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Konservatives Tauwetter

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Die gesetzliche Lebensdauer des gegenwärtigen Parlaments von Westminster ist mit dem Frühling 1960 befristet. Den Termin für die Neuwahlen bestimmt der Premierminister; von seiner Beurteilung der Lage hängt es daher ab, ob die britische Wählerschaft erst zum denkbar spätesten Zeitpunkt, das heißt im Herbst 1959, oder, was wahrscheinlicher ist, bereits im kommenden Frühjahr zur Urne gehen wird. So oder so: die Regierung MacMillan nähert sich jetzt der letzten Geraden vor dem Finish, das darüber entscheiden wird, ob die Konservativen ein neues Mandat zur Führung der Nation bekommen oder ob sich das Experiment einer Labour-Regierung wiederholen soll.

Noch vor etwa einem Jahr waren sich die meisten ernst zu nehmenden Beobachter darübei einig, daß die Konservative Partei so gut wie keine Aussicht habe, aus den nächsten allgemeinen Wahlen nochmals als Siegerin hervorzugehen. Nicht nur, daß bei Ersatzwahlen da und dort der Sitz des Konservativen an Labour verlorengegangen war oder- nur mit knappet

Mehrheit verteidigt werden konnte: bei zahl-

- msnts m .AttwnHi- it srw • .sbnMwi igt reichen Grafschafts- oder Gemeindewahlen gab es richtige Erdrutsche zugunsten der Sozialisten. Aber auch außerhalb der wahlarithmetischen Arena war das Vorherrschen einer antikonservativen Stimmung unverkennbar. Die Ursachen waren nicht schwer zu erforschen. Auf außenpolitischem Gebiet war es vor allem der Schock der Suezkanalaffäre, der in weitesten Kreisen eine heftige Kritik an der konservativen Staatskunst hervorrief. Das damals entstandene Mißtrauen gegen die führenden Parteimänner blieb noch lange nach dem Ausscheiden Sir Anthony Edens und der Uebernahme seines Amtes durch Harold MacMillan fühlbar. Anderseits war auch das, was nun im innenpolitischen Raum fürs erste geschah — oder entgegen bestimmten Erwartungen, nicht geschah —, wenig geeignet, das Vertrauen wiederherzustellen. Die längst fällige und volkswirtschaftlich notwendige Lockerung des Mieterschutzes, die von der Regierung verfügten Kreditrestriktionen und andere Maßnahmen zum Schutz der aufs schwerste bedrohten Währung, ihr Widerstand gegen lineare Erhöhungen der Löhne und Gehälter wie ihr scheinbares Unvermögen, dem ständigen Wachsen der Lebenshaltungskosten Einhalt zu tun — all das und möglicherweise mehr noch MacMil-lans Verzicht auf jegliche populäre Geste und seine offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber der öffentlichen Meinung, wo und wie immer sie sich äußern mochte, drückte die Volkstümlichkeit der konservativen Devise auf den vielleicht tiefsten Stand in der Geschichte der -Partei.

Wann sich dann der Wind gedreht hat, läßt ' sich nicht mit einem Datum oder einem bestimmten Ereignis fixieren. Die Verbesserung der Stimmung war nicht ausschließlich ein Verdienst des Regierungschefs und seiner ministeriellen Mitarbeiter. Der Preisverfall auf den internationalen Rohstoffmärkten, der vielen Zweigen der britischen Industrie zugute kam und die britischen Exportziffern trotz der amerikanischen Rezession in die Höhe schnellen ließ, hat dazu ebenso beigetragen wie die sich anbahnende Stabilisierung des Lebenshaltungsindex und die wachsende Unpopularität von Streikparolen. Die erste Voraussetzung allerdings für die Erwärmung des konservativen Klimas war der Erfolg der Regierung MacMillan im Kampf gegen die Inflation. Die Wiederauffüllung der vor einem Jahr nahezu erschöpften Dollarreserven mit dem Gegenwert von mehr als 450 Millionen Pfund und die sich daraus ergebende Festigung des Sterlingkurses wurden bisiweit nach, „linkaSur als eine Leistung anerkannt„ durch diet manche • unpopuläre Maßnahme dieser Regierung ihre nachträgliche Rechtfertigung erfuhr.

Ein wirklicher Umschwung zugunsten der konservativen Staatsführung hat sich erst in den letzten Wochen bemerkbar gemacht; genauer gesagt, seit Anfang Oktober, seit dem Kongreß der Labour-Partei in Scarborough, dessen äußerst unpräziser Programmentwurf für den Fall eines Labour-Sieges bei den nächsten Wahlen ungeheuer ernüchternd wirkte.

In Scarborough war das Bestreben offenkundig, die internen Spannungen der Partei möglichst zurückzudrängen und den Eindruck zu erwecken, daß die Gefahr eines Ueberhand-nehmens radikaler Tendenzen in der Parteiführung jetzt und für alle Zukunft gebannt sei. Aber der Gegensatz zwischen dem rechten und dem keineswegs zur Mäßigung bekehrten linken Flügel der Partei besteht eben weiter, trotz der Demonstration freundschaftlichen Händeschüt-telns, die Gaitskell und Bevan vor der Fernsehkamera inszenierten. Dies erwiesen besonders die verlegenen und widerspruchsvollen Ab-schlußerklärungen. Eine künftige Labour-Regierung, so heißt es da, wäre gewiß an der Gesundheit des Pfundes interessiert, würde aber die Staatsausgaben wesentlich erhöhen; mit anderen Worten, sie würde, wie schon seinerzeit die Regierung Attlee, der Inflation Tür und Tor öffnen und den internationalen Kredit der Pfundwährung untergraben. Sie würde sich bemühen, Investitionen und Wirtschaftsexpansion zu fördern, zugleich aber der Wirtschaft durch erhöhte Besteuerung und nicht näher definierte Lenkungsmaßnahmen neue Fesseln auferlegen. Von einer Reihung der Prioritäten hinsichtlich Verteidigung, wirtschaftlicher Expansion und sozialer Leistungen ist nicht die Rede, und von dem alten sozialistischen Steckenpferd, der Verstaatlichung, nur in sehr unverbindlichen Wendungen; was kaum einen Zweifel darüber läßt, daß zumindest die Eisen- und Stahlindustrie, die sich nach ihrer Reprivatisierung von den Folgen ihrer seinerzeitigen Verstaatlichung wieder glänzend erholt hat, neuerlich dazu ausersehen ist, jenem Steckenpferd als Versuchsfeld zu dienen. Nur eines geht aus diesen und den übrigen Punkten der Erklärungen von Scarborough mit aller Deutlichkeit hervor: käme Labour wieder sn die Macht, dann müßte sich das britische Volk auf sehr viele und wahrscheinlich sehr Peinliche Ueberraschungen gefaßt machen.

Auf Ueberraschungen aber legt das britische Volk heute vermutlich weniger Wert denn je.

Es will wissen, woran es ist und was ihm bevorsteht, auch wenn die Aussicht, die sich da eröffnet, keine angenehme ist. MacMillan bagatellisiert keineswegs das Problem der mehr als einer halben Million Arbeitslosen noch das Problem Zypern noch die Gefahren im Nahen Osten usw., und er behauptet auch nicht, daß seine Partei ein Zaubermittel bei der Hand hätte, um alle diese Fragen im Handumdrehen zu lösen. Aber mit seiner Offenheit und der nüchternen Weise, in der er die sich ergebenden

Aufgaben behandelt, ist er einem wachsenden Teil seines Volkes sicherlich näher gekommen als der Führer der Opposition, der jedem etwas versprechen muß, aber niemanden recht befriedigen kann. So ist heute die Prognose nicht unbegründet, daß auch im nächsten Parlament von Westminster die Konservativen auf den Bänken der Regierungspartei Platz nehmen werden und daß der nächste Premierminister wieder Harold MacMillan und nicht Hugh Gaitskell heißen wird.

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