des sturen Regionalismus, feine bereits errungene Position wieder aufgeben mußten, ja, eine völlige Mißinterpretation der gesellschaftlichen Rolle der Mundart gefährdet sogar die als gesichert angesehenen Errungenschaften der Aufklärung, denn wenn sich niemand mehr um die gemeinsame Sprache bemüht, sondern jeder redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, dann wird dadurch zwar eine Desintegration der herrschenden Zustände gefördert, jedoch nicht im progressiven Sinn, sondern reaktionär, und der rückwärts führende Weg endet, unter Umgehung von Monarchie und Rittertum, direkt vor den Höhlen der Neandertaler.

Ist aber jene von Anton Wildgans als „die historische Natur des österreichischen Menschen“ bezeichnete Weltoffenheit nicht auch ein Gebot der historischen Stunde, eine atmosphärische Vorbedingung und im Kapillarsystem des alltäglichen Handelns wirkende Energiequelle der Neutralität? Die kulturelle Desintegration könnte im entscheidenden Augenblick eine mentale Lähmung zur Folge haben, eine Verengung des Horizontes, einen psychischen Verlust an Handlungsfreiheit.

Gegenüber der sogenannten Entfremdung im Kaffeehaus ist das zünftige Leben in der Höhle ein Rück zug in die Isolation einer von triebhaften Instinkten gelenkten Einsamkeit des Barbarentums.

„Barbar“, das Wort erscheint auch bei Anton Wüdgans, dem österreichischen Menschentum gewissermaßen antithetisch. „Wem historisches Bewußtsein und Psychologie zum Instinkt geworden sind“, sagt Wüdgans, „der neigt dazu, nicht gleich in jedem Wechsel der Dinge einen Fortschritt zu erblicken…. Ihm fehlt jene Barbarenfreude am Wertlos-Glitzemden, das sich für kostbar-echt ausschreit, die protzige Lust des Kulturparvenüs an den sogenannten Errungenschaften, die zumeist höchstens solche der Zivüisation sind, und er durchschaut so manchen Pofel und Schwindel, auf den die ewig Heutigen … pünktlich und reklamegläubig hineinfallen.“

Barbar, Barbarenfreunde, protzige Lust der Kulturparvenüs, Pofel und Schwindel - sie haben 1930 Anton Wüdgans bedrückt und bedrängt und nun muß auch ich, müssen auch wir, ankämpfen gegen die gleichen Dämonen.

Ja, Dämonen oder Gespenster? Ist denn dieses Jahrhundert verhext? Pünktlich und reklamefreudig fallen die ewig Heutigen auf den Pofel und Schwindel hinein, doch genügt in den späten siebziger Jahren der Hereinfall allein noch nicht, er muß auch noch vervielfältigt, vermarktet, aufgeblasen, durch alle Massenmedien durchgezogen werden, denn das Geschäft kennt, was die Herstellung, den Vertrieb und den Verkauf von Büchern betrifft, offenbar zu wenig Hemmung. Wohin ist jener chinesische Kaiser verschwunden, der die Anwendung und Weiterentwicklung von Schießpulver untersagte, da es schädlich war für die Menschheit? Wo das sabbernde Prassen als höchstes Ideal güt, schämt sich der gute Geschmack, die Moral wird von Minderwertigkeitskomplexen geplagt und die Tugend verschwindet nicht nur aus dem Denken,

sondern auch aus dem Sprachgebrauch.

Ist der Österreicher wirklich und immer noch gefeit dagegen, „in jedem Wechsel der Dinge einen Fortschritt zu erblicken“? Erinnert er sich noch daran, daß das Auftreten des Nationalsozialismus auch ein „Wechsel der Dinge“, aber gewiß kein Fortschritt war?

Ich kann die Frage nicht beantworten. Ich will sie aber, mit Anton Wüdgans, wieder formulieren. Es existiert nämlich in unseren Tagen eine unheilige Allianz, die uns glauben machen möchte, jeder Wechsel der Dinge sei zugleich ein Fortschritt: die Allianz zwischen den Scharlatanen der Volksbeglückung, und den Fachleuten der Vermarktung neuer, aber nicht besserer Produkte. Goethes „Wert- her“ war ein Bestseller, aber alle übrigen Werke des Poeten blieben für die Cotta’sche Verlagsbuchhandlung fast unverkaufbar.

Vor allem fehlt Jener Barbarenfreude am Wertlos-Glitzemden“ eine Dimension der menschlichen Existenz. Sie liegt im Schweigen. Im Beschluß, etwas der Außenwelt vorzuenthalten. In der Scham. In der Diskretion.

Wir fliegen dahin, dem Tod entgegen, wie eine merkwürdige Schar, vielleicht von Marc Chagall gemalt, in einen endlosen Himmel hinein, und schon übermorgen weiß keiner es mit voller Gewißheit zu sagen, ob er sich an uns erinnert hat, ober uns erlebt hat oder ob er uns erträumt hat. Es bestätigt das Gefühl unserer Existenz, während dieses waghalsigen Fluges auch noch die eigene Position und die mögliche Krümmung unserer Fluglinie zu ermessen. Doch resultiert aus dem Bewußtsein unserer rasanten Vergänglichkeit nicht nur ein widerspenstiger Realismus, sondern auch ein Anflug von Hoffnung: wir könnten sein, was wir sind! Es ist unsere, es ist meine Aufgabe, diesem existentialisti- schem Programm zu entsprechen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung