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Digital In Arbeit

Vor dem großen Rätsel

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Du starrst mich an, nicht fähig, etwas zu sagen — mein Gott, wie könntest du auch!

Ich habe dich aus dem verstaubten Dasein eines Gegenstandes herausgeholt, der dazu verurteilt ist, in schweren versperrten Truhen die Zeiten zu überdauern. Beinahe erscheint es mir wie eine Errettung aus den gnadenlosen Fangnetzen der Vergessenheit, herüber in die Gegenwart. Die Gesellschaft von alten Uhren, Pfeifen, Bildern und leeren Rahmen, kleinen Statuetten und ähnlichen Dingen, deren Wert zwischen den Begriffen „Gerümpel“ und „Kleinodien“ schwankt, ist dir nicht ebenbürtig. Obgleich du — an und für sich — auch nur eine bestimmte Zusammenfügung toter Materie bist, so bist du doch umgeben vom Nimbus des zugrundegegangenen irdischen Lebens. Aber selbst dich, als wesenslose Spur der Vergangenheit, habe ich aus dem Zustand des „Gewesenseins“ erhoben in den Zustand des „Seins“. Nicht um deiner selbst willen, auch nicht um dessentwillen, was du einmal warst, sondern deiner Aufgabe willen, die du einst zu erfüllen hattest. Erst diese, deine ursprüngliche Funktion adelte dich, teilte dir im Mosaik der Schöpfung einen bestimmten Platz zu.

Dir widme ich meine Zeit, denn ich erachte dich dessen wert, dir, der du nicht nur warst, sondern für mich noch bist; du bist ein Toten- schädel.

Seat ich dich zum erstenmal gesehen, hast du mich in deinen Bann gezogen. Mich mit dir zu beschäftigen, wurde für mich wie eine Leidenschaft, Von all den Gegenständen meines Alltags ist es keinem bisher .gelangen, mich so zu fesseln. Deine Art zu faszinieren besteht in der unvergleichbaren Herausforderung an mich, dir Fragen zu stellen. Ich will deine Herausforderung annehmen.

Was ich von dir weiß, ist wahrhaft kärglich. Bilder, geschaffen von meines Großvaters Hand, deuten darauf hin, daß du ihm oftmals als Modell dientest. Zusammen mit Zinnkrügen, alten Büchern, Uhren, tropfenden Kerzen, welken Blumen und sonstigem Allerlei botst du meinem Großvater Motive für seine Stilleben. Es wäre daher denkbar, daß dein Ebenbild irgendwo in der Welt eine Wand ziert; vielleicht in Amerika, in Deutschland, ich weiß nicht wo.

Eigentümlich! Jetzt, da meine Gedanken zurück in diese Zeiten wandern, glaube ich mich zu erinnern, wie ich oft stundenlang, zu Füßen meines Großvaters sitzend, ihm bei der Arbeit zusah. Wenn er mich dann ihm helfen hieß, diesen wahren Berg von Motive bietenden Dingen wegzuräumen, da nahm ich möglichst eilig ein Buch oder sonst irgend etwas, nur um ja nicht dich in die Hände nehmen und wegtragen zu müssen.

Jahre vergingen, wie viele, vermag ich nicht zu sagen. Du warst wieder einmal aus dem Bewußtsein der Menschen verdrängt, ausgeschlossen, hineingezwungen in einen Zustand, der sich nicht sonderlich von einem Grab unterscheidet, bis ich dich wieder holte. Die Ehrlichkeit zwingt mich dazu, mir einzugestehen, wie sehr ich mir in dieser Rolle gefiel und noch gefallen

Du bekamst einen Platz in unmittelbarer Nachbarschaft alter Bücher, gut sichtbar für jedermann, einen, wahren Ehrenplatz. Dir galt immer mein erster Blick beim Eintreten in.- mein Zimmer, du konntest mich be obachten in meinem kleinen Alltagsleben, beim Studieren, beim Faulenzen, bei der Arbeit.

Es kam die Zeit, da ich dich eigentlich bei meinem Anatomiestudium gut als Objekt hätte brauchen können. Ich nahm dich sehr behutsam in meine Hände, drehte und wendete dich und war bemüht, dich vom rein medizinischen Standpunkt her zu begutachten.

Ich war dann daran, meine Sonde durch deine foramina und canales zu führen, als ich plötzlich innehielt. Nicht daß ich mich scheute, aus dir eben ein Studienobjekt zu machen; schließlich wäre es ja die höchstmögliche Funktion, die du jetzt überhaupt noch ausüben kannst. Nein, ich glaube beinahe, es war eine Art von Egoismus. Ich wollte einfach, daß du für mich ein großer Komplex von Rätseln bleiben solltest. Ich wollte, daß der Beantwortung dieser Fragen das unendliche Spielfeld meiner Phantasie offenstehe. Im Geiste ergänze ich dich zu einem menschlichen Kopf auf einem Hals, dessen Konturen in zwei Schultern auslaufen. Doch das Gesicht verliert immer mehr an Deutlichkeit, bis ich nur noch schattenähnlich die Nase, den Mund, die Augen erahnen kann. Über die Nase vermag ich nicht mehr zu sagen, als daß sie eben eine Nase ist, weder ausgezeichnet durch auffallende Länge oder Kürze, Krümmungen oder klassische Geradlinigkeit, eben nur eine Nase. Der Mund ist leicht geschwungen, nicht besonders breitlippig, die Mundwinkel stehen gleichgültig und teilnahmslos in einer Horizontalen. Wenn doch wenigstens die Augen, diese Tore zur Seele der Menschen, mir helfen könnten! Sie aber sind unbeirrbar- starr geradeaus- geriehtet, nicht weit aufgerissen, nicht zusammenge kniffen, Farbe kann ich keine erkennen.

Ich habe den Eindruck, das Konterfei eines prototypisierten Menschen zu sehen, bar jeglichen Geschlechtsdimorphismus. Je angestrengter und intensiver ich Einzelheiten wahrzunehmen versuche, um so mehr verblaßt das Bild, die Augen werden zu dunkel gähnenden Höhlen, die Nase verschwindet, vom Mund bleiben nur noch die zahnlosen, zackig ausgebrochenen Kiefer.

Gottlob ist ja dies alles nur eine Angelegenheit zwischen uns beiden. Wüßte jemand davon, ich fürchte, er würde mir mit besorgter Miene die Konsultierung eines Psychiaters anraten.

Je länger du Mittelpunkt und Ziel meiner Gedanken bist, um so mehr spüre ich in mir ein Gefühl herankeimen, daß wir beide doch nicht allein sind. Obgleich dieses Gefühl nicht näher definierbar ist, will mir scheinen, als wäre das, was dich einst zum Baustein göttlicher Schöpfung machte, mitten unter uns. Eben das absolut Unvergängliche jenes Menschen, dessen äußere irdische Erscheinungsform du einmal mitauf- aubauen hattest, sein Geist, seine Seele, das Rudiment jenes göttlichen

Odems, der dem ersten Menschen eingehaucht ward. Mag dieses Gefühl auch nur Einbildung sein, so verpflichtet es mich dennoch dir gegenüber. Es ermahnt mich immer wieder, in dir mehr zu sehen als die leblose Materie. Gerade dieser ewige Geist, dieses einst dir innewohnende Ebenbild Gottes, das nun zwischen dir und mir steht, erweckt unstillbare Neugierde in mir. Wann, wo, und unter welchen Umständen ging dieses irdische Leben zugrunde? Wie und wann gelangtest du in den Besitz meines Großvaters? Es gäbe soviel zu fragen!

Im Laufe der Zeiten wurdest du für die Menschheit das Symbol des Todes. Für mich aber bist und bleibst du mehr! Du hast mich erneut und sehr deutlich gelehrt, daß du und deinesgleichen nur der Minimalanteil dessen seid, was den Menschen zum gottesähniichen Geschöpf macht. Jetzt weiß ich auch, daß es in meinen Händen liegt, deinen Daseinskreis, soweit ich dazu fähig bin, zu schließen.

Wenn die Zeit kommt, werde ich dich hinaustragen, in die Natur, werde dich in die kühle Dunkelheit der Erde senken, werde beten für deine Seele „ ,et in pulverem reverteris“.

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