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Brief einer dänischen Mutter an inr Kind

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Du bist erst zwei Jahre alt. Du weißt nicht, was alle Erwachsenen und größere Kinder heute beschäftigt. Du kannst kaum das Wort „Sputnik“ aussprechen. Aber Du wirst in eine Zeit hineinwachsen, in der die Bewunderung und Verwunderung über Trabanten am Himmelszelt verblichen sein wird. Wenn Du sieben Jahre alt sein wirst, wird es zur Gewohnheit geworden sein, die Piep-Rufe aus der Stratosphäre zu vernehmen. In zehn Jahren werden diese Tage bloß Vorzeit für Dich sein, Du wirst keine Erinnerung an die gewaltige Bewegung haben, die der erste Satellit hervorrief, als er von der Erde in den Himmelsraum aufstieg und sich auf seine Rundfahrt um den Erdball begab, worüber man in den Zeitungen lesen kann, ohne es jedoch richtig zu erfassen. Radio, Fernsehen, atombetriebene Schiffe, Züge, Flvzeuge und vielleicht Raumfahrzeuge — all dies wird für Dich selbstverständlich sein. Du wirst Dich darüber nicht wundern, daß man auf einen Knopf drückt und eine Reihe mechanischer Reaktionen auslöst, die eine Maschinerie lautlos in Bewegung setzt. Wenn Du groß sein wirst, wird die Automatisierung also eine Tatsache sein.

Aber in diesem Jahr, wo sich das Ganze den kalten Triumphen der Physik, der Chemie und der Mathematik zubewegt und die meisten Menschen jubilieren, schreibe ich diese Gedanken nieder, um Dich zu warnen. Es gibt in dieser Zeit verantwortungsbewußte Menschen, die beljäüpten, dieVerwendung von Atomen sei geradezu lebensgefährlich. Es sind Menschen mit wissenschaftlicher Einsicht und menschlichem Verständnis für die Gefahren, welche die Zukunft birgt. Diese Menschen werden vielleicht zum Schweigen gebracht worden sein, wenn Du erwachsen sein wirst. Du sollst aber wissen, daß sie existiert haben Sie marschierten nicht mit im Chor der blind Fortschrittsbegeisterten, sie riefen ihre Warnungen hinaus über die Erde, in Schriften und Büchern, und diese schriftlichen Anrufe an die Menschheit werden Dir stets zur Verfügung stehen, wenn Politiker und Wissenschaftler ihren Willen durchsetzen und im Begriffe stehen werden, den menschlichen Organismus zu zerstören und ihn auf ein Bündel von seelenlosen Reflexen zu reduzieren. Lies diese Bücher und Schriften, schöpfe Lehren daraus und besinne Dich!

Ich beabsichtige nicht, Dir diktatorisch meinen Gedankengang aufzuzwingen, aber ich bitte Dich eindringlich, lasse Dich nicht hinters Licht führen, glaube nicht an das abstrakte Leben der mathematischen Formeln, die mit Hilfe der Vollkommenheit zerebraler .Funktionen geschaffen werden, einer Vollkommenheit, der es an Geist gebricht. Ich muß Dir dies sagen, denn obgleich bloß ein Altersunterschied von 24 Jahren zwischen uns besteht, wirst Du in einer Zeit aufwachsen, die völlig verschieden sein wird von jener, in der ich aufwuchs. Eines jener Mittel, die Dir den Unterschied zeigen können, ist der Film. Der Film aus den Tagen meiner Kindheit und die meisten aus meiner Jugend waren schwarzweiße Bilder auf einer viereckigen Leinwand. Diese Begrenzung in Farbe und Format konnte große Kunst beinhalten, denn die menschliche Echtheit konnte auf der verhältnismäßig kleinen Fläche konzentriert zum Ausdruck kommen. Die Filme, die Du sehen wirst, werden technisch infiziert sein, farbige Panoramen auf Riesenleinwand. Die Handlung wird überwiegend von den unbegrenzten Möglichkeiten der Technik bestimmt sein. Das menschliche Moment wird in den Hintergrund treten und nur in einer Unmasse von Staffage durchblitzen. Möge es Dir gegönnt sein, filmische Kunstwerke anzusehen, die aus. Zeiten vor dem Sieg der Technifizierung stammen.

Ich bin keine schwarze Pessimistin hinsichtlich der Zukunft. Ich glaube, daß es in ihr ständig Menschen geben wird, die trotz des rabiaten Kultes der Technik es wagen werden, das Irrationale zu pflegen, unverwüstlich Kunst zu schaffen mit dem Herzen, und inre Ueber-zeugung der geistig schlummernden Menschheit

zuzurufen. Zu allen Zeiten mußten Geistesmenschen und schaffende Künstler gegen die stumpfe Gleichgültigkeit der Laien um ihre Existenz kämpfen, aber jetzt und hinkünftig werden sie noch intensiver kämpfen müssen als je, denn es ist im höchsten Grade eine gefährliche Zeit, der wir entgegengehen.

Wenn Du größer bist, laß Dich nicht davon mitreißen, was in aller Munde ist: daß viele Techniker gebraucht werden Du sollst nicht glauben, daß Du entbehrlich im Dienste der Technik bist... Ich verlange nicht von Dir, daß Du Dich nach meinen Wünschen richten sollst. Natürlich sollst Du Dich frei entscheiden gemäß Deiner Intelligenz und Deinen Ueber-zeugungen. Du bist erst zwei Jahre alt, und zu diesem Zeitpunkt kann nichts vorausgesagt werden, doch es ist meine innerste Hoffnung, daß Du den Mut aufbringen wirst, der notwendig ist, um in Opposition zur Zeit zu stehen. Mögest Du die toten Sprachen lieben lernen, Gedichte lesen und stumm vor Begeisterung vor einem Gemälde Rembrandts stehen. Und durch diese Erlebnisse lernen, daß es die Geistesmenschen und die schaffenden Künstler sind, deren wir bedürfen, um die Menschheit vor dem geistigen Tod zu retten.

Die Automatisierung gibt mehr Freizeit, und diese Freizeit will man jetzt zu einem Problem machen. Da ist absurd. Hier liegt Deine Aufgabe. Du sollst die Menschen lehren, zu lesen, zu schauen und 5zu hören. Lehre sie, auf Fang auszugehen im literarischen Strom, der durch die Jahrhunderte hindurch herabgeflossen ist, lehre sie, die Meister der Malerei zu verstehen — nicht bloß ihre Biographie, sondern ihre Kunst, die sie auf der Leinwand zum Ausdruck bringen. Und lehre sie, den großen Tondichtern der Vergangenheit und Gegenwart zu lauschen. Du sollst nicht den Stoff popularisieren, die Menschen sollen räumlich arbeiten in ihrer Freizeit, sie sollen sich selbst durch den Stoff zu dessen Verständnis hindurchringen. Glaube nicht den Pessimisten, die da sagen, es sei naiv, eine Aufgabe zu haben, weil die Menschen an einer geistigen Aktivierung nicht interessiert sind. Das ist Defätismus, der jede Initiative tötet. Sei mutig, kämpfe für Deine Ueberzeugung. Wir bedürfen des geistigen Fanatismus. Ich weiß, daß es kein leichter Weg ist, den ich Dir vorschlage; doch bin ich überzeugt, daß Du nicht ganz allein stehen wirst. Es wird immer Geistesmenschen geben, und ihnen sollst Du Dich anschließen. Aber ihr sollt nicht eine exklusive Gesellschaft in einem Elfenbeinturm bilden, ihr sollt mit in der Zeit leben und die Menschen lehren, daß Kultur eine unentbehrliche Notwendigkeit ist. Ihr sollt ein geistiges Muster in ihren Alltag hineinweben. Ihr sollt nicht geisteshochmütig sein. Ihr könnt eure Arbeit nur dann gut vollbringen, wenn ihr eure Mitmenschen liebt.

Man wird euch für unpraktische Individuen halten, die nicht in das politische Muster des Wohlfahrtsstaates hineinpassen. Aber das soll euch nicht verdrießen. Bereits vor vielen Jahren schrieb Chesterton: „Was wir brauchen, ist ein

unpraktischer Mann.“ Nun ist soviel Zeit verflossen, daß wir sowohl eine Masse unpraktischer Männer als auch eine Masse unpraktischer Frauen brauchen, Mütter, die so unpraktisch sind, daß sie den Mut haben, ihren Kindern zu empfehlen, für die Seele und nicht für die Technik zu kämpfen.

(Uebersetzt von Hans Erich Lampl.)

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