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Inflation der Liebe...

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Heute ist — speziell bei jungen Menschen, aber nicht nur bei diesen — eine tierisch ernste, ja militante Haltung in Sexdingen dominierend, die in krassem, oft einfach lächerlichem Gegensatz zu der heute ohnehin allgemeinen Großzügigkeit steht. Mit verbissenen Gesichtern und allem Anschein von enormen Kraftakten werden heute offene Türen eingerannt. Mit sturer Konsequenz wird in die Regionen des sexuellen Exzesses, der Pornographie und der Perversität vorgestoßen, um nur ja spektakuläre und lautstarke Scharmützel mit der da und dort — etwa in staatlichen Zensurstellen — verschanzten, müden und sich nur schwach wehrenden Nachhut der traditionellen Moral provozieren und über die sexuelle Unterdrückung durch das Establishment lamentieren zu können.

Es wäre naiv, darüber erstaunt zu sein, daß die Jugend die ihr von der modernen Sozietät offerierten sexuellen Chancen nach Kräften ausnützt — wobei wir hier auf den Fug oder Unfug dieses sexuellen Großangebotes nicht näher eingehen wollen. Aber statt diese Chancen zu nützen, wird gerade vom aktivistischen Teil der Jugend eine militante Pose eingenommen, die Sexualität zum Fanal eines neuen, etwas konfusen „Klassenkampfes“ hinaufstilisiert. Der „Sexmuffel“ — nach den modernen Standards vielleicht das schimpflichste Prädikat überhaupt — wird identifiziert mit dem Reaktionär, Kriegshetzer, Kapitalisten und Faschisten — und was es sonst an politischen Verurteilungen gibt. Dagegen gilt als Entsprechung des „entkrampften“ Sexualaktivisten der Proggressist, der Pazifist, der Modernißt sowie der antiautomitäre NeoSozialist.

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Die Sexualität wurde heute zum Prüfstein der Modernität und der Zukunftsoffenheit schlechthin. Sie wird enorm wichtig genommen und gilt in Literatur, Kunst, Wissenschaft und Konversation als das intellektuelle Thema Nr. 1. Revolutionäre Akte sind fast regelmäßig mit sexuellen Aktivitäten verbunden — mit Promiskuität, Exhibitionismus, Obszönität oder Fäkalismus in irgendeiner Form.

Ein Maximum an Nudität in der Bekleidung und zusätzliche Entblößungen bei allen sich hierfür bietenden Chancen gelten als Symptome der Progressivität, die „Kommune“ — möglichst mit obligater freier Liebe — wird als Nonplusultra zukunftsorientierter Lebensgemeinschaft gefeiert, die Verwendung obszöner Termini — gerade solcher, die früher ein Reservat verwahrloster Milieus waren — gilt heute als intellektuell und, in geschriebener Form, als emi-

nent literarische Toleranz gegenüber der Perversität — besser noch deren möglichst aktive Bejahung —. gilt als Ausdruck moderner Gesinnung. Sexuelle Militanz wird als politischer Akt verstanden, als Beitrag zur Herbeiführung einer freieren, sozialeren und friedlicheren Zukunft. Der Sexrummel ist zum Politikum — mehr noch: zum Ideologikum — geworden und verfügt über ein wohlassortiertes Arsenal an theoretischen Argumenten sowie über eine ganze Literatur, die den Konnex zwischen Moral, Aggressivität und Unterdrük-kung einerseits und zwischen sexueller Emanzipation, pazifistischer Mentalität, Sozialismus und egalitärer Gesinnung anderseits nachzuweisen sucht.

In diesem Zusammenhang ist natürlich Herbert Marcuse — der zweifellos wichtigste Formulierungshelfer der sexuell sehr munteren Neuen Linken — zu erwähnen. Sein Hauptanliegen ist die Synthese aus der Doktrin eines Marx und derjenigen eines Freud, wobei es ihm last not

least darauf ankommt, den ökonomischen Sozialisationsakt mit einem parallel geschalteten sexuellen Sozialisationsakt zu kombinieren. Auf der gleichen Linie liegt auch die französische Schriftstellerin und langjährige Lebensgefährtin Jean Paul Sartres, Simone de Beauvoir, mit ihrem seinerzeit als epochemachend etikettierten Werk „Das andere Geschlecht“. In dieser weit in die Prähistorie und in die Primitivkulturen ausgreifenden Schrift, worin sehr souverän kombiniert wird und die deutlich marxistisch instrumentiert ist, werden einerseits Patriarchat, Privateigentum und Monogamie, anderseits Matriarchat, Gütergemeinschaft und freie Liebe assoziiert. Daraus resultiert konsequenterweise, daß einerseits eine Separierung der einzelnen Komponenten und ihre Einfügung in andere Kombinationen — zum Beispiel in Form eines patriarchalischen Kommunismus — auf die Dauer undurchführbar sei und daß anderseits jede Aktion, die nur eine Kom-

ponente eines der beiden Komplexe fördert, auch den anderen Komponenten zugute komme, daß also die Bekämpfung des Supremats des Mannes, des Privateigentums, der Monogamie und der „possessiven“ Moral auf eins hinausläuft. *

Auf dieses Dogma können sich somit die Kombattanten der Promiskuität genauso berufen wie der rabiate Feminismus der militanten Suffragetten neuester Prägung. Jedenfalls ist demzufolge ein Kampf gegen die Sexualmoral automatisch bereits ein sozialrevolutionärer Akt oder — anders gesagt — man kann die soziale Revolution auch zur sexuellen Revolution „umfunktionieren“ und letzten Endes das gleiche erreichen, man kann daher ruhig die Destruktion der bürgerlichen Gesellschaft bei der Destruktion ihrer Moral beginnen. Diese Ansicht ist keineswegs auf APO-Revolutionäre beschränkt, sondern wird zum Beispiel auch von den als gemäßigt eingestuften skandinavischen Sozialisten geteilt, die zwar jede außerparlamentarische Gewalt oder gewaltsame Sozialisierung ablehnen und sich gegenüber der Religion tolerant geben, aber durch Dekomposition der Sexualmoral konsequent und systematisch auf die Destruktion sowohl der bourgeoisen Sozialstrukturen als auch des Christentums hinarbeiten. Es ist signifikant für die ideelle Herkunft dieser „Sozialingenieure'*, daß sie — trotz konträren Lippenbekenntnissen

— Bourgeoisie und Christentum letzten Endes über den gleichen Kamm scheren.

Eine Zentralfigur im sexualideologischen Kontext ist auch der ehemalige Wiener Psychiater Wilhelm Reich, der — in sehr einseitiger Interpretation Freuds — die Aggressivität in allen ihren Varianten — von der individuellen Gewalttätigkeit bis zum Militarismus — aus der Unterdrückung der Sexualität deduzierte und deswegen die sexuelle Revolution als probatestes Mittel zur Eliminierung der Aggressivität aus den menschlichen Beziehungen predigte. Er brachte damit zur klassenkämpferischen auch noch die pazifistische Komponente in die Sexideologie. Zu seinen enragiertesten Anhängern zählt übrigens auch das Ehepaar Phyllis und Eberhard Kronhausen, deren angeblich weitbeste Kollektion pornographischer Kunst vor kurzem durch eine öffentliche Exposition in Stockholm weltweite „Reputation“ erlangte.

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Die derzeit vermutlich umfassendste Synthese sexideologischer Elemente dürfte von Arno Plack stammen, der

— unter gleichzeitiger Verwendung von teilweise beträchtlich „umfunktionierten“ Gedankengängen aus Konrad Lorenz' Werk über das „so-

genannte Böse“ — in seinem Buch „Die Gesellschaft und das Böse“ gleichfalls die herrschende Moral als permanente Quelle der Aggression und der sozialen Unterdrückung denunziert. Ihre Uberwindung sei daher eine unerläßliche Voraussetzung für eine freie und gerechte Friedens- und Sozialordnung. Die Enthemmung der Sexualität wird damit zum sozialen, ja geradezu zum moralischen Auftrag. Daher der Sexfanatismus der revolutionären Jugend, die eine „kulinarische Einstellung“ zur Sexualität als bürgerlichen Rest abweist und Promiskuität geradezu als kategorischen Imperativ, als soziale Verpflichtung ansieht. Sie ist daher dementsprechend desperat, wenn es ihr nicht gelingt, die „bourgeoisen Vorurteile“ in ihrem Sexualverhalten und ihrer Sexualgesinnung ganz zu überwinden. Daß es sich bei diesen „Vorurteilen“ am Ende um eine natürliche Moralität des Menschen handeln und daß deren Uberwindung sehr gegen den Strich der humanen Natur sein könnte .— obwohl gerade die unbehinderte Entfaltung der Natur einer der Hauptprogrammpunkte der Sexrevolutionäre ist —, wird von vornherein als denkunmöglich zurückgewiesen.

Das Dogma vom friedfertigen Sexual -aktvisten — theoretisch und literarisch mit aller Vehemenz propagiert und entgegen jeder kontradiktorischen Evidenz obstinat verfochten — hat alle Symptome einer Feststellung a priori, deren empirische Verifikation — wenngleich möglich dezitiert abgelehnt wird. Aus gutem Grund, da zumindest so viel widerlegendes wie bestätigendes Material vorgelegt und ein Kausalnexus zwischen sexueller Repression und Aggression für den Einzelfall, nicht aber als Regel nachgewiesen werden kann. Andererseits findet sich in genügend Fällen die Aggressivität auch bei sexuell total emanzipierten Menschen, die aus einem entsprechend emanzipierten Milieu kommen. Es handelt sich also um eine ganz und gar ungesicherte Hypothese, aus der ganze Ideologien und politische Aktionsprogramme abgeleitet werden. Die zweite Hypothese, auf der die Sexideologie basiert, nimmt an, daß durch Gruppen- oder gar durch totale Promiskuität persönliche oder politische Konfliktstoffe eliminiert und die Isolierungen der Menschen überwunden werden könnten. Aber für die körperliche Liebe gilt noch viel mehr der Satz, den Freud — auf den sich die revolutionäre Jugend so gern zu berufen pflegt — in seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ in bezug auf die Nächstenliebe gesagt hat, nämlich daß „eine großartige Inflation der Liebe nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not beseitigen kann“.

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