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Zur Sexualproblematik der Gegenwart

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Die sexualethischen Anschauungen haben in den letzten 200 Jahren der kulturgeschichtlichen Entwicklung eine bedeutende Wandlung erfahren. Wenige andere Gebiete der Gesamtkultur wurden vom Geist der Aufklärung so tiefgreifend beeinflußt. Die Grenze des Schicklichen als Ausdrude einer bestimmten ethischen Haltung hat sich auf der ganzen Linie der Lebensführung soweit im Sinne einer Auflockerung und Aufgabe strenger Grundsätze verschoben, daß man das Leben von heute in dieser Hinsicht mit dem von einst gar nicht vergleichen kann. Alles, was Sitte, Brauch und Gesetz vorschrieben, wurde von der Zeitmühle erfaßt und verändert, . angefangen von der Kleidung, den Formen der Unterhaltung und Geselligkeit, des Umganges zwischen den Geschlechtern bis zum Verhältnis von Mann und Frau in Ehe und Familie. Die Sexualität, vordem streng in die Intimsphäre des Menschen eingeordnet, wurde dabei des Schamhaften entledigt und in mannigfacher Weise ins öffentliche Leben selbst hineingezogen.

Dazu kommt in der Gegenwart noch etwas anderes. Die Sexualität wird nicht nur als eine den Alltäglichkeiten anderer primitiver Lebensbedürfnisse ebenbürtige Angelegenheit mitten ins Leben gestellt: das Leben selbst, die Sinndeutung des. Lebens erhält einen deutlichen sexualbetonten Akzent. Diese Akzentuierung kommt aus einer Richtung, aus der der Mensch an und für sich eine Sinndeutung und gleichzeitig eine Art Sinnerfüllung seiner Existenz erwartet, aus der Kunst- und Kultursphäre in ihren zahlreichen ernsten und leichteren Ausdrucksformen. Nur ein geringer Prozentsatz von Menschen ist aufnahmsfähig und aufnahmsbereit für die Symbolsprache echter Kunst. Und nur ein kleiner Teil der als künstlerisch und kulturell wertvoll propagierten Erzeugnisse sind Kunst. 70 bis 80 Prozent aller derartigen Produkte rechnen mit dem Abwedislungsbedürfnis und dem Triebinstinkt der Masse und setzen ihr als die schlüpfrigste und gemeinverständlichste Kost die Erotik vor. In allen vorstellbaren Variationen wird das eine Thema der „Liebe” ohne Unterlaß in Literatur, Presse, Film und Theater abgehandelt. Die Zeitkultur taucht das gesamte Leben in ein rosafarbenes Licht von Erotik, welches das menschliche Denken und Handeln unauffällig, aber zwangsläufig beeinflußt.

Der Gegenwartsmensch, stolz auf seine vermeintliche Unvoreingenommenheit und freie Meinungsbildung, befindet sich hier in Wirklichkeit völlig naiv und hilflos einer Suggestion überdimensionalen Ausmaßes gegenüber, deren Wirkkraft er bereits in weitem Umfange erlegen ist. Er glaubt an die Sexualität, an ihre Macht, an ihre Allgegenwart, an ihre erlösende Kraft. Ihre Verneinung durch die Enthaltsamkeit erscheint ihm naturwidrig, schwächlich, sinnlos. Er mißt ihr nur in bestimmten Lebenslagen einen bedingten Wert bei. Hat der Menschheit, so argumentiert er, die Emanzipation von einer konventionellen Scheinmoral und von der klerikalen Einmischung in persönlichste Angelegenheiten etwas geschadet? Ist der Mensch nicht freier, glücklicher geworden, da er endlich einen zwar vielleicht nur illusionären Ausweg, aber immerhin einen Ausweg aus der Bitterkeit und Finsternis dieser Welt gefunden hat?- So läßt sich die Stellungnahme des Zeitgeistes zur. Sexualfrage auf drei grundsätzliche Anschauungen zurückführen:

1. Sexualität ist ein Naturgeschehen, das allen Menschen gemeinsam ist. weshalb ein objektiver Grund für ihre Verbannung aus der Öffentlichkeit prinzipiell nicht besteht.

2. Die Sexualität unterliegt keiner außer ihr befindlichen Gesetzlichkeit (absolutes Sittengesetz, relig.), sondern folgt allein ihrer physiologischen Natur. Der Mensch ist in ihrer Ausübung daher völlig frei.

3. Weil Sexualität ein Naturvorgang ist, bleibt ihr der Mensch unentrinnbar verbunden. Der Sexualwunsch als Zwischenprodukt einer naturgesetzlidien Kausalkette muß erfüllt werden. Seine Verdrängung ist Eingriff in die Natur und bedeutet Störung des Wohlbefindens und Krankheit.

Man erkennt in dieser Auffassung die weltanschaulichen Grundhaltungen des Naturalismus, Individualismus und Materialismus ohne Schwierigkeit wieder.

Es ergibt sich hier die Frage: Denken nun wirklich alle Menschen so? Gewiß nicht. Wahrscheinlich denken, sogar nur wenige aus Überzeugung so. Die meisten denken überhaupt nicht, aber sie tun mit. Sie hängen gedankenlos im Netz der Tagesmeinung, fühlen sich vielleicht gar nicht sonderlich wohl dabei, aber für sie ist das Leben eben so. Doch gibt es auch andere, die, bewußt anders empfinden oder doch um eine andere Auffassung ringen. Hieher gehören alle die Enttäuschten und Übersättigten, alle jene, die sich vom Götzen Sexualität genarrt und gekneditet fühlen.

Dann gibt es auch noch die bedeutende Zahl derer, die sich entweder aus Tradition oder aus eigener Lebenserfahrung eine mehr oder weniger klare Vorstellung von, einer sexuellen Selbstdisziplin, von der Einordnung der Sexualfunktion in den Gesamt- rahrnen der Lebensaufgabe des Menschen und von der Würde und inneren Groß der sexuellen Verziditleistung um einer höheren Idee willen bewahrt haben. Ich sage: mehr oder weniger klare Vorstellung. Denn darauf kommt es an. Je verschwommener diese Vorstellung ist, desto hilfloser ist die Lage, in die der einzelne subjektiv und objektiv gerät. In dieser Lage aber — in aller Offenheit sei es gesagt — befinden sich viele Menschen, die sich noch irgendwie zu den Christen zählen. Au/ der einen Seite von der Zeitmeinung, auf der anderen vom christlichen Sittlichkeitsideal beeinflußt, suchen sie den Gegensatz der Anschauungen durch ein Kompromiß auszugleichen, das sich widerspruchsvoll, traurig und grotesk genug ausnimmt und für die Betroffenen häufig zum Anlaß quälenden Zwiespalts und nervös-seelischer Erkrankung wird Hier findet man jenen unkonsequenten, merkwürdig frömmelnden, von allerlei charakterlich-seelischen Ab- und Unartigkeiten sdiillernden Menschentyp, der der Kirche von ihren Gegnern so gern als Produkt ihrer „unfreien” Menschenerziehung vorgchalten wird. Die Charakterologie dieser Kompromißgestalten böte hinreichend Stoff für ein ganzes Budi.

Enscheidend für die Bewertung einer Idee ist niemals der Umstand, daß sie schwer oder leicht realisierbar ist. Entscheidend für die Beurteilung der naturalistischen Sexualauffassung ist die Frage, ob sie den tatsächlicher, Erfordernissen der gesamtmenschlichen Natur entspricht, im großen gesehen, ob sie sich kulturschöpferisch oder zerstörend auswirkt. Was die erste Frage anbelangt, wird durch ihre Anhänger außer auf die bereits vorher angeführte Argumentation vor allem auf Siegmund Freud verwiesen. Durch die Psychoanalyse wurde einleuchtend dargelegt, .daß die Unterdrückung der Sexualität zur Komplexbildung und zum neurotischen Symptom führen kann, wodurch auch der Beweis der Naturwidrigkeit der Enthaltsamkeit gegeben sei. Wenn diese Sdilußfolgerung zuträfe, dürfte es dort, wo man der freien Sexualauffassung huldigt, keine Neurosen mehr geben. Das Gegenteil ist der Fall. In der Großstadt finden wir nicht etwa weniger Neurosen als früher. Wir begegnen dem gebrochenen Menschen aller Schattierungen In einer erschreckenden Massierung: dem Neurotiker, dem entnervten Willenssdiwächling, dem hemmungslosen Charakteropathen, den Verzagten und — wie häufig! — dem Lebensmüden. Gewiß gibt es für die Entstehung dieser Erscheinungen auch andere Ursachen, aber man forsche nur nach: in der großen Mehrzahl der Fälle wird man die sexuelle Wurzel des Leides auf decken können. Gerade die letzten Jahre zeigten klar, daß der Mensch mit schwersten Erschütterungen leichter fertig wird als mit dem Sexualtrauma — unter gewissen Voraussetzungen. Wie erklärt sich nun die Zunahme der seelischen Erkrankungen trotz hemmungslosem Ausleben? Die Befolgung des sexuellen Auslebens im Sinne der naturalistisch-materialistischen Sexualtheorie hat einen Haken. Einmal, früher oder später, kommt die Stunde, da Triebregungen unrealisierbar werden, sei es aus subjektiven Gründen, sei es, daß das Wunschobjekt unerreichbar wird. Der Mensch wird also zwangsmäßig vor die Tatsache der Triebverdrängung gestellt. Er wird ihr, wenn er sie in der Jugend niemals freiwillig auf sich genommen hat, völlig wehrlos gegenüberstehen. Jetzt erst, am Willenlosen, am Untrainierten und Gewohnheitsgeschwächten wird sich die Triebverdrängung mit voller Wucht als seelisches Trauma auswirken und wird ihn zur Flucht in die Krankheit, in die Verzagtheit, ja aus dem Leben treiben. Je hemmungsloser das Triebleben vorher war, desto schwerer wird jede erotische Enttäuschung ertragen. Der geschildert Vorgang ist jedoch nur einer der Gründe, die uns die Zunahme neurotischer Erkrankungen nicht trotz, sondern gerade wegen der zügellosen Betätigung des Sexualtriebes verständlich machen. Die Triebzähmung ist für den gesunden Menschen daher nicht nur unschädlich, sondern ein außerordentlich wichtiges psycho-hygicnisches V o r b e u g u n g s m i 11 e 1 gegen die Neurose. Sie ist außerdem für die Wil

Iensbildung unerläßlich. Jeder Sportler weiß, daß er zur Erzielung von Höchstleistungen enthaltsam leben muß. Wäre die Ausbildung eines vollkommenen Charakters vielleicht eine weniger mühsame und heikle Aufgabe als eine Sportleistung? Und ist nicht etwa die Errichtung jedes geordneten Gemeinwesens, von der Familie bis zum Staat, an die Voraussetzung möglichst vieler harmonisch du rchbii deter, selbstbeherrschter Charaktere gebunden? Ist es nur ein Zufall, daß die Blütezeiten aller Hochkulturen auch Zeiten sexueller Zucht und Ehrfurcht vor dem Geschlechtlichen waren?

Gemessen an den tatsächlichen Ergebnissen eines ungehemmten Trieblebens, muß jene Lebensführung als der menschlichen Natur angemessen bezeichnet werden, welche die Sexualität dem Diktat des Willens nach dem Plan einer höheren als bloß animal H sehen Lebensordnung unterstellt. Es ist die große Frage unserer Zeit, wie diese Erkenntnis in das Bewußtsein und in die Kulturgesinnung unserer Zeit überführt werden kann. Drill und Verbot, Reaktivierung veralteter Moden und Gesellschaftsformen sind, weil praktisch undurchführbar und sachlich verfehlt, nicht dazu geeignet. Ebenso müssen die moralisierenden Tendenzen gewisser unsympathischer Gesellschaftstvpen, welche mit ihrer eigenen Sexualität noch nicht fertig wurden, abgelehnt werden. Sie wirken nur aufreizend. Ich halte es auch für unzweckmäßig, Menschen zum Schrecken vor einem Fleckchen Haut erziehen zu wollen. Wenn etwas, dann ist der unbefangene, freie Blick, mit dem sich Mensch zu Mensch gegenübertritt, das einzig Positive der modernen Gesellschaftsentwicklung.

Worauf es ankommt, ist etwas ganz anderes. Die Tagesmeinung selbst muß eine andere Tönung erhalten. Solange sie von der Überzeugung der naturgesetzlichen Allgewalt des Sexus beherrscht ist, wird der einzelne meist vergeblich mit sich ringen; er wird von der Suggestion dieser Überzeugung immer wieder zurückgerissen. Der absoluten Einseitigkeit der massenpsychologischen Beeinflussung im Sinne dauernder Erotisierung muß die ungeheure Bedeutung der moralgesetzlichen Trieblenkung für die Gesamtkultur entgegengesetzt werden. Der kul- iur- und gemeinschaftsfeindlichen Macht der Sexualanarchie muß die lehenserhaltende Kraft, die Würde und Leistungsgröße der Durchsetzung eines Ordnungsprinzips im Geschlechtsleben gegenübergestellt werden. Diese Antithese muß vor allem bei der Gestaltung des Kulturlebens klar zum Ausdruck kommen und die öffentliche Meinung in steigendem Maße mit Achtung vor dem Geschlechtsgeheimnis und seiner das Leben zu innerst berührenden Zweckbestimmung erfüllen. Alle an der Kulturentwicklung interessierten Faktoren, besonders auch die Staatsführung, müssen dieser Problematik ihre volle Aufmerksamkeit zuwenden. Sie treffen hier auf einer Ebene mit der Kirche zusammen. Der Glaube vermag die Bemühungen ,welche weltliche Kräfte aus Vernunft- und Zweckerwägungen verfolgen, durch eine letzte Sinndeutung in ungeahnter Weise zu verstärken. Doch auch die Kirche sollte diesen Kampf weniger von der negativen Seite als vom Positivem her führen. Zu einseitig wird immerfort von der Verworfenheit der Sünder und den Höllenqualen gesprochen. „Wie schön”, sagt die Schrift, „ist ein keusches Geschlecht!” Welch große Aufgabe ist dem Prediger gestellt, die ganze Größe der Selbstüberwindung und der inneren Freiheit in ihrer hinreißenden Schönheit zu’schildern!

Man halte den Glauben an eine Änderung der sexualethischen Zeitanschauungen nicht für utopisch. Zeitanschauungen können überraschend sdmell wechseln, wenn die Zeit dazu reif ist. Und unsere Zeit ist nach den tausendfachen bitteren Erfahrungen der sittlichen Verwilderung für eine Revision ihrer Sexualität längst reif.

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