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Bürokratischer Witz

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In den meisten europäischen Industriestaaten sind rund 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt, in Wien sind es immerhin. 22 Prozent. Laut Volkszählung 1961 gab es 354.800 Männer über 65 beziehungsweise Frauen über 60 Jahre. Dieser Anteil wird für 1980 auf 425.V0Ö geschätzt.

19451960198020002020

In den meisten europäischen Industriestaaten sind rund 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt, in Wien sind es immerhin. 22 Prozent. Laut Volkszählung 1961 gab es 354.800 Männer über 65 beziehungsweise Frauen über 60 Jahre. Dieser Anteil wird für 1980 auf 425.V0Ö geschätzt.

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Wer nun meint, daß gerade Wien unter diesen besonderen Umständen richtungweisende Problemlösungen für ein Altern in Zufriedenheit erarbeitet hätte, wird schwer enttäuscht.

Das zentrale Problem scheint zweifellos der plötzliche und totale Austritt aus dem Arbeitsprozeß zu sein — ein Ereignis, das den alten Menschen mit einer Abruptheit trifft, die als Pensionierungsschock bezeichnet wird.

Mit der ruckartigen Pensionierung treten vor allem gravierende psychologische Probleme auf:

• Die ununterbrochene Freizeit wird als unangenehm empfunden;

• das Gefühl der Nutzlosigkeit, des „Zum-alten-Eisen-Gehörens“ schafft Hatlosigkeit und Unglück, Vereinsamung und schließlich totale Isolation;

• ein Gefühl der Hilflosigkeit läßt viele Menschen erst gar nicht fremde Hilfe in Anspruch nehmen.

Daß Altsein gelernt werden kann, daß das Alter geplant werden muß, ist der Wissenschaft bekannt, nicht aber -den Gemeinden, Schulen,

Betrieben, Gewerkschaften oder auch Volkshochschulen.

Es gibt in Wien keine Altenwerk-stätten, weil sich vor allem die Gewerkschaften diesem Problem gegenüber desinteressiert oder ablehnend verhalten; starre Pensionierungsgrenzen lassen eine Diskussion über eine etwaige Einführung gleitender Pensionierungsgrenzen gar nicht aufkommen. Die strenge Handhabung der Ruhensbestimmungen (es sei in diesem Zusammenhang auf die Haltung von Minister Häuser verwiesen) stellt für viele finanziell schlecht gestellte und geistig rege Menschen durch den gesetzlichen Zwang zur Untätigkeit eine Diskriminierung dar. Dies um so mehr, als weit mehr als die Hälfte der Pensionisten Wiens Frauen sind, von denen die meisten lediglich Bezieherinnen einer Witwenpension und nur zu einem geringen Prozentsatz Bezieherinnen einer Eigenpension sind.

Diese Fehlleistungen gehen fast gänzlich auf das Konto einer ganz allgemein verfehlten Politik, die am Menschen vorbeizielt. Was jedoch Wiens kommunale Einrichtungen betrifft, so könnte man wieder einmal „rot“ sehen: 1970 standen in Wien 25 Altersheime — davon vier städtische — mit einer Gesamtbettenzahl von 7699 Betten zur Verfügung. Von diesen Betten entfielen 6495 auf die vier städtischen, 1471 Betten auf die restlichen 21 Heime!

Aus diesem Zahlenvergleich geht bereits die monströse und kasernenähnliche Konstruktion der städtischen Altersheime deutlich hervor.

In Frankreich dürfen keine Altersheime mit mehr als 80 Betten gebaut werden, wobei sich diese 80 Betten auf Einzelzimmer und auf Zweibettzimmer für Ehepaare verteilen. Die konsequente Nutzanwendung der Erkenntnis, daß sich ältere Menschen nur in einer kleinen, möglichst überschaubaren Gemeinschaft zurechtfinden können.

Viele der für ein Altersheim Angemeldeten erleben allerdings die Ubersiedlung nicht mehr; nicht zuletzt deswegen, weil die Wartezeit für einen Heimplatz in Wien derzeit mindestens ein Jahr beträgt

Aus Berichten über Lainz ist bekannt, welchen Schock die Ubersiedlung darstellt; die Weigerung „Ich will nicht nach Lainz“ scheint aber unter Berücksichtigung der Verhältnisse begründet zu sein. Vor der endgültigen Aufnahme befindet sich jeder Pflegling ungefähr vier Wochen in der Aufnahmeabteilung; langwierige Formalitäten, Untersuchungen und „Kleinigkeiten“, wie die Abgabe der wenigen Habseligkeiten in das Depot, die Vorschrift, Anstaltskleidung zu tragen, stellen eine psychische Gewaltkur dar. Eine nicht adäquate Bibliothek, die Unmöglichkeit, einmal für sich allein zu sein, führt neben anderen Faktoren zu Langeweile, Kontaktarmut, Vereinsamung, ja zur Verzweiflung. Daß es in Wien bis heute noch kein geria-trisches Krankenhaus gibt, ist darüber hinaus symptomatisch für die allgemeine Gleichgültigkeit und Unbekümmertheit

Die Pensionistenklubs der Stadt Wien — eine durchaus begrüßenswerte Einrichtung — stehen in erster Linie nur den Befürsorgten zur Verfügung. Bezieher etwas höherer Pensionen können nur nach Maßgabe freiwerdender Plätze aufgenommen werden. Ein ähnliches Bild bietet sich bei Urlaubsaktionen.

Weiter gibt es in Wien für alte Menschen keine Möglichkeit, Museen, Ausstellungen, Theater und Kinos kostenlos oder doch ermäßigt zu besuchen (was in vielen Ländern bereits Selbstverständlichkeit ist). Lediglich die Dauerbefürsorgten haben auf den städtischen Verkehrsmitteln Anspruch auf einen ermäßigten Tarif, dessen almosenartiger Charakter eine weitere Diskriminierung darstellt.

Nach Angaben des Kuratoriums der Wiener Pensionistenheime gab es 1970 in Wien nur fünf Pensio-nistenheime mit einer Gesamtbetten-anzahl von 1169. Kein Wunder, daß die Wartezeiten mehrere Jahre betragen; Pflegefälle — also Angemeldete mit schlechtem oder verschlechtertem Gesundheitszustand — werden überhaupt nicht mehr aufgenommen, sondern an ein Altersheim verwiesen.

Die Gemeinde Wien hat vor einigen Jahren für Pensionisten gedachte kleine Wohneinheiten errichten lassen. Eine Befragung des Instituts für Soziologie der Universität Wien brachte jedoch äußerst negative Ergebnisse. Die ebenerdigen Wohnungen waren nicht unterkellert, feucht, ohne Zentralheizung. Die Bewohner klagten über Belästigung durch Vorübergehende: Kontakt zu den Bewohnern der umliegenden Siedlungen bildete sich kaum und auch der Kontakt der Pensionisten untereinander war minimal.

Die Vernachlässigung soziologischer Aspekte bei der Errichtung dieser Wohnungen zeigt sich insbesondere in dem häufig geäußerten Wunsch, von Familienmitgliedern oder Freunden besucht zu werden. Ein krampfhafter Assimilierungsver-such mißglückte.

Die durch „Verpflanzung“ alter Menschen aus ihrer gewohnten Umgebung resultierenden Schwierigkeiten könnten wenigstens teilweise durch eine effiziente Pflege und Betreuung alter Menschen in ihren Wohnungen gemildert werden. Essen auf Rädern und Heimhilfen stehen in Wien jedoch nur in einem sehr mangelhaften Ausmaß zur Verfügung (und würden ohne die Unterstützung hilfreicher Organisationen wie der Caritas) völlig zusammenbrechen. Der Personalmangel wäre überdies leichter zu bewältigen, wenn nicht auch der Verdienst aus Sozialarbeit Pensionen kürzen oder zum Wegfall des Alleinverdiener-freibetrages führen würde.

Eine weitere „flankierende Maßnahme“ der Gemeinde Wien, der „Soziale Notruf“, der in dringenden Fällen Auskunft, Rat und Hilfe gewähren soll, hat sich als bürokratischer Witz entpuppt. Der Telephondienst kann nämlich nur während der Amtsstunden (Montag bis Freitag von 8 bis 16 Uhr) in Anspruch genommen werden. Daß die private kirchliche Telephonseelsorge an Wochen- und Feiertagen Tag und Nacht zur Verfügung steht, sei nur am Rande vermerkt.

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