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Strafe für Streß

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Vier „stumme“ Herzinfarkte konnte ein praktischer Arzt in einer niederösterreichischen Ortschaft im Laufe eines Jahres mit Hilfe des Elektrokardiographen diagnostizieren. Ohne das Gerät hätte er die betreffenden Patienten einfach heimgeschickt. Aber nicht nur der Elektrokardiograph, sondern auch ein gewisses Minimum an Laboratoriumsausrüstung gehört, wie die Standesvertreter der Landärzte meinen, heute in die Hand des Landarztes, der wenigstens in der Lage sein sollte, Blut- und Harnzucker zu bestimmen und Leberfunktionsproben selbst durchzuführen.

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Vier „stumme“ Herzinfarkte konnte ein praktischer Arzt in einer niederösterreichischen Ortschaft im Laufe eines Jahres mit Hilfe des Elektrokardiographen diagnostizieren. Ohne das Gerät hätte er die betreffenden Patienten einfach heimgeschickt. Aber nicht nur der Elektrokardiograph, sondern auch ein gewisses Minimum an Laboratoriumsausrüstung gehört, wie die Standesvertreter der Landärzte meinen, heute in die Hand des Landarztes, der wenigstens in der Lage sein sollte, Blut- und Harnzucker zu bestimmen und Leberfunktionsproben selbst durchzuführen.

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In der Praxis enthielt die Praxis des Landarztes bis vor wenigen Jahren allerdings kaum mehr Apparate als in der Zeit des ersten Weltkrieges — Perkussionshammer, Ab-horchgerät und Blutdruckmesser waren die Hauptstützen seiner diagnostischen Tätigkeit. Und ein bedeutender Teil der Landärzteschaft gibt sich damit auch heute noch nolens volens zufrieden.

Denn zum Beispiel Niederösterreichs Ärzteschaft — und in den anderen Bundesländern liegen die Verhältnisse großteils ähnlich — ist überaltert und es ist sehr schwer, qualifizierten Nachwuchs aufs Land au bekommen. Ein großer Teil der Landärzte ließ sich in den harten fünfziger Jahren nieder — damals litt der Stand unter einem drückenden Ärzteüberschuß, und wer in der Stadt nicht unterkam, ging gezwungenermaßen aufs Land. Später freilich gesellte sich zum Abbau des Ärzteüberschusses die große Wanderungsbewegung von der Peripherie in die städtischen Ballungsräume.

Das Ergebnis sieht so aus, daß in den letzten drei (!) Jahren in Niederösterreich der Prozentsatz der praktischen Ärzte unter 50 Jahren von 34,3 Prozent auf 26,2 Prozent sank. Während die Gruppe der 50- bis 60jährigen Landpraktiker zahlenmäßig und prozentuell leicht anwuchs (von 347 oder 41,2 Prozent auf 360 Ärzte oder 43,6 Prozent), erhöhte sich der Anteil der 60- bis 70jährigen Landärzte in diesem Bundesland von 17,2 auf 21,2 und der Anteil der über 70 Jahre alten Ärzte von 7,3 auf 9 Prozent. Und Niederösterreich kann in dieser Beziehung durchaus als typisch angesehen werden.

In wenig mehr als einem Jahrzehnt erhöhte sich das Durchschnittsalter des praktischen Arztes in Niederösterreich um weit mehr als ein Jahrzehnt: 1960 war er 42 Jahre alt, sein Durchschnittsalter stieg seither stetig an, auf 50,5 Jahre 1964, auf 55 Jahre 1968, auf 56 Jahre 1970 und im vergangenen Jahr wiederum um ein halbes Jahr.

Dr. Hans Dock, Vizepräsident der niederösterreichischen Ärztekammer und Leiter einer mit den Problemen der Landärzte befaßten Arbeitsgruppe, hält die Alarmrufe wegen der mangelhaften Versorgung der Landbevölkerung daher zwar für ein „Schlagwort“, wenn man von den absoluten Zahlen ausgeht, meint aber, daß die medizinische Betreuung der Landbevölkerung auf der totalen Überarbeitung einer ohnehin überalterten Ärzteschaft beruht und sieht sie in naher Zukunft gefährdet, snichts unternommen wird, um den

Beruf eines praktischen Arztes auf dem Lande für den Nachwuchs attraktiver zu machen.

Fast so auffallend wie die rapide Aufsteilung der Alterspyramide ist die Abwanderung des Ärztenachwuchses aus dem Dasein eines „einfachen Praktikers“ in die Spezialisierung. Waren 1949 noch mehr als 60 Prozent aller niederösterreichischen Ärzte Praktiker, so sank ihr Anteil, zugunsten der Fachärzte, auf knapp 50 Prozent im Jahr 1965, auf knapp 49 Prozent 1970 und auf knapp 48 Prozent im vergangenen Jahr.

Diese Statistik wird allerdings gemildert durch erhöhte Ärztegesamtzahl (1045 im Jahr 1949, 1749 Ärzte 1965, allerdings nur noch 1726 im vergangenen Jahr). Es kann also kein Zweifel daran bestehen, daß die medizinische Betreuung auch der Landbevölkerung wesentlich besser — und spezialisierter — ist als vor 20 Jahren. Schuld daran, daß es eines nicht allzu fernen Tages schwierig werden könnte, diesen Standard aufrechtzuerhalten, ist, unter anderem, die immer bessere Bezahlung und die geringere Beanspruchung des festangestellten Spitalsarztes.

Die steuerliche Behandlung des Landarztes kann nur als Strafe für Streß bezeichnet werden. Während die 1970 durch eine gemeinsame Initiative von ÖVP und FPÖ im Parlament durchgesetzte Steuerfreiheit für Uberstunden, Nacht-, Sonn- und Feiertagsdienste des Spitalsarztes prämiiert, muß der Landpraktiker nicht nur voll versteuern, was er in unfreiwilliger, durch die Verhältnisse erzwungener Nacht-, Sonn- und Feiertagsmehrarbeit durch einen entsprechenden Raubbau an seiner Gesundheit an Mehreinkommen erzielt.

Er wird auch — vorläufig — mit seiner Sekretärin, Sprechstundenhilfe, Telephonistin, Schneeschauf-lerin und fallweise sogar Raumpflegerin steuerlich in einen Topf geworfen und gemeinsam veranlagt, denn all das und noch mehr muß eine Arztensgattin auf dem Lande sein. Zwar wird die gemeinsame Veranlagung fallen, dafür aber steht auch dem Landarzt die Mehrwertsteuer ins Haus.

Es gibt heute in österreichischen Landgemeinden Arztpraxen mit Wohnung, die mit hohem Kostenaufwand errichtet wurden — und leerstehen, weil kein Anwärter gefunden werden kann. Findet sich einer, so stammt er meist aus der Stadt, denn Medizinstudenten aus Landgemeinden kehren selten dorthin (oder in andere Landgemeinden) zurück,, Hingegen sind in abgelegenen Ortschaften Niederösterreichs zahlreiche aus Wien stammende Landärzte seit 20 oder 30 Jahren tätig.

Ein besonderes Problem stellt für die Ärztekammern der Bundesländer die ärztliche Altersversorgung dar, denn der Ärztestand zählt, gemeinsam etwa mit Architekten und Rechtsanwälten, zu den ganz wenigen Berufsgruppen, die alle mit der Altersversorgung ihrer Mitglieder verbundenen Aufwendungen ohne jeden staatlichen Zuschuß zu leisten haben. Das Problem wird verschärft durch die sogenannten Uralt- und Altlasten, der Maximalbeitrag erreicht heute bereits die Höhe von 28.000 Schilling pro Jahr und wird, da nicht an das Einkommen, sondern an den Umsatz gebunden, bereits von nicht weniger als 46 Prozent der Praktiker und 35 Prozent der Fachärzte in Niederösterreich entrichtet.

Die finanzielle Situation der Pensionskasse verkehrt die stolze Überlegung, Selbstfinanzierung werde den Ärzten Unabhängigkeit sichern, die bei der Gründung der Pensionskasse einst Pate stand, längst in ihr Gegenteil. Da die — bisher nur in diesem Bundesland — von der niederösterreichischen Ärztekammer bei Neuniederlassungen zinsenlos kreditierten 200.000 Schilling dem Pensionsfonds entnommen werden, können diese Kredite, die eine echte Förderung der Arztansiedlung auf dem Lande darstellen, nur auf drei Jahre gewährt werden.

So droht vorläufig die Vertagung vieler, die ärztliche Versorgung der Landbevölkerung betreffender, Fragen auf jenen Tag, an dem wieder ein Überangebot an Ärzten junge Mediziner zwingt, „in die Provinz“ zu ziehen. Wer den Versuch macht, die Zahl der Medizinstudenten in Österreich mit dem abschätzbaren Ärztebedarf von morgen in Einklang zu bringen, könnte freilich zu der Vermutung gelangen, daß es schon in einigen Jahren soweit ist.

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