Elend Baracken  - © Foto: ÖNB-Bildarchiv /picturedesk.com

Wohnen im Ausnahmezustand

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Wie fühlt sich der mittlerweile dritte Lockdown im Substandard oder auf acht Quadratmetern an? Eine kleine Soziologie und Historie des – urbanen – Lebens in der Krise.

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Wie fühlt sich der mittlerweile dritte Lockdown im Substandard oder auf acht Quadratmetern an? Eine kleine Soziologie und Historie des – urbanen – Lebens in der Krise.

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Dass die aktuelle Pandemie vorhandene Ungleichheiten noch sichtbarer macht, ist hinlänglich bekannt. Besonders deutlich wird dieses Phänomen im Bereich des Wohnens. Wenn während des Lockdowns die Nutzung des öffentlichen Raumes nur begrenzt möglich ist, wenn Einkaufen auf das Lebensnotwendige reduziert wird und der Zugang zu Schulen, Büchereien, Museen oder Sportstätten unmöglich ist, werden die eigenen vier Wände zum Nabel der Welt. Dieses Zurück­geworfensein hat freilich – abhängig von der individuellen Arbeits- und Wohnsituation, vom Einkommen und der sozialen Stellung – unterschiedliche Auswirkungen.

Beginnen wir mit Familie K., die im 17. Wiener Gemeindebezirk in einer 40-Quadratmeter-Wohung im Erdgeschoß wohnt. Angesichts der Mietpreise ist die vierköpfige, aus Bulgarien kommende Familie froh, überhaupt eine Bleibe gefunden zu haben, die für sie erschwinglich ist. Und sie ist kein Einzelfall: Österreichweit leben laut Berechnungen des Soziologen Johann Bacher von der Johannes-Kepler-Uni Linz sechs Prozent der Bevölkerung bzw. 215.500 Kinder in beengten Wohnverhältnissen.

„Lockdown“ auf acht Quadratmetern

Zwar steht heute in der Großstadt Wien jeder Person mit 36 Quadratmetern mehr Wohnraum zur Verfügung als etwa noch in den 1960er Jahren (mit 22 Quadratmetern): Dennoch ist das deutlich weniger als die 47,3 Quadratmeter im Österreichschnitt – ohne Wien. Besonders prekär ist die Situation für Familien, die im sogenannten „Überbelag“ wohnen, also mit weniger als acht Quadratmetern pro Person. Es ist ein Leben ohne jegliche Privatsphäre. Was hier „Lockdown“ bedeutet, ist kaum vorstellbar.

Immerhin 50,2 Prozent der Wienerinnen und Wiener leben zudem in Wohnungen ohne private Freiflächen wie Balkone oder Terrassen. Österreichweit sind es laut Statistik Austria nur 26 Prozent.

Im Vergleich zu Familie K. geht es Familie Dunal (Name von der Redaktion geändert) deutlich besser. 2015 aus Syrien nach Österreich geflohen, hat sich der Vater mit seinem Marktstand am Brunnenmarkt in Wien-Ottakring ein erfolgreiches Ein-Personen-Unternehmen aufgebaut. Mittlerweile wohnt die Familie in einer geräumigen Wohnung in der Seestadt. Die Bewohnerschaft des neuen Stadtentwicklungsgebiets schätzt das viele Grün und die Freiräume, die sie über den ersten Lock­down „gerettet“ hätten. Auch während dieser Phase hat Herr Dunal täglich elf Stunden am Brunnenmarkt gearbeitet. Seine Frau musste derweil nicht nur die Kinder im Alter von sieben bis neun Jahren betreuen, sondern sollte sie auch beim Home-Schooling unterstützen. Doch das war und ist kaum zu bewältigen: Nun muss die Tochter eine Klasse wiederholen.

94 Kilometer von den Dunals entfernt, in der Region Payerbach, lebt Familie Ansbauer. Als Nebenerwerbsbauern betreiben sie ihren Hof in fünfter Generation. Während des ersten Lockdowns haben sich für sie die Wohnbedingungen kaum geändert, dramatisch waren allerdings die Auswirkungen auf den Rindfleisch-Absatz durch die Schließung der Gastronomie: Weil die Fleischpreise bereits in den letzten 20 Jahren so stark gesunken sind, „dass es sich nicht mehr rechnet“, arbeitet die Mutter als Supermarktkassierin. Den Hof betreibt man nur noch aus Verbundenheit.

Letzter Schauplatzwechsel: Helga A. wohnt seit einigen Jahren in einer Bau­gruppe im Wiener ­Stadtentwicklungsgebiet Nordbahnhof. Über soziale ­Medien teilt sie regelmäßig mit, wie froh sie sei, in Zeiten des Lockdowns in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt mit vitaler Hausgemeinschaft leben zu können. Zu den Vorteilen wie Gemeinschaftsräumen gehören im Lockdown auch der abendliche Balkon-Plausch mit Nachbarn sowie die Sammelbestellung beim Wirten ums Eck.

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