Mythen

Die Unverzichtbarkeit des Mythos

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Mythen sind nicht einfach Unwahrheiten. Sie entstehen durch die Verschmelzung von kulturellen Bedeutungen mit natürlichen Fakten – und sind Teil unserer Menschlichkeit.

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Mythen sind nicht einfach Unwahrheiten. Sie entstehen durch die Verschmelzung von kulturellen Bedeutungen mit natürlichen Fakten – und sind Teil unserer Menschlichkeit.

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Das sind doch alles nur Mythen!“: Dieser Empörungsruf der medizinischen Fachleute schallt in der Corona-Pandemie den meist abenteuerlichen Thesen der Impfskeptiker entgegen. Diese neueste Querdenkerschaft wiederum wirft den Experten vor, Mythenbildung in ihrem Sinne zu betreiben. Da wie dort ist stets abfällig vom „Mythos“ die Rede – und der ideengeschichtlich belehrte Zuhörer fragt sich, was eine derartige Verwendung eines derart vielschichtigen Begriffs wohl bedeute. Würde es nicht reichen, einander Unwahrheiten und Falschinformationen zu unterstellen?

In seinen „Mythen des Alltags“ hat Roland Barthes bereits 1957 versucht, den Mythos-Begriff für die Analyse des Gewöhnlichen fruchtbar zu machen, egal, ob es sich dabei um das Auto oder den Striptease, die Sportarena oder einen Zen-Garten handelt. Mythen entstehen demnach durch die Verschmelzung von kulturellen Bedeutungen mit natürlichen Fakten. Doch obwohl Barthes die Verwechslung von Natur und Geschichte kritisierte, war er kein Denker, der uns die Wirklichkeit als eine Anhäufung quasi nackter Tatsachen nahebringen wollte.

Im Gegenteil: Auch die „wertfreie“ Ansicht, welche den modernen Naturwissenschaften eignet, ist laut Barthes ein Mythos . Bedeutungsentzug schafft neue Bedeutungen und damit die Grundlage für neue Mythen, beispielsweise den Mythos des bedeutungslosen Universums. In ihm findet sich nichts, woraus sich ein Sinn oder Wert – oder gar eine Sonderstellung – für die menschliche Existenz ableiten ließe.

Die Geschichte des Impfens ist historisch verknüpft mit dem Bild vom eigenen Körper, mit dessen Inbesitznahme durch Eindringlinge, ob Dämonen oder chemische Stoffe, schließlich mit dessen Würde und Wert. Dies alles fördert nicht einfach Wahrheiten zutage oder, kontrastierend dazu, „Fake News“. Es entsteht vielmehr ein Alltagmythos: Physis und Naturrecht erzeugen den „Leib“. In ihm spiegeln sich die Widersprüche der eigenen Kultur, die Dialektik von Individuum und Kollektiv, wobei historisch geformten Hoffnungen und Ängsten eine wichtige Rolle zukommt.

Europa – das war auch immer das Europa der Seuchen und ihrer Überwindung durch Gebet, Alchemie, Reinheitskampagnen und, schließlich, das Mikroskop.


Infiltrationskräfte der neuen Querdenker

Michel Foucault wird dann zeigen, wie sich in das moderne Wissen Machtansprüche der Experten und Politiker einmischen, um die Kontrolle des Einzelnen, gemäß dem immerfort beschworenen Wohl des Ganzen, feinmaschig zu machen und zu verdichten. Dem stehen „subversive“ Körpermythen entgegen. Sie dienen dazu, die Außenzwänge –„Machtdispositive“ – zu unterwandern, sei es passiv, durch Verweigerung, oder durch militante Aktionen. Deshalb ist es wichtig, die Infiltrationskraft der neuen Querdenker nicht zu unterschätzen.

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