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Nur noch ein Schema

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Durch die geschilderten Einflüsse hat sich in der Gegenwart ein Bild der Sexualität entwickelt, dessen Konturen völlig verschwommen sind und von der einstigen Einordnung in das Konzept einer universalistischen Weltvorstellung kaum noch etwas erkennen lassen. Charakteristisch für die Einschätzung der Grundphänomene der Sexualität ist die Subjektivität, die sich selbst zum Richter über die Grenzen des Erlaubten macht. Das christliche Moralgesetz, das einst bestimmend für alle Lebensabschnitte war, gilt nur noch als Schema, das man sich entsprechend den äußeren Zufälligkeiten und den Impulsen der physischen Natur zurechtbiegt.

Immerhin haben sich gewisse Sentenzen herausgebildet, die trotz beträchtlicher individueller Variationsbreite eine Art Grundlinie der allgemeinen Meinung und Haltung darstellen. Darnach ist die sexuelle Betätigung nach Erlangen der biologischen Reife ein Postulat der menschlichen Natur. Die Enthaltsamkeit, ob gewollt oder ungewollt, wird als unnatürlich und im Bezug auf die Gesundheit sogar vielfach für schädlich angesehen. Der Sexualtrieb gilt als nahezu autonom, das heißt, unabhängig von bestehenden Beziehungen und Bindungen. Die Promiskuität, also die Gelegenheitspartnerschaft bei häufigem Partnerwechsel, breitet sich aus. Doch gibt es auch stabile Verhältnisse auf rein sexueller Basis. Mitunter werden von einer Person sogar mehrere solcher Verhältnisse gleichzeitig unterhalten.

Seelisch-geistige Bindungen sind meist nur von sekundärer Bedeutung. Sie entwickeln sich häufig erst im Verlauf eines sexuellen Verhältnisses. Sie werden vor allem dann bewußt intendiert, wenn man an Eheschließung denkt. Die Ehe wird besonders bei jungen Menschen oft mit dem aufrichtigen Vorsatz zu gegenseitiger Treue geschlossen. Es erweist sich dann allerdings allzu häufig, daß der Treueschwur bloß einer hormonalen Aufwallung entsprang, während die wesentlichen Voraussetzungen für die Dauerhaftigkeit des Bundes, wie menschliche Reife, charakterliche Eignung und wirtschaftliche Existenzgrundlage, stark vernachlässigt wurden. Daraus resultiert jenes in zahllosen Abwandlungen bekannte Trauerspiel, welches dazu führt, das Glück in anderen, meist wieder nur sexuellen Verhältnissen zu suchen und die Ein- und Dauerehe als eine den modem- nen Zeitumständen nicht mehr angemessene Form der ehelichen Beziehung abzulehnen.

Die dominierende Stellung der Sexualität im Denken und Fühlen der Gegenwart läßt sich aus der Rolle der erotischen Thematik in der Freizeitgestaltung ableiten. Die für den Massenkonsum bestimmte Unterhaltungsproduktion an Musik, Theater, Film und Literatur kommt nur an, wenn sie dem Sex Rechnung trägt. Anderseits wird gerade dadurch die erotische Massensuggestion, der Glaube an die Naturgewalt und Allmacht des Eros gigantisch gesteigert.

Soziologisch betrachtet, wäre es schon im Hinblick auf die Erforschung der Ursachen und die Prognose aufschlußreich, zu erfahren, wie sich Anschauungen und Verhaltensweisen nach ihrer Art und nach der Verteilung in der Bevölkerungsstruktur zahlenmäßig darstellen. Die Statistik hat es auf diesem Gebiet begreiflicherweise besonders schwer, nicht allein weil die Intimsphäre exakten Nachforschungen kaum zugänglich ist, sondern weil sich die Einstellung des Individuums zu den speziellen Problemen der Sexualität je nach den Bedürfnissen und Absichten während der einzelnen Lebensphasen vielfach ändert. Die Nuancierung reicht von der christlichen Moral bis zum moralischen Nihilismus. Je weiter der Abstand von der christlichen Weltanschauung, desto bunter und lockerer ist das moralische Konzept. Hier stimmen Theorie und Praxis verständlicherweise eher überein als dort, wo die moralischen Vorstellungen und Grundsätze hochgestellt sind. Doch stößt man zuweilen wider Erwarten auch dort auf strenge Ansichten und eine ebensolche Lebensführung, wo eine religiöse Bindung nicht vorliegt. Die Individualsexualität ist letzten Endes wie der Mensch selbst rational nie vollständig erfaßbar.

Gegenüber der physisch orientierten Sexualauffassung bildet der kirchliche Moralstandpunkt einen fast anachronistischen Kontrast. Nach Überwindung sozialer und ideologischer Schranken sieht sich die Kirche hier einem Hindernis gegenüber, welches ihr den Zugang zum modernen Menschen neuerlich zu versperren droht. Die Sexualfreiheit gilt als natürliches Lebensprinzip, das als Ergebnis der Beseitigung alter Vorurteile und Gesellschaftsformen und als Fortschritt im Rahmen der gesamtmenschlichen Entwicklung betrachtet wird. Eine Lehre, die sich der allgemeinen Überzeugung in einer ebenso wichtigen wie scheinbar klaren Angelegenheit entgegenstellt, wird nicht als zeitgemäß und glaubwürdig empfunden. Die Entbindung des Sexus von der Bevormundung durch Gesetz und Gewissen hat offenbar nicht zu der erwarteten Neuordnung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern, sondern zu einem Chaos geführt, welches Staat und Gesellschaft vom Kem her untergräbt. Die Sexualfreiheit wird dem Sexualegoismus gleichgestellt. Nur selten geschieht die Verletzung oder Trennung des ehelichen Bandes mit gegenseitiger Zustimmung. Sie geht meist einseitig vor sich und löst bei dem geschädigten Teil eine Kette schwerster psychischer Traumata aus. In ähnlicher Weise wird auch das Leben der Kinder beeinträchtigt.

Die Einbeziehung in den elterlichen Konflikt ist nicht selten der Anlaß zu unheilvollen psychischen und charakterlichen Fehlentwicklungen. Die zahllosen Spannungen und Krisen, welche die eheliche und familiäre Intimsphäre seit der Emanzipation des Sexus belasten, haben ganz erheblich zur Massenverbreitung der Neurosen beigetragen. Also gerade das Gegenteil von dem, was Freud behauptet. Wäre nämlich die Unterdrückung der sexuellen Triebregungen die Hauptursache der Neurosen, müßten sie heute nahezu ausgestorben sein.

Vielleicht waren diese und andere üble Erfahrungen notwendig, um der Einsicht den Weg zu bahnen, daß das Sexualleben nicht nur nach physischen Gesichtspunkten zu beurteilen, sondern humanistischen Prinzipien unterzuordnen ist. Es läßt sich nicht vom gesamtmensch- lichen Verhalten isolieren. Den physischen Vorgängen entsprechen Korrelate auf geistiger Ebene, die der Koordinierung bedürfen, um im Endeffekt die Voraussetzungen für ein harmonisches Zusammenleben zu schaffen, wie es den tieferen Vorstellungen vom Wesen der Liebe entspricht.

Das Problem einer einheitlichen Auffassung über die Geschlechtsmoral ist in der pluralistischen Gesellschaft gewiß nicht einfach. Unterschiede in der Weltanschauung bedingen folgerichtig auch eine Divergenz der moralischen Ansichten. Für die Lösung der Probleme der menschlichen Gesellschaft ist aber bereits die Übereinstimmung in den natürlichen Erkenntnissen von ungeheurer Bedeutung. Der Weg sollte auch hier der Dialog sein. Die Konfrontierung der Auffassungen der großen kulturbildenden Kräfte aus Religion, Wissenschaft und Politik, der Austausch der von ihnen gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse läßt auch für den Bereich der Sexualität« eine Einigung -in wichtigen Einzelfragen erwarten, aus der sich schrittweise das Gerüst einer zeitnahen Individual- und Sozialethik herauskristallisiert, durch welches Ehe und Familie, die Keimzellen des Gemeinschaftslebens, hinreichend geschützt erscheinen.

Auch hier: der Dialog

Es gibt eine Reihe von sexualethischen Problemen, deren Behandlung über ideologische Grenzen hinweg, jedoch bei voller gegenseitiger Respektierung, möglich und aussichtsreich erscheint. Die Kirche mußte sich bisher in Österreich, gestützt auf ihre eigenen und die ihrem Einfluß zugänglichen Institutionen, nahezu allein dieser undankbaren Aufgabe unterziehen. Sie hat sich dadurch angesichts einer übermächtigen Front indifferenter und feindseliger Gegner dem Vorwurf der Rückständigkeit ausgesetzt und zahlreiche Sympathien eingebüßt. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, daß die Relativierung und Auflösung der Moralbegriffe ständig zunahm. Wie denn auch, wenn ihre Forderungen und Mahnungen stets mit Spott, Gleichgültigkeit und Scheinargumenten beantwortet und paralysiert werden?

Wenn heute immer wieder von Humanismus und Humanität die Rede ist, darf die Sexualität nicht davon ausgeklammert werden. Beide Begriffe sind unteilbar und allgemein verpflichtend. Es kann daher auch in den im Spannungsfeld der Sexualität gelegenen Lebensbereichen nicht früher Ordnung und Harmonie eintreten, bevor die Sexualethik nicht als eminentes Anliegen der Allgemeinheit erkannt und von allen kulturellen Kräften als gemeinsame Aufgabe verstanden und betrieben wird.

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