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Verhüllter Morgen

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Ein Jahr vor dem Tod meines Vaters verließ ich die Schule. Das Hotel, das einst meinem Vater gehört hatte, und das er verkaufte, war völlig fremd geworden. Der neue Besitzer baute eine Tanzhalle in den Hof; aus ihr schollen die zerstörend-widerlichen Melodien des nach dem Kriege ausgebrochenen Lebenstaumels;- die Spielbank im Speisesaal wurde nachts von der Geheimpolizei gesprengt. Ich sah kranke, rasch verlebte Gesichte,r. Die eigentliche Bedeutung der Verworfenheit war mir damals so wenig klar wie die Unverrückbarkeit ethischer Normen, aber ich flüchtete vor allem und allen. Wenn ich frei war, Verließ ich das Zimmer nur nachts. Meine Spaziergänge waren Umwege. Ich litt unsäglich am Dasein, an mir selbst. Auch in der Schule hatte ich keinen Stand. Unglücklicherweise war ich, statt ins Gymnasium, in die Realschule gegeben worden, weil1 von ihr die Erziehung für das vielgerühmte, von rrq so sehr gefürchtete „praktische Leben“ erwartet wurde. Das Gebäude war kurz vor dem Kriege errichtet worden: eine Art Bildungsburg am Berghang mit aufdringlichem Turm und grellblauem Ziffernblatt; es verdarb das Stadtbild und drückte vortrefflich die Ueberheblichkeit des Bildungsglaubens aus. Hier wurde eine Synthese des verwässerten deutschen Idealismus mit den Naturwissenschaften versucht; sie sollte Grundlage der Menschenformung sein. Die Religionslehrer waren unter gewissen Konventionen geduldete Gäste. Aber der deutsche Idealismus brach im ersten Kriege zusammen, die Naturwissenschaften glitten, was Grundlagen, Ziele, Hoffnungen betrifft, einer schweren Krise entgegen. Zu Anfang des

Jahrhunderts erhobene Fragestellungen mußten sich durchsetzen. Der Geschichtsunterricht, infolge der Glaubensspaltung ein fast unlösbares Problem, wich nach Möglichkeit der geschichtlichen Bedeutung des Glaubens aus. Erst sehr spät erkannte ich, daß ein lebendiges Verhältnis zur echten, nicht idealisierten Antike, zu dem grandiosen Spiel zwischen Athen, Rom unddemOrient, Babyloniern, Persern, Par- thern, Aegyptern, die beste Vorbereitung auf unser im wesentlichen geschichtliches Dasein ist. Sie ist auch die beste Vorbereitung auf die christliche Existenz; denn in diese von ungeheuren Tragödien durchschütterte Welt ist Christus eingetreten; ihr hat Er geantwortet und damit aller Geschichte, aller Problematik der Macht und des Mächtigseins; so gewiß diese Antwort eine überzeitliche und zugleich eine in jedem Augenblick brennend gegenwärtige ist, so kann sie doch nur erschlossen werden aus der Gleichzeitigkeit Jesu Christi mit den Cäsaren und der gesamten Wirklichkeit des Orients und Okzidents, die Ihn umgab, mit der Erbschaft, die in Seinem Volke und allen Völkern mächtig war. Zwischen dem entweihenden Auftreten des Pompejus im Tempel, der Freundschaft der Livia mit der Salome und dem Ansinnen Caligulas, im Tempel seine Statue aufzustellen; inmitten des Verlangens der Völker nach der Vergöttlichung der Macht und Herrschaft — und im Schatten unergründlicher Prophetie steht der Herr.

Wie hätte die Schule Menschen für eine Epoche der Zusammenbrüche ausriisten können — und das war ja ihre Aufgabe —, da ihre eigenen Fundamente einbrachen? Ich denke dankbar an das sittliche Vorbild, das der Rektor und das ungewöhnliche, umfassend menschliche, das der wohl einzige echte Pädagoge gab. Aber dieser, eine einsame Gestalt, begleitete nur die ersten Jahre. An Kenntnissen, Einsichten, die mich hätten formen und wappnen können, erlangte ich fast nichts. Das war zu einem großen Teil meine Schuld, da ich immerfort abschweifte, Neues, Fremdes suchte und mir jedes Thema verdorben war, sobald es der Unterricht aufgriff; es war auch die Schuld der Wechselfälle der Kriegszeit, aber doch auch des Lehrplanes und der ihn trägenden Weltansicht. Es fehlte die zusammenfassende Kraft. Wenn der Ort unseres Lebens Geschichte ist mit den unermeßlichen Verpflichtungen dieses Namens, so bleibt nichts anderes übrig, als die Jugend auf das Tragische des geschichtlichen Lebens, seine Unheilbarkeit vorzubereiten. Denn in der Geschichte erscheinen notwendig Ansprüche, die notwendig unerfüllt bleiben. Sie ist eine einzige Variation des Gesprächs des Herrn mit Pilatus, Seiner abgründigen Ironie, die nicht aufhebt und doch in Frage stellt. Es wird, vom Irdischen her gesehen, als letztes Wort der Macht und des Mächtigsein immer gelten, was Quintus Scipio Metellus, noch Imperator im alten Sinne, von sich sagte, als er sich nach der Schlacht von Thapsus tötete und ins Meer stürzte: der Imperator ist gerettet. Auch Cäsar, der Imperator, der nun kommt und siegt, wird nach wenigen Jahren kein anderes Wort haben: immer müssen Felsen sein, an denen die Kräfte der Menschen und Völker sich verdichten: immer müssen sie fallen; es müssen die sein, die durch- brechen, und die ändern, die sich widersetzen. Das ist ja das Furchtbare: daß wir keinen Faden, auch den dunkelsten nicht, aus dem Teppich ziehen können; daß das „Du sollst“ und „Du sollst nicht" unabänderlich sind; daß die Welt untergeht in die Schuld aller und diese Schuld gerichtet wird. Der Plan ist nicht faßbar; das Ziel kann nur geglaubt werden. Da wir uns dem verborgenen Ende mit wachsender Schnelligkeit nähern; da ein jeder in seinem eigenen Tod vor das Ende der Geschichte gelangt — denn am Jüngsten Tage, dem Gerichtstag über die Geschichte, wird er erwachen und von seinem Tode bis zu diesem Tage ist keine Zeit mehr —, so müssen wir das Ende und die Verantwortung vor Ihm mit wachsender Intensität in unser Geschichtsbewußtsein aufnehmen. In der Geschichte leben heißt: im Angesicht des Endes leben.

Aber für das zur Zeit des ersten Zusammenbruchs herrschende Weltbild — neben dem freilich durchaus andere Weltbilder standen — war die Katastrophe nicht viel mehr als ein Maschinendefekt: man muß nachsehen, wo der Fehler steckt und die Maschine überholen. Dann wird die Reise besser gehen.

So traten wir waffenlos in die Welt. Mit einem Freunde wetteiferte ich im Tragödiendichten; kritiklos und erschüttert folgte ich im Kurtheater den Aufführungen klassischer und moderner Stücke. Es war die Zeit, da Ibsen von Strindberg abgelöst wurde und Wedekind hereinflackerte; die Bewunderung der Gesellschaftsstücke Ibsens — die ja gar nicht sein Eigentliches sind — habe ich nie aufgegeben. Es ist eine Bewunderung der Technik; denn was soll man von einer Tragik halten, die darauf beruht, daß Menschen im Zimmer eingeschlossen sind und den Ausgang nicht finden. Der im Käfig kreisende John Gabriel Borkmann spricht für alle, für das Bürgertum selbst. Nora stößt die Tür auf und ist gerettet, und doch keineswegs frei. Aber Ibsens Epilog in seiner Begrenztheit und Unerbittlichkeit läßt sich so wenig überbieten wie seine Technik; seine Ungewißheit vor allen letzten Fragen war die der Aera; er ergriff mich, weil ich in seinem Werke den Abschied witterte von der Zeit, aus der ich kam, ebenso wie in den Stücken Hauptmanns. Für Haupt m a n n, als Dichter des Untergangs und des M i 11 e i d s mit den Untergehenden, faßte ich damals eine leidenschaftliche Liebe; ich suchte nach jeder Zeile, die von ihm erreichbar war. Und nach vielen Jahren erschien es mir märchenhaft. als ich im Hause meines Freundes Leo von König eines Abends neben ihm saß, in seine gütigen, keineswegs zwingenden, fast ratlosen Augensah und ihn den Sokrates preisen hörte als das große Vorbild der Dichter und Schriftsteller: den Mann des Wortes, der kein einziges Wort geschrieben hat. — Nur in der Comédie Française, vor den Gestalten Racines und Corneilles, habe ich später eine ähnliche Erschütterung durch die Szene erfahren wie im Kurtheater und namentlich dem kleinen Hoftheater in Baden, das in seiner bescheiden höfischen Pracht und konzentrischen Wirkung mir noch heute als der schönste Theaterraum erscheint. Es ist der Ort für die von Ibsen abgeschlossene, von Strindberg und dem spätesten Hauptmann durchbrochene Elegie auf die bürgerliche Kultur: eine Kultur, die in Deutschland doch nur möglich war unter dem von ihr befehdeten Fürstentum.

Auf dem letzten Schuljahr lag etwas Versöhnliches, als wollten zwei Menschen sich die Hand geben, die einander nie verstanden haben, aber doch Gottes Segen wünschen in der tröstlichen Ueberzeugung, daß sie sich niemals Wiedersehn. Es wurde zu unserer Freude verkürzt, da von diesem Jahre an der Abschluß vom Herbst auf das Frühjahr verlegt wurde. Das beschleunigte und erleichterte das Abitur. Ich glitt wie durch die ganze Schulzeit hindurch, ohne auffälliges Mißgeschick und ohne die ‘Kenntnisse, die man nach einem zwölfjährigen Aufenthalt in den Klassenzimmern hätte erwarten müssen.

An einem regnerischen Abend im April fand sich die Klasse mit den Lehrern in einem verödeten Hotel zur Abschiedsfeier zusammen. Es war das übliche Gemisch von Traurigkeit und banalen Scherzen; Gaudeamus igitur mußte gesungen werden — denn mit Abschiedsgefühlen pflegt der Deutsche zu beginnen —; ich habe keine Mitschuld daran. Denn schon in der Sexta wurde ich von dem meist vor Aerger bis in die Schnurrbartspitzen zitternden gelbsüchtigen Gesangslehrer mit den Worten: „Du kannst nicht singen“ aus dem Raum gewiesen und aller musikalischen Uebungen enthoben. Musik erschüttert mich wie die unerlernbare Sprache eines gewaltigen Volkes. Ich weiß von den meisten Kameraden nicht, was aus ihnen geworden ist. Als wir, nach mäßigen Genüssen an Wein, Bier oder Apfelmost, uns trennten, war _ Nacht, und es regnete noch immer. Die Allee war nur spärlich erleuchtet; der Krieg war kaum vorüber, und die Saison hatte noch nicht begonnen. Ein jeder suchte allein seinen Weg; und vielleicht den besten ist eine Kameradin gegangen, die ich nach dreißig Jahren im’ Kloster Lichtental durch das Gitter des Empfangssaales im Kreis der Ehrwürdigen Frauen, denen die Aebtissin Vorstand, Wiedersehen sollte.

Die Angst vor dem Leben verließ mich nicht. Ich hatte die Sehnsucht, zu gestalten, was mich bewegte. Aber wie hätte ich Bilder des Lebens formen sollen, da ich mich nicht fähig fühlte, mein eigenes Leben zu ge stalten? Trotzdem folgten zwei oder drei glückliche Wochen. Ich versuchte mir einzureden, daß ich aller Lasten ledig sei und hatte damit Glück. Es war ein mildes, regenreiches Frühjahr. Ich ging jeden Tag durch den Wald hinab in ein Wiesental, wo die Sumpfdotterblumen üppig blühten an den Ufern eines Baches. Wir waren oft in Begleitung der Eltern da gegangen. Aber das war nun ganz fern. Ich setzte mich unter die Buchen am Waldrand und sah zu der Kuppe aus reglosen Kiefernwipfeln hinauf. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte. Es war das letztemal, daß ich die Landschaft der Heimat in solcher Nähe empfunden habe.

Aus „Verhüllter Tag", Verlag Jakob Hegner, Köln.

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