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Abschied von der Royal Navy?

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Ehe der britische Premierminister seine Vorbereitungen für die Heise nach Moskau beendet batte, sah er sich einer der ernstesten Krisen seiner Regierung gegenüber. Am Samstag. dem 19. Februar, hatte nämlich der Minister für Marineangelegenheiten, Mr. Christopher Mayhew, seinen Rücktritt erklärt. Nicht genug damit, auch der Erste Seelord, Admiral Sir David Luce, wird voraussichtlich zrurücktreten, dem sich unter Umständen weitere hohe Offiziere der Kriegsmarine anschließen könnten.

Obwohl Mr. Wilson and seine Kabinettskollegen nach außen hin ein gelassenes Gesicht zeigen, spricht man in Kreisen eingeweihter Publizisten von einer großen Nervosität der Regierungspartei. In einem Lande, in dem die Kriegsmarine durch Jahrhunderte eine Vorrangstellung unter den verschiedenen Waffengattungen einnahm, in dem früher die jüngeren Söhne des Landadels entweder Geistliche oder Seeoffiziere wurden, ist das auch nicht verwunderlich. Die Unruhe der Labour-Partei erklärt sich vielleicht auch daraus, daß dieser Rücktritt einer breiten Öffentlichkeit die tiefe Kluft über das „richtige” Verteidigungskonzept zum Bewußtsein gebracht hat. Dieser Umstand schadet natürlich vor allem der Regierungspartei. da sich die konservative Opposition bisher geschickt heraushielt.

Welche Motive leiteten Mr. Mayhew zu seiner gewiß dramatischen Geste? Diese Frage stellt man sich unwillkürlich, auch wenn die Verteidigungskrise schon längere Zeit unterschwellig spürbar war. Um die Beweggründe verdeutlichen zu können, ist es notwendig, einmal die englische Vorstellung von der Position Großbritanniens in der Welt von heute und morgen darzustellen.

Alte Verpflichtungen

Als der zweite Weltkrieg ausbrach und Großbritannien nach dem Eintritt Japans zahlreiche Einflußbereiche aufgeben mußte, glaubte man nicht mehr an eine Rückkehr in den ostasiatischen Raum. Immerhin waren die Bindungen mit einzelnen Common wealth-Ländern noch so eng, daß schon die Regierung Attlee VerPflichtungen in diesem Raum einging. Die Entwicklung der politischen Spannungen in Europa nach 1947 bedeutete gleichzeitig auch die Bindung namhafter Kräfte in Mitteleuropa; durch die NATO und die Westeuropäische Union ist diese Tatsache insofern institutionalisiert worden, als sich Großbritannien gegenüber Frankreich verpflichtet, in Westdeutschland Truppen im Umfang von 80.000 Mann zu halten (die Stärke ist später auf 55.000 Mann herabgesetzt worden). Dieses Zugeständnis war übrigens der Preis für Frankreichs Eintritt in die Westeuropäische Union.

Gleichzeitig arbeitete man an einem Aufbau der atomaren Rüstung, um die unabhängige Aufgabe Großbritanniens in der Weltpolitik zu unterstreichen. Für den Transport der Atombomben standen Geschwader von V-Bombem zur Verfügung, die freilich schon heute als überholt angesehen und spätestens 1970 ersetzt werden müssen. Alles diente dem einzigen Zweck, Großbritannien neben den beiden Supermächten USA und UdSSR die Stellung als Weltmacht zu erhalten.

Die Auswertung der einzelnen Spezialgebiete der Naturwissenschaften für die Rüstung, die in den letzten 15 Jahren zunehmend an Boden gewann, das Vordringen der Raketentechnik, der Elektronik usw. erfordert steigende Mittel für die Verteidigung. In diesem Wettlauf mußte Großbritannien aus wirtschaftlichen Gründen der Atem ausgehen. Schon Harold Macmillan wollte 1957 die Verteidigungsausiga- ben auf 1,5 Milliarden Pfund Sterling begrenzen, eine Absicht, die an der Realität zunichte wurde. Die nächste Formel bestand darin, den Rüstungsaufwand mit sieben Prozent des Bruttonationalproduktes zu begrenzen, ein Ziel, das 1964 tatsächlich erreicht worden ist. Dem sozialistischen Kabinett unter Harold Wilson war diese Einschränkung unzureichend. Sie forderten in ihrem Wahlaufruf vom Herbst 1964, daß der Verteidigungsaufwand absolut riiit zwei Milliarden Pfund Sterling begrenzt werden müsse, um mehr Finanzierungsmittel für sozialpolitische (und bildlungspolitische) Aufgaben freizubekommen.

Überprüfung des Verteidigungskonzeptes

Der sozialistische Verteidigungsminister Denis Healy unterzog das Verteidigiungskonzeipt Großbritanniens einer strengen Prüfung und ließ sich dabei nachhaltig von Vorstellungen seines amerikanischen Kollegen McNamara leiten. Mit dem Aufwand von zwei Milliarden Pfund Sterling sollte jenes Programm verwirklicht werden, das den größten oder günstigsten militärischen Nutzen versprach. Dieses Kostendenken, das in Industrie und Handel selbstverständlich ist, stellte die Militärs von Großbritannien vor schwierige Entscheidungen. Denn die Überprüfung des Verteidigungsbudgets offenbarte, daß sich Großbritannien entweder eine halbwegs schlagkräftige Luftwaffe oder Kriegsmarine leisten konnte, wobei eine moderne Marine etwa viermal soviel kostet als eine Umrüstung der Royal Air Force, keinesfalls aber beides. Minister Healy und seine Berater stellten den Kostenstandpunkt über die Tradition und wiesen das Programm der Marine, drei bis vier moderne Flugzeugträger zu bauen, schließlich zurück. Der Marineminister, welcher die Belange der Royal Navy in der Regierung und in der Öffentlichkeit politisch zu vertreten hat, zog die Folgerung und trat zurück, was die erwähnte Kettenreaktion auszulösen droht.

Träte der Marineminister bloß aus diesen Loyalitätserwägungen zurück, wäre es ein kleiner Zwischenfall, sicherlich peinlich, aber bald vergessen. Mr. Mayhew ließ sich allerdings von tieferliegenden Gründen beeinflussen. In einer Stellungnahme nach seinem Rücktritt erklärte er, daß Großbritannien in den siebziger Jahren keine weltweite Rolle einschließlich „der Präsenz in Ostasien und im Indischen Ozean (East of Suez) mit einem Verteidigungsbudget von zwei Milliarden Pfund Sterling spielen kann… Die Nation muß einer harten Tatsache begegnen und entweder ein höheres Verteidigungsbudget in Kauf nehmen oder sich mit einer kleineren internationalen Rolle zufriedengeben”. Ein Verteidigungsbudget von zwei Milliarden Pfund Sterling sei nur für eine halbe Sache ausreichend. Falls die Regierung eine Hauptrolle behalten möchte, müsse sie sich mit’ dem Preis einverstanden erklären und die Mittel für ausgewogene Streitkräfte zur Verfügung stellen, nämlich sowohl für die Umrüstung der Luftwaffe als auch der Kriegsmarine. Dafür sei der Betrag von zwei Milliarden Pfund Sterling freilich völlig ungenügend. Falls Großbritannien aus was immer für Gründen sich nicht ein höheres Verteidigungsbudget leisten könne, müssen die Verpflichtungen radikal eingeschränkt werden. Er trete deshalb für einen schrittweisen Rückzug aus dem Indischen Ozean und Ostasien ein. Vor allem müsse sich Großbritannien aus dem Versuch einer Abriegelung Rotchinas fernhalten. So wäre es möglich, das Verteidigungsbudget sogar mit 1,8 Milliarden Pfund Sterling zu begrenzen.

Weitgehend deckt sich diese Darstellung mit den Gedanken von Sir Solly Zuckerman, dem Chefberater für wissenschaftliche Fragen der Regierung, und Enoch Powell, dem Sprecher für Verteidigungsfragen des Schattenkabinetts der Opposition. Auch diese beiden Männer treten mehr oder weniger offen für eine Revision der bisherigen Verteidigungspolitik ein, wenn aueh mit unterschiedlichen Motiven. Sie steht allerdings im Gegensatz zur offiziellen Linie des Verteidigungsministers Mr. Healy und, dies dürfte entscheidend sein, mit den Vorstellungen des Premierministers selbst. Beide Politiker befürworten die Aufrechterhaltung der weltpolitischen Rolle Großbritanniens; im Gegenteil, sie wollen diese Stellung sogar noch aufwerten.

Abgesehen von der Rivalität der Waffengattungen drückt sich der Streit um die Verteidigung in einander widersprechenden Stellungnahmen der betroffenen Industriegruppen aus. Während die Werften selbstverständlich die Kriegsmarine unterstützen, vertreten die Flugzeugfabriken mit geteiltem Enthusiasmus den offiziellen Standpunkt der Regierung, geteilt deshalb, weil die RAF auf amerikanische Maschinen umgerüstet werden soll und das Gemeinschaftsprojekt einer verbesserten Mirage IV aus militärischen Gründen wenig Aussicht auf Verwirklichung hat.

Wenngleich die Einsicht und die Vernunft auf seiten des zurückgetretenen Marineministers sind, können nur wenige Publizisten seinen Standpunkt gutheißen. Selbstverständlich erntet er Sympathie wegen seines mannhaften Rücktrittes, aber seine Vorschläge für den Rückzug aus dem Indischen Ozean finden kaum Zustimmung. Man möchte eben doch Weltmacht spielen. Und deshalb neigt man eher zum Konzept der Luftwaffe, das mit jenem der Regierung zumindest derzeit identisch sein dürfte, wonach mit einigen Geschwadern des amerikanischen Typs F ll1 A von Inselstützpunkten im Indischen Ozean die „Befriedungsaufgabe” wirksam gelöst werden könnte.

Innenpolitische Kettenreaktionen?

Zur Zeit ist noch nicht abzusehen, inwieweit dieser Konflikt innerhalb der Regierung die Meinung der Wähler beeinflussen wird. Einige Kommentare, vor allem natürlich von Persönlichkeiten der Arbeiterpartei, schätzen den Einfluß als gering ein. Die Opposition wiederum möchte ihn gerne hochspielen, damit dieser Streit von unbezweifelten Eiv folgen der Regierung an der innenpolitischen Front ablenkt. Ein solches Ablenkungsmanöver hat die Konservative Partei wirklich nötig, da die Einstellung der Wähler zur Regierung und vor allem zum Premierminister durchaus positiv ist. In den letzten Ergebnissen der. Meinungsbefragung hatte die Regierung einen Vorsprung von 13 Prozent. Würde morgen eine Wahl stattftnden und das Wählerverhalten dem in der Befragung zum Ausdruck gekommenen Muster entsprechen, müßte Harold Wilson mit einer Mehrheit von etwa 100 Mandaten nach Westminster zurückkehren. Sosehr die Wähler sich nach einer stabilen Regierung sehnen, sind sich viele bewußt, daß eine solche sozialistische Mehrheit die Verstaatlichung der Stahlindustrie erwarten läßt. Auch sollte sie Anlaß für eine Ausweitung der Planifikation sein. Wohl als Vorbeugung erklärte der Aufsichtsratsvorsitzende von IC1, Mr. Chambers, vor kurzem, daß die Wirtschaftspolitik der Regierung dilettantisch sei und zu einer Katastrophe führen müsse. Der Nationalökonom Lord Robbins sagte gleichzeitig, daß die verstaatlichte Industrie Großbritanniens bestenfalls ein Vorbild für Unproduktivität sein könne. Die politische Aktivität der Wirtschaft erklärt sich aus der allgemeinen Erwartung, daß Harold Wilson demnächst. das Parlament auf lösen und Neuwahlen ansetzen werde. Neben der Wirtschaftspolitik wird in dem kommenden Wahlkampf die Verteidigung zweifellos eine bedeutende Rolle spielen, und der mutige Schritt des Marineministers bietet Gelegenheit für die Politiker beider großen Parteien, über die Schatten der imperialen Vergangenheit hinwegzukommen. Jedenfalls hat er die Chancen der „Europäer” unter den Politikern erheblich vermehrt, die schon immer das Engagement im Commonwealth zugunsten eines solchen in Westeuropa einschränken wollten. Oder mit den Worten eines jungen Abgeordneten: „Entweder wir bleiben eine Zwergenweltmacht oder wir werden eine europäische Großmacht.”

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