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Die Sexualfrage in Schweden

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In den ersten Monaten dieses Jahres war die sexuelle Freiheit das große Gesprächs- und Diskussionsthema in Schweden. Seit fast zehn Jahren hat die junge Literatur verschiedene Formen der Promiskuität eingehend und begeistert als Freiheit geschildert. Der Theaterdirektor und Dichter Karl Ragnar Gierow hat dazu geäußert, es sei eigentümlich, daß im übrigen recht gescheite Menschen sich in gleichem Maß für frei halten, wie sie von ihren Trieben gebunden sind. Das Tabu der Anständigkeit wurde von Mykle und seinen schwedischen Nachahmern durchbrochen, und im Jahr 1963 tauchten die ersten Schriftstellerinnen auf, die den Mut hatten, vulgäre Worte zu gebrauchen und begeistert ein ungeordnetes, unpersönliches Sexualleben zu schildern.

Parallel mit dieser Entwicklung ging eine andere: Man konnte statistisch nachweisen, wie die Promiskuität im Lande wuchs, wie sich die Sexualübergriffe fast täglich wiederholten und wie die Geschlechtskrankheiten, besonders unter der Jugend, katastrophal zunahmen.

So kam es schließlich zu dem erbitterten Streit wegen des Ingmär- Bergman-Films „Das Schweigen“ und des Films „491“ von Vilgot Sjöman. Der erstere Film enthält einige kurze Szenen unbekleideter Darsteller, woran gewisse puritanische Kreise Anstoß nahmen, doch wurde er von vielen besonnenen Menschen sofort als Kunstwerk erkannt: Er war keine Lobeshymne auf die unpersönliche Sexualität, sondern schilderte sie vielmehr als Erniedrigung und unsägliche Angst. „491“ ist eine soziale Schilderung, die Bilder und Dialoge unglaublicher Roheit enthält. Es soll hier nicht der Film an sich kritisiert werden, denn Regisseur und Autor scheinen im übrigen die Absicht gehabt zu haben, nicht so sehr Sensation zu machen,; als vielmehr auf einen sozialen Übelstand hinzuweisen. j;( 3sb ob sriunHab

Der Bruch mit der christlichen Moral

In diesem Zusammenhang aber trat etwas Merkwürdiges ein, das mehr als alles andere, was ich bisher erlebt hatte, beweist, daß wir in Schweden nun vor etwas gänzlich Neuem stehen: einem Bruch mit unserer klassischen christlichen Moral. Eine große Zahl von Ärzten,

darunter viele der besten, hat einen Aufruf veröffentlicht, in dem vor frühzeitigem Geschlechtsverkehr gewarnt und behauptet wind, daß sexuelle Enthaltsamkeit in jungen Jahren keine Gefahr bedeute, und auf das Risiko von Geschlechtskrankheiten bei außerehelichen, unpersönlichen Verbindungen und anderes hingewiesen wird. Das Manifest war durchaus klug und vernünftig und stützte sich auf die tägliche Erfahrung der Ärzte. Leider enthielt es auch gewisse moralisierende Wendungen, die unangenehm naiv und gekünstelt wirkten.

Dieses Manifest entfesselte zu meinem großen Erstaunen einen Sturm wütendster Erbitterung. Eingeleitet wurde dieser Sturm von Olof Lagercrantz, der in seiner Zeitung „Dagens Nyheter“ seit jeher ein eifriger Verfechter der Promiskuität ist, von dem Dozenten Curt Samuelsson, Chefredakteur des „Aftonbladet“,und vom Kulturredakteur Bo Strömstedt des „Expressen“. Die Ärzte wurden beleidigt, geschmäht und . heruntergemacht: sie seien dumm, verantwortungslos und unwissend. Vor allem aber wurden sie beschuldigt, „haßerfüllt“ zu sein. Dies ist das Interessanteste dabei. Wieso zeugt es von Haß, wenn man versucht, der Jugend Geschlechtskrankheiten zu ersparen und alle die sozialen und nervösen Verwicklungen, die ein Leben in Promiskuität stets nach sich zieht? Und warum diese ungeheure Wut, dieses besinnungslose Toben?

Die Sache ist wirklich einer Untersuchung wert. Natürlich handelt es sich hier bloß um eine kleine Gruppe dem Christentum entfremdeter „Intellektueller“, die in keiner Weise das Volk hinter sich haben, die aber leider die größten Zeitungen des Landes beherrschen. Sie gehören einer Sorte von Menschen an,

die es stets gegeben hat und die sich leicht beschreiben läßt. In einem

Land, dem wahrhaft christliches Denken fehlt, in dem also die Kirche Schritt für Schritt ihre Autorität unter der sogenannten Intelligenz verlor, hat man die moralischen Bande gelöst und in Theorie oder Praxis, oder in beiden, das unpersönliche sexuelle Ausleben gutge-

heißen. Letzteres führt stets zur Kränkung des Partners und steht im Widerspruch zu allem, was das Christentum unter Verantwortung, Rücksicht und Gemeinschaft versteht: Es sei völlig natürlich, hemmungslos mit jenem geschlechtlichen Umgang zu pflegen, nach dem man Begehren empfindet. Wer meinem persönlichen sexuellen Ausleben Schranken setzen will, ist mein Feind! Die Erbitterung wäre jedoch nicht so hysterisch, wenn nicht ein anderer Umstand hinzuträte. Niemand kann so besinnungslos wüten wie diese Herren, wenn er nicht jm tiefsten Inneren den Feind fürchten oder ihn im stillen , achten würde. Was dann, wenn die

Reinheit doch einen Wert daVŽftellte? Was, wenn Christus trotz allem nicht der arme Psychopat gewesen wäre, als den ihn Professor Hedenius bezeichnet hatte, sondern eine vorbildliche Gestalt? Was, wenn es wahr wäre, daß man durch unpersönliche Sexualität andere Menschen wirklich schwer kränkt und ihnen schadet? Was, wenn man eine Schuld dadurch auf sich lädt, daß man andere Menschen rücksichtslos für sei nen subjektiven Genuß verwendet… ?

Es ist in Schweden so weit gekommen, daß man in „Dagens Ny- heter“ einen Leitartikel lesen konnte, in dem in nachsichtigen, humanen Worten die armen moralischen Ärzte als beklagenswerte Fälle be-

zeichnet werden, die nachgerade ins Krankenhaus gehören. Sie wissen nicht, was sie sagen. Sie sind in alte Vorurteile und Gewohnheiten verstrickt. Sie haben nicht begriffen, daß die christliche Moral ebensowenig etwas taugt wie der christliche Erlösungsgedanke und daß man die Moral Schritt für Schritt den augenblicklichen Gewohnheiten anpassen muß.

Wer die Moral verteidigt: Nazist…

Als der Aufruf der schwedischen Ärzte im Rundfunk bekanntgegeben worden war, trat etwas sehr Charakteristisches ein. Er wurde sofort von einem Anhänger der freien Sexualität besprochen, einer® Ausländer namens Jocmm? Israel, ’tief flicht einmal die schwedische Sprache beherrschte. Er beleidigte die Ärzte schwer und deutete an, sie seien eigentlich Nazisten. Überhaupt kann man in Schweden gegenwärtig keine Form der christlichen Moral verteidigen, ohne entweder als dumm, als Psychopath oder als Nazist verschrien zu werden. Dies hat man im schwedischen kulturellen Leben früher nie erlebt.

Der Gedankengang ist dabei im großen folgender:

In regelmäßigen Zwischenräumen stellt man statistische Untersuchungen über das Gehaben des modernen Menschen an. Zeigt es sich, daß Männer und Frauen einander in großem Ausmaß in der Ehe betrügen, soll dies als moralisch richtig gelten, denn die Moral müsse sich der Wirklichkeit anpassen. Auf diese Weise sinkt das Niveau immer tiefer. Bei jeder neuen Untersuchung kann man natürlich feststellen, daß der Prozentsatz der Ehebrecher steigt, was unter anderem der Diskussion der vorangegangenen Untersuchung zuzuschreiben ist.

Es ist also richtig, stets und prinzipiell den Menschen abzuwerten und ihn daran zu hindern, Disziplin zu bewahren.

Wer an sich arbeitet und größere Selbstkontrolle gewinnen will, und besonders jener, der das eine oder andere „opfert“, das ihm im Leben Genuß oder Vorteil oder Bequemlichkeit bietet, um statt dessen etwas zu erlangen, auf das er größeren Wert legt, der ist ausnahmslos lächerlich, lebensfeindlich, ja eigentlich psychisch krank und müßte in Verwahrung genommen werden. Die Vorstellung, daß alles, was die Sexualität zu Egoismus und Selbstgenuß macht, eine Gefahr für die Persönlichkeit und das Zusammenleben bedeutet, wird als närrisch verhöhnt. Überhaupt sei das christlich-europäische Idealbild eines Menschen im Kampf mit sich selbst überspannt und daher abzulehnen. Niemand solle kämpfen. Verzicht sei ungesund. Der Versuch, anders zu sein, als man wirklich ist, sei pervers. In den Schulen seien die schlechten Noten abzuschaffen, denn sie könnten gefährlich sein — besser sei es, wenn niemand sich anstrenge.

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