Franz Marc: Kämpfende Formen - © Foto: akg-images / picturedesk.com

Konrad Paul Liessmann: Das Böse, die Hölle, der Hass

19451960198020002020

Seit 25 Jahren werden beim „Philosophicum Lech“ philosophische Fragen diskutiert. ­Warum und wie braucht es heute noch Philosophie, auch ­angesichts des allgegenwärtigen Hasses?

19451960198020002020

Seit 25 Jahren werden beim „Philosophicum Lech“ philosophische Fragen diskutiert. ­Warum und wie braucht es heute noch Philosophie, auch ­angesichts des allgegenwärtigen Hasses?

Werbung
Werbung
Werbung

Das Böse, die Hölle, der Hass: drei Themen, die so zufällig wie signifikant die 25 Jahre des Philosophicum Lech umreißen. Natürlich war in diesem Vierteljahrhundert in Lech am Arlberg auch von vielem anderen die Rede: von der Kunst und dem Schönen, vom Eros und der Freiheit, vom Glück und von besseren Menschen. Dass diese Tagungen halb bewusst und halb intuitiv einen thematischen Bogen über die "Abgründe des Menschlichen" spannten, mag mit dem Anspruch zu tun haben, den eine Philosophie, die ihren Namen verdient, erheben muss: die Augen nicht vor dem zu verschließen, was man nicht sehen will. Nachzudenken galt es deshalb auch über die Macht und den Staat, über die Illusion und den Schein, über Gott und die Welt, über das Ich und das Tier.

Das Philosophicum war nie eine Wohlfühlveranstaltung, in der Tugenden wie Toleranz oder Diversität gepredigt wurden, wohl aber ein Unternehmen, das den Dingen auf den Grund gehen wollte. Was heißt das? Günther Anders, einer der großen unbequemen Denker des 20. Jahrhunderts, behauptete einmal, dass "die Chance des Philosophen in seiner Unfähigkeit [besteht], das Wort 'selbstverständlich' zu verstehen". Es gibt nichts, das sich von selbst versteht. Alles Verstehen ist Resultat von Denken, Handeln, Geschichte, Einflüssen, Suggestionen, Einbildungen, Informationen, aber nichts ist von selbst verständlich. Dass alle Philosophie, nach einem berühmten Wort des Aristoteles, mit dem Staunen beginne, gewinnt bei Anders einen provozierenden Unterton. Denn dieses Staunen ist nicht eines aus Verwunderung, sondern zunehmend eines, das aus dem Entsetzen wächst über das, was alltäglich und doch zutiefst befremdlich ist, was seine Bedrohlichkeit gerade aus seiner Alltäglichkeit entwickelt.

Diese Verweigerung des Selbstverständlichen macht den Philosophen grundsätzlich zu einer störrischen Figur: "An seinen Defekten sollt ihr ihn erkennen: nicht durch das, was er versteht, unterscheidet sich der Philosophierende vom Nichtphilosophierenden, sondern durch das, was er absolut nicht verstehen kann." Für eine philosophische Tagung mit öffentlichem Charakter wäre dies natürlich ein wenig attraktives Konzept, erwartet sich das interessierte Publikum doch zu Recht bündige Einsichten und ein tieferes Verständnis der Welt. Doch sich einer philosophischen Reflexion auszusetzen bedeutet immer auch, den Stachel zu spüren, der in Anders’ produktivem Nichtverstehenkönnen angelegt ist.

Gerade die Ansichten, Konzepte und Weltdeutungen, deren allgemeine Akzeptanz keinerlei Nachfragen mehr nötig erscheinen lassen, werden in Lech einer kritischen Revision unterzogen, gerade das, was aus den Diskursen gerne ausgeblendet wird, kommt am Arlberg zur Sprache.

Das, was ist, begreifen

Die Überlegungen, die der Autor anlässlich des zehnten Philosophicum Lech dazu anstellte, können als implizite Programmrichtlinie des Philosophicums aufgefasst werden. Ausgangspunkt dafür ist die Bestimmung der Philosophie, wie sie Georg Wilhelm Friedrich Hegel vorgelegt hatte. Philosophie, schrieb Hegel, "ist ihre Zeit, in Gedanken erfaßt". Das, was ist, zu begreifen ist das Geschäft der Philosophie. Auch die Philosophie ist ein Kind ihrer Zeit und kann die dadurch gesetzten Schranken nicht einfach überspringen. Das klingt für Ohren, die von der Philosophie Sinngebung, Orientierung, Weltwissen, absolute Wahrheit, eine gültige Moral, Einblicke in die Zukunft und die Verbesserung der Welt erwarten oder gar verlangen, doch einigermaßen bescheiden. Diese Bescheidenheit ist allerdings keine Zier, sondern eine Herausforderung. Denn das, was ist, in Gedanken zu fassen bedeutet nicht, die Wirklichkeit einfach zu beschreiben, bedeutet auch nicht, das Geschehen dieser Welt zur Kenntnis zu nehmen, bedeutet schon gar nicht, darüber beliebige Meinungen auszutauschen, sondern stellt den Anspruch dar, an den vielfältigen, widersprüchlichen und kaum zu überblickenden Erscheinungen der Wirklichkeit das herauszuarbeiten, was daran das Wesentliche, das Verbindliche, das Charakteristische, das Signifikante und Eigentümliche ist.

Oft genug wurde dieser Anspruch deshalb als überzogen kritisiert, da keine Philosophie mehr in der Lage sei, selbst nur die wichtigsten Strömungen und Entwicklungen einer Zeit zu erfassen, geschweige denn, die wesentlichsten Tendenzen eines Zeitalters zu erkennen. Und in der Tat: Niemand überblickt mehr, was sich in der gleichermaßen globalisierten wie zerrissenen Welt auf den Gebieten der Politik, Ökonomie, Technik, Wissenschaften, Künste und Religionen ereignet, wie diese Prozesse zusammenhängen, wie sie sich gegenseitig bedingen und welche Konsequenzen daraus erfolgen. Und noch weniger wüsste jemand zu sagen, was die entscheidenden Signaturen unseres Zeitalters sind: die Fortschritte in Wissenschaft und Technik, die Wiederkehr der Religion, der Siegeszug des Kapitalismus, der Ausbruch einer Pandemie, der Terror oder die neuen Kriege in Europa. Die Unübersichtlichkeit und Komplexität unserer Welt, aber auch die ungeheure Vielfalt an Wissen, das diese Welt hervorbringt, sowie die Dynamik, mit der sich alles entwickelt, scheinen es uns gerade zu verbieten, diese Welt auf einfache Begriffe bringen zu wollen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung