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Ich bek

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Ich war schon über vierzig Jahre alt, ein bekannter Londoner Modearzt, als jenes große Erlebnis meines Daseins eintrat. Viele würden es vielleicht meine .Bekehrung“ nennen. Aber das Wort Bekehrung ist mir verhaßt; es läßt an eine Wiedererweckungsversammlung denken, wo der erstbeste Sünder unter dem Eindruck der Massenerregung vortritt und ein hysterisches Besserungsgelübde ablegt. Ich bin auch nicht so eingebildet, für mich eine großartige und dramatische Erneuerung zu beanspruchen. Ich war kein Saul von Tarsus, kein Augustinus, der durch eine plötzliche Vision zu schneller und leidenschaftlicher Besserung gezwungen wurde. Nichtsdestoweniger entwickelte sich zu dieser Zeit in mir eine neue Lebensauffassung und vor allem eine neue Einstellung zur Religion. Dies war an sich eine bemerkenswerte Wandlung, da ich infolge besonderer Umstände meiner Erziehung lange ziemliche Gleichgültigkeit gegen jegliches Glaubensbekenntnis gezeigt hatte.

Das wird besser verständlich, wenn ich erkläre, daß sich meine Mutter, eine Montgomery, Zweig einer der ältesten und streng protestantischen schottischen Familien, schon mit neunzehn Jahren in einen jungen irischen Katholiken verliebt hatte, von daheim fortgelaufen war, ihn geheiratet und im Überschwang ihrer Liebe freiwillig seinen Glauben angenommen hatte. Als einziges Kind dieser Verbindung wurde ich in den Schoß der katholischen Kirche aufgenommen und kannte sieben Jahre lang nichts anderes als die zarten Geschichten der Heiligen und die ungetrübte Ruhe eines glücklichen Familienlebens. Dann starb mein Vater ganz plötzlich. Er hatte immer alle seine Einnahmen verbraucht — außer der Erinnerung an seine schöne Gestalt, seine Freigebigkeit und seinen unauslöschlichen Charme konnte er uns wenig hinterlassen. Zwei Jahre kämpfte meine Mutter, uns durchzubringen. Dann zwang sie die unerbittliche Not, ins Elternhaus zurückzukehren.

Welch eine Heimkehr für eine Frau, die in den Augen eines strengen Vaters ihrer Familie Schande gebracht hatte! Und für mich, den unerwünschten Enkel, den unerträglichen Inkubus, den kleinen Papisten, welch traurige Veränderung der Lebensumstände und der Umgebung! Als ich in die neue Schule geschickt wurde, rief meine Religion, die bald entdeckt wurde, bei meinen Mitschülern, durchwegs Nichtkatholiken, ein Hohngelächter hervor. Viele Monate litt ich, ein von einer skrupellosen Menge gequälter und geplagter Ausgestoßener — denn ich weigerte mich hartnäckig, dem Glauben meines Vaters zu entsagen —, zutiefst unter der grausamen Unduldsamkeit einer kleinen schottischen Gemeinde. Zu jener Zeit wucherte die Bigotterie im ganzen westlichen Schottland. An Gedenktagen, zum Beispiel am Geburtstag von John Knox und dem Jahrestag der Schlacht am Boyne, sah ich Haß bis zum Bodensatz aufgewühlt, wurde Zeuge der bitteren Feindschaft zwischen den Sekten, erlebte nur die schlimmsten Seiten des Christentums. In dieser Wildnis irrte ich allein umher, ein einsamer kleiner Junge, überwältigt von Zweifeln und Ängsten, verzweifelt bemüht, mir selbst die Wahrheit meines so verhöhnten und verachteten Glaubens zu beweisen.

Später wurde ich härter, wehrte die ärgsten Quälereien ab, lachte mit den andern über meine Schwierigkeiten, wurde beliebt durch meine Geschicklichkeit im Sport. Dann kam die Zeit, da ich, nachdem ich mehrere Stipendien gewonnen hatte, die Universität beziehen konnte, und hier trat die latente Auflehnung, die sich in mir gegen meine hinderliche und kompromittierende Religion zusammengebraut hatte, aktiv zutage. Stolz auf meine kritischen Fähigkeiten, fand ich Einwände gegen die Unsterblichkeit der Seele, die zu meinem Stand als Student der Biologie ausgezeichnet paßten. Meine anatomischen Studien bestärkten mich in dieser neuen Haltung der Gleichgültigkeit. Und als ich heiratete, dachte ich, obwohl ich aus verkehrtem Ehrgefühl die äußere Form des Katholizismus beibehielt, wenig daran, seine Lehrsätze und Verpflichtungen zu erfüllen. Die Kräfte der Natur regten sich stark in mir. Wenn mein Gewissen mir zu schaffen machte, begrub ich es unter einem Haufen weltlicher Interessen. Während ich das Christentum nie verleugnete — dazu war ich zu feige —, vergaß ich es passenderweise. Ich hatte das letzte Ziel eines egoistischen Daseins erreicht. Nach einer solchen Vergangenheit der Selbsttäuschung und Selbstgefälligkeit mag es unfaßbar scheinen, daß ich Seelenfrieden suchte, indem ich zu meinem Kindheitsglauben zurückkehrte, entsprechend den Worten der Ermahnung: „Wenn ihr nicht umkehret und wie die Kinder werdet, so werdet ihr nimmermehr in das Himmelreich kommen.“ Dieser Glaube war mir jedoch nicht fremd; denn wie sehr ich mich auch dagegen wehrte, seine Schranken hatten mich stets umschlossen, und unablässig hatte ich in meinem Herzen, ruhig durch den Tumult der Welt klingend, den Widerhall jener Stimme gehört, die sich nicht verleugnen ließ.

Es war kein leichter Schritt, bitter für die Selbstliebe. Jahrelang war ich stolz und selbstgefällig dahingegangen. Aber die wachsende innere Trostlosigkeit übte einen unentrinnbaren Zwang aus. Ich stolperte weiter; meine letzten Verteidigungsfesten waren zertrümmert, und ich ergab mich der Sehnsucht meiner Seele. Und durch welche Mittel es auch bewerkstelligt wurde, meine Zeit der Rebellion gegen den Himmel war endlich vorbei.

Es ist wenig Tugend in diesem Erleben, das ja der unvermeidliche Kreislauf vieler schwacher und gewöhnlicher Seelen ist. Ja, bei manchen, die in ihre Rüstung zorniger Verachtung eingezwängt sind; mag eine solche „Reue“ nichts anderes als ein mitleidiges Lächeln hervorrufen. Zu meiner Verteidigung kann ich nicht einmal ein sichtbares Zeugnis der Gnade vorweisen, das sich aus meiner Unterwerfung ergeben hätte. Im Gegensatz zu jenen, die sich mit einem Schlag als „erlöst“ betrachten, und hierauf mit dem Lächeln des Erwählten auf den Zehenspitzen einhergehen, hatte ich immer noch meine alten Fehler — Jähzorn, Neid und Selbstsucht. Die geheimen Quellen meiner größten Mängel wollten nicht verdorren. Auch konnte ich mich, wenn ich auch mein Kissen weniger luxuriös zu machen trachtete, nicht dazu bringen, auf meine Freude an oberflächlichen und äußeren Dingen ganz zu verzichten. Das mystische Reich der Heiligen war mir sehr fern.

Trotzdem fühlte ich, obwohl ich mich nicht vollständig häutete, in meinem Inneren eine neue Leichtigkeit, eine Empfindung der Freude. Ich arbeitete mit neuer Frische. Traurigkeit, Spannung und nagende Langeweile, die mir zugesetzt hatten, waren fort. Ich hatte laut geschrien, und der Himmel hatte meinen Schrei gehört. Wenn ich strauchelte, von meinen Leidenschaften noch immer befallen, raffte ich mich wieder auf und bot meine Handgelenke freiwillig mit echter Zerknirschung den Fesseln eines aktiven Gewissens dar. Ich hatte die ungeheure Entdeckung gemacht, wozu ich lebte.

So bin ich dazu gelangt, die große Täuschung zu erkerinen, die in der Verfolgung eines rein materiellen Zieles liegt. Welch eine seichte Befriedigung bringen vorübergehende Ehrungen und weltliche Größe! Wie trostlos vergeblich ist das ungestüme Verlangen nach Gewinn, von dem die Wechsler der Welt besessen sind, die nach bedruckten Papierfetzen greifen und einen unstillbaren Hunger nähren! All die materiellen Besitztümer, nach denen ich so angespannt strebte, bedeuten mir jetzt weniger als ein Blick der Liebe von jenen Menschen, die mir teuer sind.

Vor allem bin ich überzeugt, daß jedes menschliche Herz unwiderruflich und unentrinnbar Gott braucht. Einerlei, wohin wir zu flüchten trachten, uns ins rastlose Suchen verlieren, wir können uns von unserem göttlichen Born nicht absondern. Es gibt keinen Ersatz für Gott. Wenn wir es auch nicht voll erkennen mögen, wir leben im göttlichen Wesen. Das Ebenbild Gottes ist in allen Menschen zu finden.

Von einem bin ich überzeugt: nichts, keine Philosophie, keine Macht auf Erden wird unsere erschütterte und zertrümmerte Welt wiederherstellen, außer die Lehre desjenigen, der die Bürde der ganzen Menschheit nach Golgatha trug.

Wenn die Welt ein Ort der Verwirrung und Müdigkeit scheint, ist das der Lichtschimmer am dunklen Horizont, das Heilmittel, welches Erlösung von Elend und Hader bedeutet. Trotz der Grausamkeiten, der Kriegsdrohung und offenen Feindschaft, den Zerstörungen und Vertreibungen, setze ich eine unauslöschliche Hoffnung in die moralische Erneuerung der Völker auf Erden.

Alles menschliche Leid ist ein Akt der Buße. Eine einzige Träne der Reue, ein Schrei aus der Tiefe genügt. Der Zöllner, der weit hinten im Schatten des Tempels stand, brauchte nur sein Haupt in Kummer zu beugen: „Gott sei mir Sünder gnädig.“ Das ist das höchste Gebet... das Gebet für mich... sicherlich das Gebet für uns alle.

Aus „Abenteuer in zwei Welten, Mein Leben als Arzt und Schriftsteller“. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien.

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