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Tagebuch einer Seele (ii)

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Groppino, 10. August 1914 (10. Jahrestag der Priesterweihe)

Zwei Gefühle erfüllen heute mein Herz: lebhafte, süße Freude und tiefe Beschämung.

Wie viele allgemeine und besondere Gnaden in diesen zehn Jahren! Durch die empfangenen und durch die gespendeten Sakramente, durch die vielfache und verschiedenartige Ausübung des Priesteramtes: mit Worten, mit Werken, öffentlich, privat, im Gebet, im Studium, unter kleinen Schwierigkeiten und kleinen Kreuzen, in Erfolg und Mißerfolg, durch die immer reichere und von Tag zu Tag wertvollere Erfahrung, im Kontakt mit den Vorgesetzten, mit dem Klerus, mit dem Volk aller Altersstufen und aller sozialen Schichten! Der Herr blieb in Wahrheit Seinen Versprechungen getreu, die Er mir am Tag meiner Priesterweihe, dort in Rom, in der Kirche Santa Maria in Monte Santo gemacht, als Er zu mir sprach: „Iam non dicam vos servos ... sed amicos“ (Vgl. Joh. 15, 15). Jesus war mir wahrhaftig ein Freund; weit öffnete Er mir das Innerste Seines Herzens. Wenn ich bedenke, was Er alles weiß und sieht, und dann nicht zugäbe, daß ich Freude darüber empfinde, so wäre ich nicht aufrichtig. Auf dem gepflügten und besäten Acker stehen ein paar Ähren; vielleicht kann man eine kleine Garbe daraus binden. Sei dafür gepriesen, mein lieber Herr, denn alles Verdienst kommt von Deiner Liebe.

Was mich betrifft als meine eigene Sache, kann ich nur beschämt sein, weil ich nicht mehr getan, weil ich so wenig geerntet habe, weil ich dürres und wildes Erdreich geblie-_ ben bin. Wie viele wären — mit den Gnaden, die ich erhalten habe, und sogar mit noch viel weniger — heute Heilige! Wie viele Anregungen wurden wieder und wieder meinem Herzen gegeben und noch nicht befolgt. Mein lieber Herr, ich erkenne meine Unzulänglichkeit und mein tiefes Elend; sei mir gut mit Deiner Verzeihung und Deiner Barmherzigkeit.

Rings um die Freude und um das Bedürfnis, Verzeihung zu erlangen, blüht das Gefühl der Dankbarkeit auf. Alles, o Herr, wurde in Deiner Glorie vollbracht. Sei bedankt dafür, jetzt und immer.

Doch ein Gedanke beschäftigt mich heute im Jubel meines zehnjährigen Priestertums am stärksten; es ist dieser: Ich gehöre nicht mir selbst oder anderen — ich gehöre meinem Herrn für das Leben und im Tod. Die priesterliche Würde, die zehn Jahre Gnaden aller Art, mit denen ich — das so kleine, so arme Geschöpf — überhäuft wurde, sagen mir eindringlich, daß mein Ich vernichtet werden muß, daß meine Energien auf nichts anderes gerichtet sein dürfen als auf die Mitarbeit im Reiche Jesu im Geist und im Herzen der Menschen, in aller Einfachheit und auch im Verborgenen, aber von nun an mit größter Intensität im Planen, Denken. Wirken.

Die besondere Artung meines Charakters, die Erfahrungen und die Umstände leiten mich eher zu einer ruhigen, friedlichen Arbeitsweise hin, ferne von jedem Schlachtfeld, und nicht zu einer kampfeslustigen Haltung, zu Polemik und Streit. Nun gut, ich will mich nicht zum Heiligen machen, indem ich ein von Natur bescheidenes Wesen entstelle, um eine unglückliche Nachäffung anderer anzustreben, deren Wesensart der meinen entgegengesetzt ist. Aber dieser Geist des Friedens darf keine Einwilligung in Selbstliebe und Bequemlichkeit sein und auch keine Laxheit im Denken, in den Prinzi-

Der Sanilätssergeanl des 1. Weltkrieges pien und in der Haltung. Das gewohnte Lächeln muß den inneren, bisweilen entsetzlichen Kampf gegen den Egoismus verbergen und, wenn nötig, den Sieg des Geistes über die Sinne und über die Eigenliebe darstellen, so daß Gott und mein Nächster immer den besten Teil von mir bekommen.

Was wird nach zehn Jahren Prie-stertum meine Zukunft sein? Geheimnis! Vielleicht bleibt mir nur mehr wenig Zeit bis zur letzten Rechenschaft. O Herr Jesus, komm und nimm mich! Aber wenn das noch einige, noch viele Jahre dauern soll, nun, dann möchte ich, daß es Jahre intensiver Arbeit seien, in den Armen des heiligen Gehorsams, mit einer großen, ein ganzes Programm bedeutenden Linie, aber ohne daß ein einziger Gedanken sich gegen den Gehorsam vergehe. Ehrgeizige Zukunftssorgen verzögern das Werk Gottes in uns, Seine Wege, und nützen nicht einmal den materiellen Interessen. In diesem Punkt nehme ich mir vor, besonders wachsam zu sein, und zwar Tag für Tag, denn ich stelle mir vor, daß mir mit den Jahren — und vielleicht sehr bald — der Kampf gegen den Ehrgeiz nicht erspart bleiben wird. Möge an mir vorübergehen und mich überholen, wer will; ich bleibe unbekümmert dort stehen, wo die Vorsehung mich hingestellt hat, und lasse den anderen den Weg frei.

Ich will meinen Frieden bewahren, der meine Freiheit ist; deshalb werde ich mir immer die vier Dinge vorhalten, von denen Thomas a Kempis (3. Buch, Kap. 23) sagt, daß sie „magnam importantibus pacem et veram libertatem“ „ ... großen Frieden und wahre Freiheit bringen“). Es sind dies:

1. Stüde alterius potius facere voluntatem quam tuam. (Befleißige dich, den Willen eines anderen lieber zu tun, als deinen eigenen.)

2. Elige Semper minus, quam plus habere. (Ziehe es vor, lieber weniger zu haben als mehr.)

3. Quaere Semper inferiorem locum, et omnibus subesse. (Suche immer den letzten Platz und trachte, allen untertänig zu sein.)

4. Opta Semper et ora ut voluntas Dei integre in te fiat. (Wünsche und flehe allzeit, daß der Wille Gottes in dir vollkommen erfüllt werde.)

In dieser Haltung, o mein Herr, wende ich mich Dir zu und bringe Dir das kostbare Gefäß meines durch Deine Salbung geheiligten Geistes dar. Erfülle es mit Deiner Kraft, die die Apostel, die Märtyrer und die Bekenner geschaffen hat. Mache mich nütze für etwas Gutes, Großmütiges, Hohes: für Dich, für Deine Kirche, für die Seelen. Ich lebe, ich will nur dafür leben.

Während ich am Ende dieses heiligen Tages, der mit der Erinnerung an meine Priesterweihe in meinem Herzen süße Gefühle wieder erweckt hat, diese Gedanken zusammenfasse, liegt ganz nahe von hier mein verehrter Bischof (Anm. Exz. Radini Tedeschi), der für mich alles ist — die Kirche, der Herr Jesus, Gott —, seit langer Zeit leidend darnieder. Wie leide ich mit ihm und für ihn, wie traurig und ruhelos sind diese Ferien für mich. O Herr, wenn es Dir so gefällt, heile mir meinen Bischof schnell; gib ihn seiner apostolischen Arbeit, gib ihn seiner, gib ihn Deiner Kirche, Deiner Glorie und der Liebe so vieler Kinder zurück!

Herzzerreißender als der sanfte und ergebene Schmerz meines Bischofs ist der Kriegslärm, der sich in diesen Tagen in ganz Europa erhebt. Herr Jesus, ich hebe die priesterlichen Hände über Deinen mystischen Leib und wiederhole in Tränen das Gebet des Heiligen Gregor, ich wiederhole es heute mit besonderer Inbrunst: „Diesque nostros in tua pace disponas.“

Und die Kirche in dieser Sintflut? Rette sie, rette sie, o Herr! Vor zehn Jahren, als ich — welch süße Erinnerung — das erste heilige Opfer über dem Grab des heiligen Petrus in Rom feierte, hatte ich für den Papst und für die Kirche einen besonders glühenden Wunsch und Gedanken. Im Verlauf der zwei Lustren sind Gedanke und Wunsch nur noch lebendiger geworden

O Herr, gib Deiner Kirche in diesen Wirbelstürmen, in diesem Zusammenstoß der Völker „libertatem, unitatem et pacem!“

23. Mai 1915

Morgen rücke ich zum Militärdienst bei der Sanität ein. Wohin wird man mich schicken? An die feindliche Front vielleicht? Werde ich nach Bergamo zurückkehren oder hat mir der Herr auf dem Schlachtfeld die letzte Stunde bereitet? Ich weiß nichts. Ich will nur das eine: den Willen Gottes immer und in allem und Seine Glorie im vollkommenen Opfer meines Seins. So, und nur so, werde ich mich auf der Höhe meiner Berufung halten und durch Taten meine wahre Liebe zum Vaterland und zu den Seelen meiner Brüder beweisen. Der Geist ist willig und froh. Herr Jesus, bewahre mich immer in dieser Gesinnung. Maria, meine liebe Mutter, hilf mir „ut in omnibus glorificetur Christus“.

(Angelo Roncalli blieb im Lazarett von Bergamo stationiert; bis 28. März 1916 war er dort als Unteroffizier, später als Militärseelsorger tätig.)

28. April bis 3. Mai 1919

(Als Spiritual im Seminar von Bergamo, 1919—1920, oblag ihm die Sorge für die aus dem Feld, beziehungsweise aus den Kasernen heimkehrenden jungen Kleriker. Im November 1918 gründete er ein Studentenhaus. — Die folgenden Aufzeichnungen stammen aus den Exerzitien des Jahres 1919.)

1. Vier Kriegsjahre mitten in einer in Umwälzung begriffenen Welt ' - — wie viele Gnaden schenkte mir der Herr, wieviel Erfahrung, wie viele Gelegenheiten, meinen Brüdern Gutes zu tun! Mein Jesus, ich danke Dir und preise Dich. Ich denke an die vielen Seelen junger Menschen, denen ich in dieser Zeit nahegekommen bin, deren ich viele ins andere Leben geleitet habe; das ergreift mich noch immer, und der Gedanke, daß sie für mich bitten werden, gibt mir Trost und Mut.

2. Während alles wieder erwacht, wie im Licht eines neuen Tages, treten mir aufs neue — doch nun klarer und bestimmter — jene hohen Prinzipien vor Augen, die durch die Gnade Gottes die Nahrung meiner Jugend waren: die Glorie des Herrn, meine Heiligung, das Paradies, die Kirche, die Seelen. Der Kontakt mit der Welt in diesen Jahren gibt allen Prinzipien eine neue Richtung, erhebt sie und erfüllt sie mit einem glühenderen Wunsch nach Apostolat. Ich stehe im Alter der Reife: Entweder bringe ich jetzt etwas Wirkliches zustande oder meine Verantwortung wird furchtbar sein, weil ich die Erbarmungen des Herrn vergeudet habe.

3. Als Grundlage meines Aposto-lates will ich das innere Leben nehmen, das sich auf die Suche nach Gott in mir richtet, auf die innige Vereinigung mit Ihm, auf die gewohnte, ruhige Betrachtung jener Wahrheiten, die die Kirche mich lehrt und die meine religiösen Übungen durchströmen — Übungen, die mir immer lieber werden sollen und an deren zeitliche Einteilung ich mich sehr treu halten will, treuer als ich es bisher getan habe, teils aus Nachlässigkeit, teils auch, weil es mir während der Militärzeit nicht möglich war.

Vor allem will ich mich freuen, mit dem eucharistischen Jesus zu leben. Von heute an werde ich das heiligste Sakrament ganz nahe meiner Wohnräume haben. Ich verspreche, Ihm Gesellschaft zu leisten und der großen Ehre, die Er mir erweist, zu entsprechen. (Armut im Geiste)

4. Seit einigen Monaten habe ich ein Haus und habe es entsprechend eingerichtet. Und doch hat mich der Herr vielleicht noch nie so sehr wie jetzt die Schönheit und Süße der Armut im Geiste verspüren lassen. Ich wäre bereit, augenblicklich und ohne Bedauern alles zu verlassen;und solange ich lebe, will ich mich bemühen, dieses Gelöstsein von allen Dingen, die mir gehören, auch von denen, die mir am liebsten sind, zu bewahren.

Besonders verpflichte ich mich, die vollkommene Armut im Geiste in der absoluten Loslösung von mir selbst zu suchen, und zwar dadurch, daß ich mich in keiner Weise um Posten, Karrieren, Auszeichnungen und anderes bekümmere. Empfange ich denn nicht ohnedies schon zu viel Ehre durch die erhabene Einfachheit meines Priestertums und des Amtes, das ich nicht gesucht habe, das aber die Vorsehung mir durch die Stimme meiner Vorgesetzten anvertraut hat?

Ich halte das als Grundlage meiner guten Erfolge für besonders wichtig. Ich werde niemals ein Wort sagen, ich werde nichts tun und werde jeden Gedanken als eine Versuchung von mir weisen, der sich irgendwie darauf richten könnte, meine Vorgesetzten sollten mir ehrenvollere Posten oder Aufträge geben. Die Erfahrung lehrt mich, Verantwortung zu fürchten. Diese ist schon schwer genug, wenn man sie im Gehorsam auf sich nimmt, und sie wird furchtbar für jenen, der sie sich selbst auflädt, indem er sich in den Vordergrund schiebt, ohne gerufen worden zu sein. Auch im kirchlichen Leben sind Ehren und Auszeichnungen „vanitas vanitatum“ (Ekkl. 1, 2): sie bestätigen den Ruhm eines einzigen Tages, aber sie gefährden den Ruhm in Zeit und Ewigkeit, und sogar der menschlichen Weisheit gelten sie wenig. Wer durch sie hindurch und an ihnen vorbei gegangen ist, an diesen Lappalien, wie es mir in Rom und in den ersten zehn Jahren meines Priestertums geschehen ist, kann wohl sagen, daß sie keinen anderen Namen verdienen. Avanti, avanti, chi vuole! Voran, voran, wer will! Ich beneide keinen dieser Glückspilze. „Mihi autem adhaerere Deo bonum est, et ponere in Domino Deo spem meam“ (Psalm 72, 28).

(Sorge um die Jugend)

5. Es gab in der Vergangenheit Tage, da ich nicht wußte, was der Herr nach dem Krieg von mir wollen wird. Jetzt besteht kein Grund mehr zur Unsicherheit oder zu weiterem Suchen: das Apostolat bei der studierenden Jugend —das ist meine Hauptaufgabe, das ist mein Kreuz. Wenn ich daran denke, auf welche Weise, unter welchen Umständen und wie spontan dieser Plan der Vorsehung mir — durch meine Vorgesetzten — unerwartet mitgeteilt worden ist und wie er sich jetzt entwickelt, dann bin ich ganz ergriffen und muß gestehen: hier ist wahrlich der Herr. Wie oft, wenn ich abends den Tag überdenke, den ich in der Sorge um meine liebe Jugend verbracht habe, fühle ich in mir etwas davon, was die Herzen der zwei Jünger auf der Straße nach Emmaus erzittern ließ, als sie mit dem Göttlichen in Berührung kamen! Oh, wie wahr ist es, daß es genügt, sich vollkommen dem Herrn anzuvertrauen, um zu spüren, daß man mit allem versorgt wird! Das „nihil habentes“ und das „omnia possiden-tes“ (vgl. 2 Kor. 6, 10: nichts haben und alles besitzen) erneuert sich täglich vor meinen Augen.

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