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Winston Ghurchill im englischen Alltag

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Als die englische Arbeiterpartei in den ersten Parlamentswahlen, die seit zehn Jahren auf den britischen Inseln stattgefunden hatten, ihren großen Sieg errang und nicht jene Gestalt nach Potsdam zurückkehrte, die seit Dünkirchen zum Symbol eines beinahe unerklärlichen Siegesglaubens geworden war, sondern der „ruhige Mann mit der ruhigen Stimme“, Clement Attlee, da mögen wohl alle, deren Sinn noch genug Muße hatte, im Lavastrom der Ereignisse — schon war das Kernland des alten Europas zerstört, noch die Bombe auf Hiroshima nicht gefallen — an Winston Spencer Churchill gedacht haben. An jenen Mann, von dem der linksgerichtete Schriftsteller und Verleger Gollancz gesagt hat, daß er, „beladen mit der Bürde einer Verantwortung, wie sie kein Engländer vor ihm getragen, den Glauben eines Kindes und das Herz eines Löwen besessen hat“.

Welche Gefühle mochten den Besiegten in dieser bitteren Stunde bewegt haben, welche Gedanken und Entschlüsse in ihm herangereift sein?

Mag man annehmen, daß ein Mann, der in den atemberaubendsten Augenblicken zweier Weltkriege nie das Gefühl, Brücken aus einer großen Vergangenheit in eine große Zukunft zu schlagen, verloren hat, geneigt war, einen Augenblick an historische Parallelen zu denken. Vielleicht wurden die Bilder Lloyd Georges und Clemenceaus in ihm lebendig. Aber die beiden Ministerpräsidenten des ersten Weltkrieges waren nur die letzten Beispiele einer langen Reihe von Staatsleuten, die sich mit einer ähnlichen Situation abfinden mußten, ja, im Laufe der Zeit haben sich gewisse traditionelle Lösungen, gleichsam eine Technik des Resignierens, entwickelt. -.

Die freundliche Zurückgezogenheit stiller Landgüter ... das Oberhaus ... St. Helena, um nur einige Beispiele herauszugreifen.

Das Grundlegende dieser Technik, gewissermaßen das primäre Gesetz des In-Schönheit-Faüens, scheint ein Zurückweichen und Abheben vom Alltag zu sein ... und je vollständiger die Trennung, je tiefer die

Einsamkeit, desto früher bildet sich* Legende und Mythos. Vom Leben der Nation ausgeschlossen zu sein heißt also in diesem Fall, sehr bald ein integrierender Teil dieses Lebens zu werden. .

Die äußere Form schien hier von vornherein gegeben und man konnte annehmen, daß das Haus Marlborough bald einen zweiten Herzogstitel zu vergeben haben werde. Aber es ist das Vorrecht einer Erscheinung vom Range Churchills, daß sie von geschichtlichen Parallelen nicht überwältigt wird. Schon die gemessene Höflichkeit, mit der der gestürzte Premier c\en Hosenbandorden ausschlug, war ein Fingerzeig, daß er sich entschlossen habe, einen ganz anderen Weg zu gehen, und bald erfuhr das Land, daß er seiner Majestät Opposition zu führen beabsichtige. Man ist am Kontinent manchmal geneigt, die Wichtigkeit der Opposition im parlamentarischen Leben zu unterschätzen, man vergißt, daß es nicht nur ihre Aufgabe ist, immer wieder die Macht de,- ausübenden Gewalt zu begrenzen, sondern auch durch ihre Kritik dem durchschnittlichen Staatsbürger zu ermöglichen, gleichsam mit zwei Augen, und daher plastisch, zu sehen; aber bei allem Vorbehalt muß man in diesem Zusammenhang doch in erster Linie an die Schattenseiten des Mandats denken.

Denn jahrelang bleibt die Opposition in England scheinbar völlig machtlos, hier gibt es nichts von den erregenden Zwischenfällen der Pariser Kammer, der Ausgang der Abstimmung steht von vornherein fest und die Einpeitscher der Mehrheitspartei müssen schon einen sehr schlechten Tag haben, wenn, wie es unlängst Attlee geschehen ist, die Regierung nur mit einigen Stimmen obsiegt. Solche spannende Momente sind indes ungemein selten — das englische Wahlsystem erzwingt starke Mehrheiten — und der Führer der Opposition ist der letzte, der sie hervorrufen kann.

Welche Geduld gehört dazu, immer wieder Anträge einzubringen, deren Ablehnung ausgemachte Sache ist, welche Kunst des Sichfügens und Bescheidens, den manchmal etwas gönnerhaften Ton der Regierenden zu ertragen ' die, von der angenehmen Gewißheit, daß die Durchführung ihrer Pläne trotz aller Worte gewährleistet ist, erfüllt sind ... wieviel emsigen Fleiß muß man schließlich an den Tag legen, um immer von neuem die Vielfalt der auftauchenden Fragen zu überprüfen und die Haltung der Opposition mit dem allgemeinen Interesse in Einklang zu bringen. All diese Tugenden aber sollte ein Mann an den Tag legen, der es nie ganz leicht gefunden hat, mit seinen Mitmenschen auszukommen, ein Mann, der daran gewöhnt war seine weltumspannenden Pläne ohne Zögern in die Tat umzusetzen, ein Mann, über dessen brodelnde Vitalität selbst jenes Wunder sehniger Gesundheit, Feldmarschall Srruts, einmal leise Klage geführt hat.

Trotz alledem hatte sich Winston Churchill für den englischen Alltag entsdilossen und es ist vor allem seine Gegenwart, die diesem Alltag inmitten aller Nacbkriegs-erscheinungen, Kürzungen und Verordnungen etwas Buntes und Balladeskes verleiht.

Es wäre bewundernswert, wenn er, der jenen seltsamen Menschenschlag vertritt, in dem sich imponierende Tatkraft mit poetischem Sinn und die Noblesse eines alten Geschlechtes mit plötzlichen Ausbrüchen von Gewöhnlichkeit verbindet („Eliza-bethan“ ist ein Beiwort, an das viele Briten in diesem Zusammenhang denken), imstande gewesen wäre, sich der neuen Lage wirklich anzupassen. Aber es wäre ein wenig unmenschlich gewesen und sein Bestreben, den Gegebenheiten gerecht zu werden, kann manchmal erheiternd, manchmal ein wenig ergreifend sein, und es gibt wenig Engländer, die gegenwärtigen Minister der Arbeiterregierung nicht ausgenommen, die diesem Schauspiel ohne warmes Interesse folgen.

Als es unlängst so aussah, als ob er an der Debatte über die Beschränkung des dem Oberhaus zustehenden Vetorechtes wegen seiner Erkältung nicht teilnehmen würde, drückte Morrison in herzlichen Worten das Bedauern der Regierung aus und jeder, der ihn hörte, spürte^ daß dies keine leere Phrase war: man hatte sich auf das Erscheinen des grimmigen Gegners gefreut.

Und als er am nächsten Tag, wie er bemerkte, gegen den Rat seiner ärztlichen Ratgeber doch im Unterhaus erschien, hob sich die allgemeine Stimmung.

Aber solche Höflichkeiten, und es gehört zum guten Ton der Arbeiterpartei, ihm gelegentlich Tribut zu zollen, sind nie dazu angetan, den dramatischen Ton seiner manchmal allzu schweren Reden abzuschwächen. Es scheint, daß er allzu lange mit weltbewegenden und weltweiten Dingen zu tun gehabt hat — „global“ ist der Ausdruck, den die Amerikaner so gern dafür gebrauchen —, um noch die richtigen Nuancen und Schattierungen für den Alltag zu finden. Die Beschränkung des Oberhausvetos, nach Brauch und Herkommen zur Debatte gestellt, wird zur „finsteren Intrige“, das Sekretariat der Arbeiterpartei kann sich im Handumdrehen in den Nukleus einer Staatspolizei verwandeln, die Maßnahmen der Regierung laufen auf eine „Diktatur“ hinaus, ohne deren „Kriminalität und Tüchtigkeit“ zu besitzen, die Regierung leidet an „unheilbarer Impotenz“. Worte, wie „Pestilenz“, „Monster“ und „Tyrannis“ kommen ihm vollkommen natürlich und häufig über die Lippen. Es zeigt sich hier wieder eine Erscheinung, die man sooft beobachten kann: daß nämlich die Eigenschaften eines Volkes in gewissen Spi>7.enind!viduen die Komplementärfarben zeigen. Während der Durchschnittsengländer zu „Understatements“ neigt, also gern leisetritt und sich selbst in gefühlsbetonten Momenten möglichst konventionell auszudrücken sucht, offenbart sich hier eine Freude an satten Bildern und kraftvollen Vergleichen; aber die Macht des Ausdrucks, die Freude an Zitaten und die biblische Einprägsamkeit seiner Sprache ist nicht ungefährlich, wenn sie sich mit der Tendenz ver-. eint, allen Figuren das Format der Weltgeschichte zu verleihen und sie zu diesem Behufe mit gebieterischen Leidenschaften zu erfüllen, die sie gar nicht besitzen. Als Churchill im Wahlkamof des Jahres 1945 behauptete, daß das Exekutivkomitee der Labour Party, diese „außerhalb des Parlaments stehende Körperschaft“, noch eine „düstere Rolle“ im englischen Leben spielen werde, fanden viele, daß diese Behauptung etwas wenig fundiert war; was indes wirklich verstimmte, war die Vehemenz des Angriffes gegen den Vorstand des Exekutivkomitees, Professor Laski. Der Begriff „fairness“ war verletzt worden, man fand, daß Churchill'die Übermacht seiner Persönlichkeit nicht in dieser Weise hätte einsetzen dürfen und nahm instinktiv für den kleinen Professor Partei. Das Bemerkenswerte aber ist, daß Churchill viele Effekte, die andere Redner erzielen, indem sie • einer kargen Ausdrucksweise erlauben, etwas Farbe ..nzu-nehmen, auf umgekehrte Weise erzielen kann und es wundervoll versteht, dem Lautgemälde seiner Worte leise LazurbÜder aufzusetzen. Ja, es scheint, daß er sich dieser Kontrastwirkung nach Belieben bedienen kann, wenn er in der Laune ist, Heiterkeit hervorzurufen. Aber schon im nächsten Augenblick kann seine urwüchsige Freude an Grobheiten, die die Machthaber des Dritten Reiches mit so wenig Talent zu imitieren suchten, durchbrechen und ein Wort kann ihm entschlüpfen, das den guten Geschmack verletzt und ihn Ansehen kostet.

„Als freigeborener Engländer hasse ich es, von der Gnade eines Menschen abzuhängen und mich in die Gewalt eines anderen zu begeben, ganz gleich, ob es jetzt Hitler oder Attlee ist...“

Scheint es nicht etwas hart, den „ruhigen Mann mit der ruhigen Stimme“, dessen Meinung es ist, daß Demokratie nicht nur die Herrschaft der Mehrheit, sondern auch die Berücksichtigung der Wünsche der Minderheit sei, mit Hitler, mit dem „Monster“, in einem Atem zu nennen?

„Priestley, den .wir eine Zeitlang während des Krieges zu Radiosendungen benutzten . ..“ Verstößt es nicht gegen die Persönlichkeitswürde des sozialistischen Autors, ihn in solcher Form zu erwähnen? Und wie im Fall Laski empfindet der Durchschnittsengländer Sympathie mit dem Angegriffenen und die Frage wird aufgeworfen, ob Churchill das „notwendig“ hat.

Sie zu stellen heißt natürlich, sie zu verneinen, aber unwillkürlich entdeckt man im Hintergrund die größere Frage: Warum ist Churchill im englischen Alltag geblieben, warum hat\ er, Kronzeuge der Geschichte und zugleich Historiker von europäischem Format, sich nicht ganz der bedeutenden Aufgabe der Vollendung seiner Memoiren zugewandt? Muß sein Ansehen sich nicht verzetteln, sein Ruhm sidi nicht verdunkeln? Gibt es nicht sogar in diesem überreichen Leben Talente, die bisher zuwenig Beachtung fanden? Wie, wenn es auch noch einen großen Maler gleichen Namens gäbe?

Man wird der Wahrheit am ehesten gerecht werden, wenn man eine Vielfalt von Motiven vermutet. Das Unterhaus entspricht nun einmal dem Temperament des großen Marlborough-Sprößlings wie keine andere Tribüne, hier ist die Atmosphäre, die ihm seit Jahrzehnten vertraut und liebgeworden ist. Aber wenn man den ernsten Eifer beobachtet, mit dem der Führer der Opposition seiner durchaus nicht immer abwechs'ungsreichen Tätigkeit obwaltet, wenn i an bedenkt, wie selten er einer Sitzung fernbleibt und wie oft er „trotz des Protestes seiner ärztlichen Ratgeber“ — es gehört zu den undankbaren Aufgaben, diesen Mann zu beraten — teilnimmt, kann man sich des Eindruckes einer gewissenhaiten Pflichterfüllung nicht erwehren. Es ■ ist, als wollte er sagen: Ich habe während des Krieges, in „unserer stolzesten Stunde“, jeden Mann und jede Frau dortbin gestellt, wo ich es für richtig hielt, es würde mir nun schlecht anstehen, nicht dort auszuharren, wo nun die Nation mir den Platz zugewiesen hat. Ferner muß man bedenken, daß ihm die Ereignisse im Rhythmus eines langen Lebens wahrscheinlich anders erscheinen als dem Zuseher, dem sich nur das plötzliche Absinken von allergrößter Machtvollkommenheit eingeprägt hat. Churchill war weit öfter in der Opposition als in der Regierung, aber solange er auch in der Opposition Wieb, er war immer von der Hoffnung, ja, von der Gewißheit erfülh, wieder an die Macht zu kommen.

Als die Labour Party ihre große Mehrheit erzielte, als sie eine Nachwahl nach der anderen gewann, schienen solche Gedanken leere Traume, aber die letzten Gemeinderatswahlen haben den Konservativen von Schottland bis Wales bedeutende Gewinne auf Kosten der Arbeiterpartei gebracht, und als Churchill den Ministern im Parlament versicherte, daß die nächsten allgemeinen Wahlen sie hinwegfegen würden, „unge-ehrt, unbeweint, unbesungen und ungehan-gen“, mag dies zwar eine sehr vorschnelle Prophezeiung gewesen sein, die aber jedenfalls nicht mehr so unwahrsdieinlich klang ak noch vor einem Jahr.

Was hingegen den Ruhm anbelangt und das Urteil der Nachwelt, so scheint er genug Selbstbewußtsein zu besitzen, um sich darum weniger Sorge zu machen als andere große Männer. Wahrscheinlich liegt ihm auch der Gedanke, daß sich um seinen Namen ein Mythos bilde, sehr ferne. Wie zornig hat er doch letztens im Parlament diesen Gedanken von „Übermenschen und Uberplaner“ — wie lange ist es her, daß uns jemand versicherte, er hätte „alles im voraus einkalkuliert“ — erledigt.

Ist es da nicht naheliegend, anzunehmen, daß einer der Gründe, warum er im englischen Alltag verblieb, der Wunsch war, seinen Mitbürgern, solange es noch in seinen Kräften stand, zu demonstrieren, daß auch große Männer nur Menschen sind, Menschen mit Vorzügen und Schwächen, von denen man behaupten kann, daß sie „mit einem , Fuß im Mittelalter, mit dem anderen in den Vereinigten Staaten stünden“, Menschen, denen man „nonsense“ und „rubbish“ zurufen kann, ohne daß sich die Erde spaltet oder der Himmel Blitze schleudert.

Kurz, daß er in einer Welt, die der Führerkult bis an die Grundfesten erschüttert hat, auch persönlich dazu beitragen wollte, den Unsinnsglauben vom Ubermenschen zu zerstören. Man könnte dies den Beitrag eines geborenen Autokraten zu der Demokratie seines Heimatlandes nennen.

Es gibt eine englische „Institution“, die man „nursery rhymes“ nennt, Verse also, die jedem Kind geläufig sind und in jedem Kinderzimmer gesprochen und gesungen werden... und es wird erzählt, daß die meisten von ihnen verborgene politische Bedeutung haben, an alten Kampf und Zank erinnerd. Und in einigen Generationen wird manches Wort Churchills sich allmählich beginnen, in solche Reime zu verwandeln. Nicht, weil die Zeit es wieder nötig machen wird, daß politische Satire sich in so harmloses Gewand kleidet, sondern weil diese Worte etwas ungemein Farbiges und zugleich Kindlich-Einfaches an sich haben. Und die große Gestalt Winston Spencer Churchills wird einer der guten, aber respektheischenden Geister geworden sein, die in Kinderzimmern hausen wie Momos, der Tadler der griechischen Kinder.

Und ist es nicht besser, in den Kinderzimmern der Nation weiterzuleben, als zu dulden, daß man zum Mythos der Großen wird?

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