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Der Drache an der Schnur

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„Das Übel gedeiht nie besser, als wenn ein Ideal davorsteht“, sagt Karl Kraus; und er hat, wie uns gebrannten Kindern scheinen muß, so unrecht nicht. Da aber trotzdem die Menschen ihr tägliches Tun nicht an diesem selbst, sondern an ihren Träumen orientieren, muß offenbar ein Bedürfnis nach Träumen, nach Idealen und nach Utopien bestehen, das wir nicht ignorieren dürfen, sondern erforschen sollten, um es, dieses Bedürfnis, in nicht größerem, aber auch nicht geringerem Maß, als unserem täglichen Tun von Nutzen ist, stillen zu können.

Das Wort Utopie, aus dem Griechischen hergeleitet, bedeutet soviel wie Nirgendland: im Sinn von etwas zwar Vorstellbarem, aber nie und nirgends Verwirklichbarem, weshalb ihm, sehr im Gegensatz zu dem Begriff Ideal, ein eher negativer Beigeschmack eignet. Seit Thomas Morus gehört der Begriff Utopie zum politischen Vokabelschatz, während das Wort Ideal, im Grunde dasselbe meinend, einerseits als philosophischer Terminus und anderseits im populären Jargon gehandhabt wird. Wir gebrauchen hier „Utopie“ sowohl wertfrei als auch ohne die Einschränkung auf das Politische.

Man unterscheidet zwei Arten von Utopie beziehungsweise zwei Arten von menschlichem Bewußtsein bezüglich des Utopischen. Es kann der Mensch nämlich einen gedachten Idealzustand entweder als notwendig kommend behaupten und deshalb herbeiführen wollen oder als praktisch unerreichbares, aber trotzdem unerläßliches Rieht- und Wertmaß all seines Denkens und Handelns vor Augen haben. In jene erste Kategorie der unbewußten oder, wie ich lieber sagen möchte: der natürlichen Utopie, im Gegensatz zur künstlichen und eo ipso Gewußten Utopie, in jene Kategorie also gehören alle der Ratio entbehrenden Glaubenssysteme, vom Tausendjährigen Reich des Chiliasmus bis zum Tausendjährigen Reich des Nationalsozialismus. Der Utopist dieser Sorte konstatiert (oder konstruiert) bestimmte Ursachen, die seiner Meinung nach ganz bestimmte Folgen zeitigen müssen: ein Paradise now, zum Beispiel, oder den ewigen Frieden oder, bedeutendstes, weil gräßlichstes Beispiel, die klassenlose Gesellschaft.

Dieses modernen utopischen Unfugs Urahn ist zweifellos Hegel, der den wohl nur einem deutschen Denker zutraubaren Aberwitz hatte, sich als vom Weltgeist persönlich informierter Wegweiser in die historische Zukunft zu approbieren. Schon die absolut wissenschaftswidrige Methode seiner Geschichtsphilosophie, nämlich: das. was durch den Gang der Untersuchung zu beweisen gewesen wäre, als unangezweifelte und unanzweifelbare Voraussetzung — wie er wörtlich sagt — „mitzubringen“ (weshalb Jacob Burckhardt ihn treffend des „kecken Antizipierens“ bezichtigt hat): schon diese Methode müßte, bei tatsächlich waltender Vernunft in der V/eltgeschichte, ihn als Denker schlicht lächerlich gemacht haben.

Indessen: daß das Ergebnis der Weltgeschichte dereinst der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen sein müsse, wie Burckhardt zusammenfassend sagt, oder daß, um Hegel selbst zu zitieren, ein „von der ewigen Weisheit Bezwecktes“ in der Geschichte vorhanden, dem Menschen erkennbar und quasi auftragsgemäß von ihm, dem Menschen, verwirklichbar sei: das wurde tatsächlich geglaubt und nicht nur geglaubt, sondern sozusagen auch praktiziert: im Komunis-mus vor allem, oder im Nationalsozialismus. Man darf sicher sein, daß auch künftighin jeder, der einen Machtanspruch rechtswidrig und menschenfeindlich durchsetzen will, seine Gewaltanwendung gleichsam rehabilitieren wird mit dem von Hegel bezogenen pathetischen Geständnis, er spiele den Henkersknecht nicht in eigener, sondern in der Regie des Weltgeistes.

Man braucht kein Tiefenpsychologe zu sein, um zu erahnen, wie unbewußte Utopien sich bilden. Es ist die unergründlich tief und deshalb unausrottbar in einem Menschen sitzende Todesangst, die ihn lebensängstlich macht und ihn veranlaßt, ja geradezu zwingt dazu, imaginär vorwegzunehmen, was hic et nunc zu leisten er sich nicht zutraut; die Angst vor seinem konkreten persönlichen Schicksal, das er deshalb in eine abstrakte allgemeine Zukunft vorausprojiziert. Daß dabei das Kriterium des Menschseins, nämlich die Geschichtlichkeit, verlorengeht, versteht sich von selbst. Und dieser Verlust wieder zeitigt den sattsam bekannten Mangel an historischen Tatsachensinn — womit die utopische Katze sich in den nicht mindei utopischen Schwanz beißt.

Dem anarchistischen Utopister zum Beispiel schwebt die Visior einer der Ordnungsmacht entbehrenden Gesellschaft mündiger Menschen vor. Das klingt nicht übel doch nur so lange, als man nich fragt, welcher potentielle Realitäts-gehalt dieser Vision innewohnt, ds ihre historische und eo ipso kontrollierbare reale Basis, ihre faktischi Voraussetzung, der Prüfung nich' standhält. Denn wie man den Geis nur als eine Funktion der als Gehirr und Nerven bezeichneten Organ&#171; betrachten könnte (der streng begrifflich dann weder gesund nocl krank sein kann), so ist die Ulopi< gewissermaßen nur eine Funktioi des als Mensch bezeichneten Orga nismus, aus dessen Krankhaftigkei die Funktionsstörung herrührt, s< daß umgekehrt eine Funktionsstörung wenn nicht den Schluß, so docl zumindest den Verdacht auf ein&#171; Organ-Krankheit nahelegt. Und wii wissen nun, seit wir vom Menscher überhaupt wissen, daß diese] Mensch weder biologisch noch intellektuell noch moralisch perfekt unc auch niemals je perfektionierba war. Und nichts, aber wirkliel nichts, berechtigt uns zu der Vermutung oder gar Erwartung, er, diesei Mensch, werde jemals lernen, aufrecht zu gehen, ohne immer wieae: zu stolpern, zu straucheln, der Längs nach hinzuschlagen — was um anderseits freilich nicht die Erfahrungstatsache bezweifeln lasset sollte, daß er, dieser Mensch, di< verblüffende Fähigkeit besitzt, sirt dann doch immer wieder aufzurappeln und weiterzugehen.

Der anarchistische Utopist igno riert ganz einfach, daß gerade die von ihm erhofften Tugenden des Menschen, wie Mündigkeit und Selbstverantwortlichkeit, nicht gleichsam eingefleischte, sondern immer nur Tugenden ad hoc sein können: Chancen der Vervollkommnung, die man keineswegs zwangsläufig wahrnimmt, sondern weit eher und öfter verpaßt. Aber in seinem Verzicht auf Empirie übersieht er auch die nur scheinbar paradoxe Tatsache, daß die persönliche Freiheit adäquat dem Anwachsen der Staatsgewalt .seit dem 18. Jahrhundert zugenommen hat, qualitativ und quantitativ; ja mehr noch: daß Freiheit — ein Singular! — an die Stelle von Privilegien — ein Plural! — überhaupt erst getreten ist, seit es die bürgerlich-demokratischen Nationalstaaten gibt, was selbst in der kommunistischen Perversion des demokratischen Rechtsstaates noch geheimnisvoll durchschimmert, wenn der Marxismus-Leninismus den Umweg über die totale Staatsautorität als den einzig wahren Weg zur späteren, dann aber endgültigen persönlichen Freiheit propagiert; weshalb, bei logischer Betrachtung der Dinge, der von den Anarchisten geforderte Abbau der Staatsmacht, des Garanten der Gesellschaftsordnung, doch wohl eher eine Verminderung statt der selbstverständlich erwünschten Vermehrung persönlicher Freiheit zur Folge hätte. Kurzum: gerade die anarchistische Utopie belehrt uns darüber, wie notwendig es ist, die Schnur, an der man den Drachen steigen läßt, beständig fest in der eigenen Hand zu behalten.

Oder aber: sollten wir lieber nicht gleich versuchen, ganz ohne jedwede Utopie zu leben?

Die Frage ist müßig; wir könnten es nämlich nicht. Oder müßten es bitter bezahlen mit dem Verlust jener menschlichen Dimension, die eben dadurch, daß sie über unser Leben hinauszielt, uns in eben diesem Leben hält. Denken wir uns den Schriftsteller, der sich vor sein leeres Blatt Papier setzt, einsam mit sich und zugleich umringt von allen, die vor ihm geschrieben haben. Woher nimmt er den Mut, ja die Frechheit, den Schöpfungen eines Homer und Horaz, eines Dante und Shake speare, eines Cervantes und Goethe, eines Tolstoi und Hemingway Konkurrenz zu machen? Eingedenk dessen, was die Welt literarisch vor ihm geleistet hat, und eingedenk seiner eigenen Mängel und Schwächen, kurz: angesichts dieser ganz eklatanten Diskrepanz also müßte er seine Feder schon sinken lassen, ehe der erste Tropfen von Tinte aus ihr geflossen. Will er dennoch schreiben — und schreiben will er, denn „man kann sich“, sagt Raimund, „doch nicht in einem fort umbringen“ —, dann freilich bleibt ihm nichts übrig, als in einer Vision von dem Werk, das er schaffen soll, alles vor ihm Geschaffene zu verdunkeln. Mit dem ersten Federstrich, den er auf das Papier setzt, streicht er durch, was alle anderen geschrieben haben. Er, allein und einzig nur er, bringt das hervor, worin die Welt sich wiedererkennt: das Wort, das im Anfang war.

Es bedarf wohl keines Beweises, daß diese Hybris alleine noch keinen zur Künstlerschaft, gar manchen edoch schon in (meist aggressive) Verblödung geführt hat. Zwar noch 'inmal sei es gesagt: daß der Schriftsteller, wenn er schreibt, nur n jener skizzierten utopischen Ego-:entrik schreiben kann, weil sonst iie ungeheure Übermacht des schon beschriebenen ihm die Rede verschlüge. Jedoch: seine Hybris ist hm ein bloßes Mittel zum Zweck, solang er sich ihrer bewußt bleibt: iolang er sie als etwas Künstliches veiß und benützt, nicht als etwas Natürliches hat.

Oder etwa der Arzt: wie könnte ;r's überhaupt sein, ja: wie könnte ;r überhaupt Heilung, im ganz kon-creten Krankheitsfall, auch nur versuchen, wenn nicht, bei aller Ernüchterung spätestens vor dem roten, am Horizont seines Denkens and Trachtens die Utopie der Gesundheit blühte? Wer vermöchte zu ehren und zu erziehen, wenn er in len vor ihm hockenden Lebm-tlumpen nicht die, wenn auch nur dealisch, zu bildende Figur erahnte? Wer gar wollte es wagen, Recht zu sprechen nur im Namen der Repu-)lik, des Volkes et cetera und nicht &#187;uch im Namen der freilich stets maginären Gerechtigkeit?

Vielleicht am deutlichsten erhellt sich die Notwendigkeit der Utopie jerade dort, wo sie begrifflich im &#9632;ngsten Sinn beheimatet ist: in der Politik. Diese ist, wie jede Kunst, ;ine Kunst der kleinen Schritte; was linterher als der große Wurf erscheint, ist nichts anderes als die summe von tausend und aber-ausend kleinen Handgriffen. Wie iber sollte, wie könnte ein Politiker &#187;11 diese Schritte und Handgriffe lutzbringend setzen, wenn nicht ein Siel sie lenkte, das jenseits des jeweils Aktuellen liegt? Dieses Ziel nag heißen Völkerfriede oder Wohlfahrtsstaat oder nationale Wiedergeburt oder wie auch immer: dieses eigentlich, wenn auch nur indirekt gemeinte Ziel erst rechtfertigt hier diesen Vertrag und da diese Exportförderung und dort diesen Schulbau oder was auch immer. Wie der Magnet die Eisenfeilspäne, so ordnet die Utopie die Aktionen des Politikers, dessen pragmatische Existenz ohne solchen Sinnbezug immer sehr bald — die Beispiele sind anter uns

— zur Karikatur des Tatmenschen degeneriert.

Aber sogar in der Intimität zweier Menschen garantiert erst die Utopie wenn schon nicht das tägliche Bestehen selbst, so doch die Chance des täglichen Eestehens mit- und für einander: die Ehe wäre nichts weiter als kirchlich lizenzierte und staatlich legalisierte Prostitution, wenn in den beiden, die da einander gefunden zu haben wähnen, nicht jenes unsterbliche, weil niemals herstellbare Bild der zwei getrennten und fortan einander suchenden Hälften gleichsam skizziert wäre; so daß selbst das, was wir so leichthin als Ehekrach bezeichnen, vor diesem Hintergrund interpretiert werden darf als ein (freilich verzweifeltes) Ringen keineswegs eigentlich gegeneinander, sondern im Grunde gegen die mit dem Bild nicht korrespondierenden Fakten.

Unter diesem Aspekt wäre übrigens Don Juan durchaus nicht der sprichwörtliche große Liebende, sondern, im Gegenteil, die oersonifl-zierte Liebelosigkeit: der Mensch, der, wie jeder, zwar lieben wül, aber nicht lieben kann, weil jene platonische Utopie der Liebe, das Suchen nach der abgetrennten Hälfte, ihm schon nicht mehr als Utopie bewußt, sondern zur Natur geworden ist. Den Anspruch, den er, bei realistischer Einschätzung der menschlichen Möglichkeiten, an sich selber stellen müßte: diesen Anspruch stellt er an die anderen, konkret: an die Frauen

— womit wir, endlich zurück — zu der eingangs gegebenen Unterscheidung und zugleich ein neues Kriterium dieser Unterscheidung gefunden hätten; nämlich: der Mensch, dem die Utopie nicht bewußt, dem sie Teil seiner Natur ist, stellt mit dieser Utopie einen Anspruch an die Welt: So. wie ich sie mir denke, sollte sie sein! Der Mensch hingegen, der in seiner Utopie ein bewußt und künstlich geschaffenes Modell erblickt und der sie deshalb gewissermaßen nur als Arbeitshypothese benützt, stellt mit dieser Utopie einen Anspruch an sich selber: Meinem Denkmodell entsprechend sollte ich handeln!

Gewiß: auch diesem zweiten Typus des Utopisten droht ständig Entartung in Abstraktion, weil es viel Mühe bereitet, die Unvollkom-menheit des Menschen in Rechnung zu stellen, und weil es viel, unendlich viel Mühe bereitet, diese Un-vollkommenheit gar auch zu akzeptieren; und zwar droht sie, diese Entartung, um so gefährlicher, je größer der irrationale Anteil, je mächtiger die Glaubenssubstanz in seiner Utopie ist: die Fanatiker des Guten erweisen sich gelegentlich als rechte Teufel.

Nichts wäre banaler, als zu versuchen, Wort und Tat zur Identifikation zu bringen; aber nichts wäre wichtiger, als darüber zu wachen, daß sie in jeweils optimaler Korrespondenz miteinander stehen: das Wort muß anwendbar bleiben, ohne zum Alibi der Tat sich herzugeben; und die Tat muß verantwortbar bleiben, ohne das Wort zu desavouieren. Unser Werkzeug solcher Kontrolle nun ist die Ratio: nicht unbedingt im totalitären Sinn des Rationalismus verstanden, sondern als die Kunst der Bewußtheit gegenüber der Natur des Unbewußten; nämlich

— um sinngemäß mit Goethe zu schließen — die Ratio als Verpflichtung, zwar zu glauben und staunend zu verehren, aber erst dann zu glauben und zu verehren, wenn alles Erforschbare erforscht und alles Beweisbare bewiesen ist. Dies einmal vorausgesetzt und für allemal festgehalten habend, werden wir recht zu gebrauchen erlernen, was scheinbar jenseits von allem Gebrauch, oder nur zum Mißbrauch, vorhanden ist: wir schaffen und sehen und benützen dann unsere Utopien als trigonometrische Punkte in dem sonst unüberblickbaren Dschungel unserer Taten.

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