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Bevan, der sanfte Rebell

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Es läßt sich denken, daß man im Hauptquartier der Konservativen Rarlei Englands über die Entwicklung im sozialistischen Lager eine gewisse Genugtuung enapfindet, die sich angesichts der kommenden Wahlen mit der behaglichen Wärme der Schadenfreude erteilt. Vom Standpunkt der ganzen Nation aus aber muH die immer sichtbarer werdende Zerklüftung der großen Oppositionspartei — Bevan war keinesfalls der erste Rebell dem die parlamejjitarische Betreibung und Leitung, Se in dem Wort ,„whip“ zusammengefaßt wird, entzogen werden mußte —. als ein äußerst bedenkliches Phänomen erscheinen. Im Grunde ist die Lage der Labour Party fast so verworren wie mach dein Abfall McDonalds und Snowdens iu den dreißiger Jahren, der Mousterbau zeigt gewaltige Sprünge, wird nur noch durch die Stahlträger der Gewerkschaftsbewegung zusawniengehalten. Warum dies, auch vom überparteilichen Standpunkt aus, bedenklich erscheint? Nun, das alte Wort, demzufolge es die Pflicht der Opposition ist, zu opponieren, bringt nur die halbe Wahrheit zum Ausdruck, und man müßte hinzufügen, daß sich an dem Widerstand gegen die Regierungspolitik eine großangelegte Alternativ-Politik zu formen hat, die, wenn auch mit gewissen Abänderungen, in die Realität übertragen werden kann, wenn die Stimmung des Elektorates {und niemand kann ihrer ganz sicher sein) sich ändert.

Wenn von der Krise im sozialistischen Lager gesprochen wird, dann denkt man unwillkürlich an Bevan, den heißblütigen Waliser, der manche der guten und die meisten der schlechten Eigenschaften der großen Volkstrifcunen in sich vereint. Aber es ist nur fair, einleitend festzustellen, daß Bevan den Mangel eines tragbaren Konzepts nicht hervorgerufen hat, daß vielmehr sein politischer Erfolg der ihn nun an den Rand des Ausschlusses gebracht hat, der einst über Sir Staflord Cripps verhängt worden war, nicht die Ursache, sondern die Folge diese! Tatbestandes ist. Blickt man näher zu, dann entdeckt man allerdings einen eigenartigen Spiegeleffekt: So wie die Sozialisten im Augenblick keine wirklichen Alternativen bereithalten, so täuscht auch die innere Opposition dieser Partei die Alternative nur vor, es gibt, am es ein wenig brutal zu formulieren, nicht zwei sozialistische Wege für Großbritannien, sondern im Augenblick gar keinen.

Wieso konnte es dazu kommen? Waren die Sozialästen nicht auch in England — wo sie nicht von vornherein den Lehren des Karl Marx anhängen — ihren Gegnern gerade auf theoretischem Gebiet stets überlegen? Der Schlüssel zu diesem Rätsel liegt in einer Kombination von Umständen, die einerseits der emotionellen Grundstimmung der Partei, anderseits den besonderen Führungseigenschaften Attlees entstammen. Die mächtigen Impulse der sozialistischen Bewegung datieren aus der Zeit des Hochkapitalismus und haben sich in der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre entscheidend ausgeformt. Zu dieser Zeit war es, daß die englische Arbeiterschaft zum letzten Male den Krisenzyklus der kapitalistischen Wirtschaft erlitten hat. Die düsteren Erfahrungen dieser Zeit haben sich als schweres Trauma den Gehirnen eingeprägt, sind selbst in den jüngeren Menschen, die keine persönliche Erfahrung mit jener Zeit verbindet, noch lebendig. Denn immer wieder haben die sozialistischen Theoretiker, vor allem die am linken Flügel des „New Statesnnan and Nation“, die Wiederkehr des furchtbaren Zyklus rarattsgesagt — einmal sollte er sich einstellen, wenn ein konservativer Premier in D*w-ning Street No. 10 einziehe, dann fcieiß es wieder, daß man seine grausigen Folgen erst durch eine Depression in den USA kennenlernen würde — und damit eine latente „Unheilsbcreit-schaft“ der sozialistischen Wählerschaft hervorgerufen, mit der sich der leidenschaftliche Wille verband, nie wieder als würdeloser menschlicher Spielball zwischen den Mauern von Boom und von Depression hin und her gerollt zu werden. Wie aber sieht die Wirklichkeit aus? England befindet sich In einer außergewöhnlichen Hochkonjunktur, für die eine konservative Regierung verantwortlich zeichnet, das letzte Jahr der Legislaturperiode scheint nicht mehr Arbeitsunruhe und Streiks zu bringen als ein Durch-schnitts-Labour-Jahr, und drüben in den Vereinigten Staaten hat es sich erwiesen, daß auch eine sehr konservative Regierung über genug Steuerungsmaßnahmen verfügt, um den alten, furchtbaren Zyklcnrhythmus entscheidend abzuschwächen. Man hat mit anderen Worten die große emotionelle Kraft um ein imaginäres Zentrum geballt, und Attlce, der instinktiv immer auf eine Inspiration von der Mehrheit wartet und oft allzu bereit ist, sich den Meinungen und Ansichten der vielen zu beugen, hat es nicht verhindern können, daß es auf diese Weise zu einer riesigen Fehlinvestition politischer Impulse gekommen ist. Vielleicht war er dabei der Ansicht, daß sich die Macht der Tatsachen mit der Zeit ohnedies durchsetzen würde. Dies ist zum Teil wohl auch geschehen, aber die Emotionen sind, da sie rationell nicht gebunden und auf andere Ziele gelenkt wurden, in die Tiefe gesickert, wo sie einen starken und unbeherrsch-baren Strom bilden, der dann und wann in mächtigen Geisiren zu Tag steigt. Bevan scheint die Personifikation dieses Phänomens zu sein.

Hier findet sein starker Rückhalt in der Masse Erklärung, und all das naive Staunen ob der Tatsache, daß das Irrationale seiner Handlungen, das Sprunghafte, unberechenbare und DnaWe seines Wesens ihm eher zu nützen als zu schaden scheinen, löst sich in Nichts auf.

Es ergibt sich hier natürlich die Frage, welche Probleme geeignete Schwerpunkte abgeben würden, und wo die ernsten Auseinandersetzungen rasa die Zutraft, die von der Nebelwand Bevaia-seber Rhetorik verdeckt wird, ausgefoehten werden könnten. Dabei muß man vernrösrltigerweise der sozialistischen Partei die Konzession machen, daß es im nationalen leben Englands gewisse Funktionen gibt, die zwar wichtig sind, aber die Phantasie der breiten Masse niemals fesseln werden. Die Ncuadjustjerung des Londoner Zentrums als finanzielle Schaltstelle Europas und als sein wichtigster Umschlagplatz, der man zumindest teilweise die gegenwärtige Konjunktur zuschreiben muß, ist beispielsweise eine Aufgabe, die einer konservativen Verwaltung immer besser liegen wird als erner soriaristischen. Männer, die. auf der Baumwollbörse, auf den Märkten für Buntmetalle und andere Grundstoffe große Geschäfte mit Waren tätigen, die sie nie zu Gesicht bekommen werden, passen nun einmal nicht in die VorstelltnTgen des „Transport House“. Das alfein wäre fcdoch Tioch kein allzu großes Malheur, es blieben noch immer 'vernachlässigte, aber fruchtbare Aecker, durch die die sozialistischen Pflugscharen ihre Eurchen ziehen könnten. Die Beziehung zwischen Arbeiterschaft tnid“ Kapital, die ganze Frage der „public“ nnd „human relations“ In der Industrie wäre eine natürliche Domäne für den Ausbau einer neuen sozialistischen Programmatik.

Dabei ist es nicht so, daß es hier völlig an neuen und originellen Gedanken fehlt. Der sozialistische Nationalökonom G. D. C o 1 e hat den ganzen Fragenkomplex sehr scharfsinnig und aufgeschlossen analysiert, und auch Attlees ehemaliger Schatzkanzler G a i t s k i 11 dürfte sich keine Illusionen machen, daß die entscheidende Frage längst nicht mehr die ist, wafi sozialisiert, sondern wie sozialisiert werden soll, denn niemand kann leugnen, daß der Ueherschwang der Grubenarbeiter und Eisenbahner, nun die „Herren im eigenen Haus“ zu sein, kaum viel länger gedauert hat als die ersten Festreden, und daß sich seither der graue Staub des Staatsbürokratismus mitleidlos über jene Betriebe abgelagert hat, in der ein neuer Geist der Zusammenarbeit hätte geboren werden sollen. Bezeichnenderweise hat “Bevan von diesem ganzen Trscheinungskomplex bisher überhaupt keine rechte Notiz genommen, er schlägt stur bei jedem Partefkongreß neue Nationalisierungen vor, offenbar weil er eine kindische Freude an dem Strafgericht hegt, das sie, seiner Meinung nach, für gewisse Industrielle bedeuten sollen, und bezeichnet die Gewerkschaftsführer, die sidh blinder Verstaatlichung immer energischer widersetzen — nicht zuletzt weil dadurch ihre kollektive Verhandlungsposition untergraben wird und sie es vermeiden wollen, daß eine künftige Labour-Regierung immer mehr zu ihrem Widerpart würde —, als durchaus rückständige Menschen. Das Bedenkliche dabei ist aber wieder, daß er dadurch den Männern, die die Probleme .richtiger sehe, alle Schubkräfte raubt, und ohne die Unterstützung einer aufgeklärten, die Probleme zumindest in ihren Umrissen erkennenden Masse, hätten auch die Fabier an den sozialen Zuständen in 'Großbritannien nicht ein Jota verändern können. Auf einem anderen lebenswichtigen Gebiet abeT, dem der Ausgestaltung und Weiterentwicklung des kolonialen Empires — noch immer ein Raum von 2 Millionen Quadratmeilen mit 77 Millionen Einwohnern —, fehlen befruchtende Ccdanken fast völlig. Sie werden recht und schlecht, durch allgemeine humanitäre Phrasen ersetzt, die aber nicht mehr darüber hinwegtäuschen können, daß die GewerkseEaftssekretariate gar nicht den Versuch mafhm, etwas gegen die reaktionäre Einstellung der meisten ihrer Mitglieder zu unternehmen.

Bereits die Einstellung eines einzigen Inders als Kontrollor auf einer Buslinie hat vor kurzem zu einem größeren Streik geführt, and Görden Walker, der Kolonialminister Attlees, hat sich unlängst gegen die freie Einwanderung von Arbeitskräften aus Westindien ausgesprochen. Nun ist es ganz schön, zu sagen: Schaffen wir dach kein „oolour problem“, wo bis jetzt keines besteht, geben wir weder ladern noch Negern aus britischen Territorien Arbeit und Brot, aber wo bleibt dann die Fraternität innerhalb des Commonwealth und die oft zitierte Freizügigkeit? Man ist noch lange kein Progressiver, wenn man ich einmal im Monat über McCarthy und die Zustände in den Südstaaten der USA erregt. Die Labour Party ist mit anderen Worten in einen Zustand saturierter Stagnation geraten, wie sie für die Konservativen mit Stanley Bald-win einsetzte. Der Unterschied ist nur, daß damals der Rebell Churchill die Gefahr, in die man geraten war, immer wieder aufzeigte, während der Rebell Bevan sie mit den blendenden Gaben eines großen Demagogen verhüllt.

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