6738665-1966_32_06.jpg
Digital In Arbeit

Wilsons „Dünkirchen“

Werbung
Werbung
Werbung

Die Abgeordneten erlebten in den letzten Tagen vor den Parlamentsferien in Westminster einen Schock, der nur mit der Stimmung unmittelbar nach Dünkirchen verglichen werden kann. Unbemerkt vom Mann auf der Straße hatte sich eine Krise um das Pfund Sterling entfaltet und zugespitzt, daß die Regierung ihre wohlgemeinten Pläne für eine wirtschaftliche Expansion beiseiteschob. Premierminister Wilson gab am 20. Juli in einem randvollen Unterhaus drastische Maßnahmen zur Einschränkung der Indlandsnach-

frage bekannt. Seit 1931, wie einige Publizisten ausrechneten, mindestens aber seit 1946, wie offiziell zugegeben wird, hat der deflationistische Eingriff nicht ein solches Ausmaß erreicht. Um mehr als 500 Millionen Pfund Sterling (mehr als 36 Milliarden Schilling) soll die inländische Nachfrage verringert werden. Außerdem ist beabsichtigt, die öffentlichen und privaten Ausgaben in Übersee um 150 Millionen Pfund Sterling einzuschränken. Diese Schritte ergänzen jene, die im Budget schon vorgesehen sind und wel che die Nachfrage im privaten Sekto: der Wirtschaft um 700 Millionei Pfund Sterling drosseln sollen. Hinzt kommt noch die Erhöhung de: Bankrate auf 7 Prozent.

Ein chirurgischer Eingriff

Die scharfe Haltung der Regierung die einem chirurgischen Eingriff gleichkommt, erklärt sich aus ihren Streben, das Vertrauen des Auslandes in das Pfund Sterling wieder herzustellen. Das Mißtrauen wirkte sid nämlich in einem ständigen Verkau: des Pfund Sterling aus, das ohne Intervention der Bank of Engiant den Wechselkurs hätte sinken lassen; die Kursmanipulation führte jedoch zu einem starken Verlust an Währungsreserven (Gold, Dollar! und harte kontinentale Währungen) Da Harold Wilson bis zuletzt optimistisch blieb, mußte das „deflationistische Paket“ in letzter Stunde zusammengestoppelt werden.

Die Inlandsnachfrage wird aul verschiedene Wege eingeschränkt Zunächst einmal soll der Auftrieb begrenzt werden, der vom Konsumentenkredit ausgeht; zu diesem Zweck wird für Kraftfahrzeuge die Anzahlung auf 40 Prozent und für Möbel auf 20 Prozent erhöht sowie in beiden Fällen die Laufzeit auf 24 Monate verkürzt. Auch für Hausrat wird der Käufer einen höheren Betrag bar erlegen müssen. Diese Maßnahmen sollten nach Schätzung des Schatzamtes den Konsumentenkredit und damit die Nachfrage um 160 Millionen Pfund Sterling mindern. Ferner wurde die Kaufsteuer (purchase tax) für eine Reihe von Gütern, wie Bier, Wein, Schnäpse, Petroliumderivate sowie die allgemeine Kaufsteuer um ein Zehntel hinaufgesetzt. Man schätzt, daß dadurch die Gesamtnachfrage um 150 Millionen Pfund Sterling gedämpft wird. Auch die Einkommen-steuer soll um ein Zehntel angehoben werden. Schließlich wurde für den Herbst eine Erhöhung der Posttarife angekündigt. Die steuerlichen Maßnahmen sollen eine Kontrolle der Bautätigkeit unterstützen, vor allem in Südengland, wo die Errichtung von Bürogebäuden praktisch verboten wurde.

Neben Schritten, welche die private Nachfrage dämpfen sollen, wurden die öffentlichen Investitionsvorhaben um etwa 150 Millionen Pfund Sterling gekürzt. Obzwar sich dies erst 1967 68 voll auswirken wird, erwartet man schon für heuer einen merklichen Rückgang der Nachfrage. Alle diese Einschränkungen haben allerdings auf die Zahlungsbilanz Großbritanniens bloß einen mittelbaren Einfluß, indem sie die gesamte Nachfrage drosseln und auf diese Weise die Einfuhr herabsetzen; man schätzt nämlich, daß etwa zwei Fünftel der Nachfragezunahme oder des -rückganges auf den Import entfallen. (Da durch alle Maßnahmen zusammen die Gesamtnachfrage um 500 Millionen Pfund Sterling zurückgehen soll, werden voraussichtlich 200 Millionen Pfund Sterling zahlungsbilanzwirksam sein.) Um die Zahlungsbilanz unmittelbar zu entlasten, gab Premierminister Wilson bekannt, daß die Militärausgaben in Ubersee um 100 Millionen Pfund Sterling gekürzt werden; die Kosten der Rheinarmee soll nach britischer Meinung die Bundesrepublik Deutschland zur Gänze übernehmen; falls mit Bonn über diesen Punkt keine Übereinstimmung erzielt werden kann, werde man etwa 35.000 Mann abberufen. Auch im Reiseverkehr sollen Devisen gespart werden; ab Herbst dürfen nur noch 50 Pfund Sterling anstatt von derzeit 150 Pfund Sterling auf eine Auslandsreise mitgenommen werden.

Genesis der Krise

Premierminister Wilson sah sich schließlich noch genötigt, für die Dauer von einem halben Jahr einen Lohn- und Preisstopp zu verkünden. Uber diesen Schritt, der in den politisch bewußten Kreisen ein unbehagliches Gefühl der Erinnerung an die „wage-pause“ (jetzt spricht man ehrlich von „wage-freeze“) des konservativen Schatzkanzlers Selwyn Lloyd hervorrief, wäre es beinahe zu einem offenen Bruch im Kabinett und in der Partei gekommen. Zum besseren Verständnis der Lage wird ein Überblick über die Entstehung der Krise nützlich sein.

Diese Pfünd-Krise entfaltete sich stufenweise und war verborgen schon den ganzen Frühling vorhanden. Allgemein erwartete man, daß die Bekanntgabe des Budgets das Mißtrauen in die sozialistische Regierung zerstreuen sollte. In den Finanzzentren blieb man jedoch nervös, als entsprechende deflationistische Schritte ausblieben und die Einkommenspolitik nur langsam vorankam. Überdies hielt der Trend eines sich vergrößernden Einfuhrüberschusses an. Der Premierminister und der Wirtschaftsminister wollten aber von einer herkömmlichen Deflation nichts wissen; der eine, weil er in der Opposition elf Jahre lang gegen die Stop-and-go-Politik gewettert hatte, der andere, weil er seinen nationalen Wirtschaftsplan und seine mühsamen Erfolge in der Einkommenspolitik gefährdet sah. Das Budget vom April hat deshalb die selektive Beschäftigtensteuer und nicht ein orthodoxes deflatorisches Paket enthalten.

Zwei entscheidende Stunden

Das Kabinett Wilson beruhigte die ausländischen Kreditgeber und erklärte, daß gegen Ende des Jahres der Einfuhrüberschuß abgebaut wäre. Ein Team des Internationalen Währungsfonds aus Washington unter der Leitung des bekannten Nationalökonomen Jack Polak, das Anfang Mai nach London kam, um die wirtschaftliche Lage und Aussicht zu studieren, urteilte bündig: Unmöglich, daß Großbritannien das Versprechen einhalten kann, im Dezember 1966 die Zahlungsbilanz ausgeglichen zu haben. Diese Schlußfolgerung sprach sich in New York, London, Frankfurt, Paris und Zürich herum. Als der Seeleutestreik ausbrach, ritt das Pfund Sterling buchstäblich auf des Messer« Schneide. Die Außenhandeisergebnisse von Mal und Juni, der Rücktritt von Frank Cousins und die veröffentlichte Ziffer des Rückganges der Währungsreserven um knapp 50 Millionen Pfund genügten, um eine wilde Spekulation gegen das Pfund in Gang zu setzen.

Premierminister Wilson zeigte weiterhin seinen Optimismus und fuhr fort, den Wählern und ausländischen Gästen zu erzählen, wie geschickt Großbritannien die orthodoxe Deflation umgangen habe. Finanzzentren verkauften dennoch ununterbrochen Pfunde. Der neue Gouverneur der Bank of England, Mister Leslie O’Brien,ersuchte Downing- streėt Nr. 10 um eine Unterredung, die zwei Stunden dauerte. Es gelang, den Premierminister von der Unausweichlichkeit einer scharfen Defla-

tion und der Notwendigkeit einer Erhöhung der Bankrate um ein Prozent auf sieben Prozent zu überzeugen. Harold Wilson beauftragte den Kabinettssekretär, Sir Burke Trend, gemeinsam mit Sir Eric Roll vom Wirtschaftsministerium und Sir William Armstrong vom Schatzamt, ein deflationistisches Paket vorzubereiten. Dieses Paket wurde in Tag-und- Nachtarbeit fertiggestellt und dem Premierminister mit einem Sonderkurier nach Moskau nachgeschickt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung