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Freundschaft mit Menschen und Büchern

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Ich will zu dir von der Liebe zu Menschen und Büchern sprechen, obwohl du noch wenig von dem verstehen wirst, was mir Herzensangelegenheit ist.

Heute wird dir der Brief vielleicht noch wenig sagen und bedeuten. Nein, heute bewegen dich mit deinen zehn Jahren noch ganz andere Gedanken und Gefühle, und das ist gut so. Bleibe noch lange ein rechtes Kind, mit allen deinen großen und kleinen Freuden und Sorgen, die für dich die Welt bedeuten. Die andere Welt, kleiner Axel, kommt ohnehin gar zu schnell zu dir und fordert dann von dir mehr als du in der Schule gelernt hast.

Aber wenn du später im Leben etwas leisten willst, ganz gleich, auf welchem Gebiet, dann wird es gut sein, meine ich, nicht geringschätzig über Schule und Elternhaus zu denken, wie es so viele tun, nur, weil sie glauben, Eltern und Lehrer hätten euren Kinderfreiheitsdrang eingedämmt! Ich habe es an mir erfahren, als ich Kind war, daß das Elternhaus und auch die Schule es gut mit mir meinten, selbst dann noch, wenn meine Kinderstreiche oft das Maß des Erträglichen überschritten. Natürlich war ich kein Musterknabe — und ich möchte auch nicht, daß du einer bist oder wirst! Eltern und Lehrer waren mir Freunde. Kann es anders sein? Ich weiß, nicht immer geht alles glatt und ohne kleine und große Tränen. Das hast auch du schon erfahren. Aber dennoch, mein Junge, dein kleines Kinderherz hat auch in den trübsten Minuten immer genau gewußt, daß bei aller gelegentlichen Strenge unsere Liebe zu dir bestimmend war.

Denn, sieh, Axelkind, wie könnten wir tnders handeln denn aus Liebe und Dankbarkeit! Wir haben ja immer nur den Wunsch, dir dein junges Kinderdasein so gut und schön zu gestalten, wie es in unserer verworrenen Welt möglich ist. Aber auch davon, daß die Welt so arg durcheinandergeraten ist und sich nur schwer wieder in die Ordnung fügen läßt, auch davon weißt du noch, nichts. Du ahnst vielleicht dann und wann etwas von, den Stürmen und Gewittern, aber bewußt miterleben kannst du es nicht. Noch nicht! Das ist wiederum gut so, denn wie sollte auch dein unschuldiges Kinderherz wissen können, wie schwer und schwierig das Leben ist, nicht nur heute, sondern zu allen Zeiten. Wie unendlich viel Menschen, darunter viele Kinder, die genau so kinderselig in den Tag leben wie du, blicken mit ängstlichen Herzen in die Zukunft.

Später, wenn du größer geworden bist, wird dir manches klarer werden. Du wirst dann anfangen, zu begreifen, daß es im Leben darauf ankommt, welche Menschen dich umgeben, vor allem dann, wenn wir dich nicht mehr jeden Tag beschützen und behüten können. In jedes Kindes Leben kommt einmal unweigerlich die Zeit, zuerst zaghaft, später dann immer stürmischer werdend, wo du deine eigenen Wege gehen wirst. Auch das ist richtig und gut, denn du sollst rechtzeitig ein selbständiger Mensch werden, der auf eigenen Füßen stehen kan.i und muß. Es kommt sehr darauf an, welche Freunde du dir gewinnen konntest.

Und nicht nur auf die Menschen, auf die Freunde, die zu vielen Zeiten und in ihrer Mehrzahl oft nicht d i e Freunde sind, die wir nötig haben, wenn unser Leben einmal heftig erschüttert wird. Wir haben es alle erlebt, daß dann oft auch andere Freunde, größere Bedeutung für uns haben. Ich meine die Bücher. In wenigen Jahren wirst du die Welt deiner Kinder- und Märchenbücher verlassen, obgleich du vermutlich immer wieder einmal in sie zurückkehren wirst. Denn, so denke ich, kommt die Zeit, da du Verlangen haben wirst nach den großen Büchern, die die Erwachsenen die Bücher der Weltliteratur nennen. Welche es sein werden, weiß ich nicht. Es ist auch unwichtig. Aber nicht gleichgültig ist es, in welchem Sinn und Geiste du dich der Welt der Dichtung hingibst. Denn immer wird es entscheidend sein, welchen Grad der Ehrfurcht und auch der Leidenschaft wir an eine Sache wenden. Das weißt du heute noch nicht — aber später wirst du es erkennen, wieviel innere Anteilnahme notwendig ist, um in das große Reich der Dichtung ein- und vorzudringen.

Dabei will ich dir von ganzem Herzen behilflich sein. Ich werde dir den Weg zeigen; vielleicht auch kann ich ein weniges dazu beitragen, dir das Geheimnis zu erschließen, das alle Kunst umgibt. — In unser aller Leben kommen Stunden und Tage, lieber Sohn, die schwer und entscheidend sind. Wie gut ist es dann, Freunde um sich zu wissen, die uns innerlich nahe sind und uns beraten können. Denke dann daran, was ich dir oben schrieb, daß Menschen in solchen Zeiten oft fern sind! Verlasse dich nicht auf sie! Es sind dann andere Freunde und Gefährten vorhanden, die Natur, die Musik, das Buch, die uns hilfreich zur Seite stehen. Deshalb ist es wohl notwendig, rechtzeitig die Freundschaft mit den Büchern zu schließen, damit man nicht zu sehr allein ist, wenn das Herz Zuspruch und Trost begehrt. Früh muß man sich den Dichtern zuneigen, früh den großen Wert erkennen, der in ihnen liegt. Deshalb sollst du kein Stubenhocker werden, der vor lauter

Büchern die Welt ringsum vergißt. Nein, das nicht. Fast möchte ich sagen: Hüte dich davor, die brausende Welt, das gärende Leben um dich zu vergessen, aber bedenke wohl die ersten entr scheidenden Schritte ins Leben und wäge ruhig und überlegt ab, was sich dir darbietet an Verlockungen und Begehrlichkeiten.

Mein lieber Sohn, ich will dir keine Lehren erteilen, keine Vorschriften machen, wie du dein späteres Leben beginnen sollst Und hätte ich ein todernstes Rezept, ich würde es' dir nicht verraten, weil jeder junge Mensch den Weg ins Ungewisse allein gehen soll und muß. Aber was ich möchte, das ist, dir einen kleinen Fingerzeig geben, wenn es einmal gefährlich im Lebensgebälk kracht und rumort. Es wird nicht immer nur die Sonne scheinen, Axelkind!

Unser Leben in diesen Jahren ist schwer und mühevoll. Wir haben einen Krieg hinter uns, der wohl der grausamste aller bisherigen war. Er zerstörte unendlich viele Kulturwerte in der ganzen Welt. Aber das Leidvollste ist, daß durch ihn Millionen von Menschenleben vernichtet und das Vertrauen der Menschen untereinander zerstört wurden! Leid und Trauer sind über die Welt gekommen in einem Ausmaß und in einer Ausweitung, die dir heute noch unbekannt sind.

Ich wünsche von ganzem Herzen, daß dir später die ganze Härte unserer Tage einmal bewußt wird, damit du einer von jenen neuen Menschen wirst, die immer und in jeder Lage den Haß verabscheuen und den Mut zur Liebe beweisen.

Halte dich an dieses Wort! Halte dich an die großen Dichtungen aller Länder, dann wirst du sie lieben wie die deiner eigenen Heimat! Schließe Freundschaft mit den Büchern und Menschen aller Nationen, dann schließt du Freundschaft mit der Welt.

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