6720640-1965_11_06.jpg
Digital In Arbeit

Die zornigen Mediziner...

Werbung
Werbung
Werbung

Wer sich in letzter Zeit mit engli-echen Ärzten unterhielt, fühlte sich nach der kanadischen Provinz Sas-katchewan oder nach Belgien versetzt. Eine schon lange fühlbare, aber nicht sichtbare Unzufriedenheit mit der Stellung des praktischen Arztes in der Gesellschaft verdichtete sich zu einem gefährlichen Gemisch. Auseinandersetzungen mit dem zustän-gen Minister, Mr. Robinson, über die Höhe der finanziellen Entschädigungen für die Dienste eines praktischen Arztes schienen Anfang Februar zu einer Katastrophe zu führen. Die größte Interessenvertretung der Ärzteschaft, die British Medical Association (BMA), forderte nämlich Vertragskündigungen an, die sie dem staatlichen Gesundheitsdienst nötigenfalls am oder nach dem 1. April 1965 überreichen wollte, sofern die Regierung dem Verlangen der Ärzte nicht nachkam, die Einkommen beträchtlich zu erhöhen. Die Regierung Wilson unterschätzt augenscheinlich die Lage. Ihr wurden rasch die Augen geöffnet. Ende letzter Woche arbeiteten sechs Angestellte der BMA fieberhaft, um den Strom der Kündigungsschreiben zu sichten, zu zählen und nach Regionen in Bündel zu ordnen. Bis 2. März hatten bereits 10.445, bis 3. März fast 11.400 Ärzte der BMA solche Kündigungen über-sandt. Von den 23.00 praktischen Ärzten haben damit knapp 50 Prozent der Bitte der Standesvertretung entsprochen. Falls der Streit nicht mit einem Kompromiß beendet werden kann, droht Großbritannien ab 1. Juli im staatlichen Gesundheitsdienst ein vertragsloser Zustand, wenn nicht überhaupt dessen Zusammenbruch.

Es bestehen zwar keine Zweifel über die Ursache des Ärztekonfliktes, nämlich eine Art „Gehaltsstreit“, um so mehr jedoch über die Gründe der Verhärtung der Fronten. Häufig weist man auf den Umstand hin, daß in Großbritannien nun drei Organisationen die Interessen der praktischen Ärzte wahrnehmen. Die älteste, angesehenste und bei weitem größte ist die erwähnte BMA mit rund 18.000 Mitgliedern. Von ihr hat sich vor dem ersten Weltkrieg die Medical Practitioners' Union (MPU) abgespalten; sie zählt etwa 5000 Mitglieder und gilt als der linke Flügel der Mediziner, zumal sie sich 1935 dem Gewerkschaftsbund (!) angeschlossen hat. Vor 18 Monaten bildete sich während einer Gebühren-auseinandersetzung eine dritte Gruppe, die General Practitioners' Association (GPA), die es auf einen Mitgliederstand von etwa 2500 brachte. Die GPA steht zwischen der BMA und der MPU; den Gründern waren nämlich die BMA zu traditionell und konservativ, die MPU zu links. Um' ganz sicher zu sein, hat sich eine Anzahl von Ärzten allen oder zumindest zwei Standesvertretungen angeschlossen.

Dieses vielleicht übertrieben anmutende Sicherheitsstreben der britischen Ärzte erklärt sich wohl daraus, daß sie einem mächtigen Vertragspartner gegenüberstehen, dem staatlichen Gesundheitsdienst. Die konservative Regierung hat zwai schon vor mehreren Jahren ein unabhängiges Uberwachungskomite ins Leben gerufen, das zwischen der Standesvertretungen und dem Gesundheitsdienst vermitteln sollte. Aber das System, nach welchem die Ärzte entschädigt werden, ist so kompliziert, die Beziehungen zwischen Ärzteschaft und Staat in vieler Hinsicht noch nicht zurechtgerückt, daß immer noch genügend Reibungsflächen für Konflikte bestehen. Die Mittel für die Entschädigung der Ärzteschaft entstammen nämlich einem Fonds, der aus verschiedenen Quellen gespeist wird. Der staatliche Gesundheitsdienst stellt für die allgemeine medizinische Versorgung der Bevölkerung pro Patient eine bestimmte Summe zur Verfügung. Diese ergänzen Gelder der Lokalbehörden für verschiedene ärztliche Dienstleistungen, wie zum Beispiel Geburtshilfe, Impfungen, Spitalsassistenzen usw. Insgesamt dürfte jeder Arzt durchschnittlich ein Jahreseinkommen von etwa 4215 Pfund Sterling beziehen, wovon er jedoch nur etwa 2800 Pfund Sterling versteuern muß, da die Behörden den Rest als Spesen betrachten. Dieses Einkommen ist allerdings nicht leicht verdient, da auf jeden Arzt im Mittel etwa 2260 Personen entfallen (in Österreich im Jahr 1963 1133 Personen; Anm. d. Red.) — die tatsächliche Größe der Praxis schwankt natürlich zwischen den dichtbevölkerten Industriegebieten und den ländlichen Gegenden beträchtlich.

Das neutrale Überwachurigskomi-tee hat dem Gesundheitsministerium empfohlen, die Fondsmittel um 5,5 Millionen Pfund Sterling zu erhöhen. Hierdurch stiege das durchschnittliche Jahreseinkommen eines praktischen Arztes um 240 Pfund Sterling. Die Ärzteschaft lehnte diese Empfehlung als völlig unzureichend ab. Sie verlangte eine Aufstockung der Fondsmittel um rund 15 Millionen Pfund Sterling. Vielleicht hätten sich die Mediziner mit den angebotenen 5,5 Millionen Pfund Sterling zufriedengegeben, wenn die Verbesserung nicht an gewisse Bedingungen geknüpft worden wären. Das Überwachungskomitee hatte nämlich angeregt, daß ein Betrag von vier bis fünf Millionen Pfund Sterling nur zur Rückzahlung hoher, nachgewiesener Ordinationsaus-gaben (Einrichtungsgegenstände) bereitgestellt werde. Das war für die Ärzte eine zu starke Zumutung.

Diese milde Kontrolle, dieser leise Druck, die Ordination immer auf dem neuesten technischen Stand zu halten, entfachte den Zorn der praktischen Ärzte erst( recht. Die ersten Rebellen waren 25 Ärzte in Stourbridge in Worcestershire. Ob-zwar der Lebensstandard dieser Mediziner für landläufige Begriffe beachtlich ist, fühlen sie sich vernachlässigt. Sie leben zwar in großen Häusern, einzelne sogar in Zwölfzimmervillen, fahren teure Autos, wie Jaguar, und schicken ihre Kinder nach alter Mittelstandssitte in nicht minder teure Privatschulen, aber dies alles sei, so erklären sie zumindest, nur eine Fassade. Einige von ihnen entstammen angesehenen Familien, die in jeder Generation mindestens einen Arzt aufgewiesen haben, die aber dennoch nicht zulassen würden, daß ihre Kinder ebenfalls den Beruf eines Arztes ergreifen würden. Eine der Arztfrauen erklärte in einem Interview mit der „Sunday Times“, sie seien nicht gewillt, in Slums zu leben und um Mitleid zu bitten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung