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Audi so wohnt der Wiener

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„DER HERR WÜNSCHT EINE WOHNUNG?” fragt der Angestellte des Realitätenbüros in der Inneren Stadt, von seinem Schreibtische auf- itehend. In allen, mit diskretem, Kredit heischendem Geschmack eingerichteten Geschäftsräumen brennen trotz des keineswegs trüben Frühlingsvormittags alle Leuchtstoffröhren und zeigt das Thermometer an der Wand 22 Grad Celsius über Null. Bunte Vorhänge geben den Blick auf zartbegrünte Bäume frei, und wenn eine der acht Schreibmaschinen einmal aufhört zu klappern, hört man in dem Geäst des Kastanienbaumes rechts drüben die Vögel zwitschern. Nun — der Herr wünschte freilich seit den Tagen, da ihm die Bomben ein Drittel seiner Räume zu Staub zerrieben und den Rest bis in die Grundfesten erschütterten, eine andere Wohnung. Aber dazu war er nicht gekommen. Er wollte wissen — aber ehe er noch reden konnte, rollte über den Intarsientisch ein großer Plan. Alles war darauf: Grund-. Auf- und Seitenriß: Schauplan der Räume, malerisch bunt angelegt: Bäume standen neben dem Haus, ein paar schnittige Innenlenker davor, und fröhliche Kinder pielten. Einfach süß, hinreißend … „Das Herz mir im Leibe entbrennte, da hab’ ich mir heimlich gedacht” — und, um Eichendorff variiert fortzusetzen —, „wer da drin wohnen könnte, hätt’ einen Haupttreffer gemacht!” Treffer, und zwar ins begeisterte Herz, gab es sofort. „Erstens, mein Herr, bitte sehr, die Vorspesen … beachten Sie, bitte, die Lage … die Grundbeschaffungskosten … zweitens, ja, der Grundkostenanteil … drittens … viertens ..

NUR EINIGE DATEN und geprüfte Tatlachen. Laut amtlicher Statistik ist im Frühjahr mit 7000 Wohnungslosen zu rechnen. Die Wiener Obdachlosenherbergen sind auf Monate „vorbestellt”. Nach den vorliegenden Aufstellungen sind in Oesterreich noch 50.000 durch Bomben zerstörte Wohnungen aufzubauen. Die Bombengeschädigten warten seit zwölf Jahren auf Entschädigungen. Schwangere werden oft im letzten Monat der Schwangerschaft delogiert. Adteßbüros erklären, es sei zwecklo , Leutan mit Kindern Anschriften zu gebem rsie, werden, ohnehin nicht genommen werden. Redliche Arbeitswillige verlieren Arbeitsplätze, weil sie obdachlos gemeldet sind. Seelische Zwangsexzesse, Scheidungen, Abtreibungen, Gelenkskrankheiten, Hautschäden sind allerorts mittelbar oder unmittelbar auf die Wohnungsverhältnisse zurückzuführen. Für eine Zimmer-Küche- Wohnung wurde bei 292 S Miete eine Investitionsablöse von 31.500 S gefordert. Und dazu einige mündliche Aeußerungen. Eine Arbeiterin, 30 Jahre alt, zehn Wochen auf der Klinik Wiedmann gelegen, wird delogiert, wohnt drei Tage bei der Bahnhofmission und ist seither verschwunden. Frau P„ ohne Obdach, ‘logierte in offenen Autos, wird beinahe für eine Diebin gehalten. „Ich bring mich noch um!” schreit sie. Eine Kinderpflegerin, 42 Jahre in Arbeit, wird wegen Eigenbedarfes des Hausherrn gekündigt. „Wie ein schmutziges Stück Papier komme ich mir vor”, sagt sie. Im 20. Bezirk hauste ein Mann zwei Jahre in einem Pferdestall (Vorrichtungen für Pferdehaltung noch sichtbar). Beleuchtung: eine Stallaterne. „Manchmal verdrießt mich das Leben, wenn ich sehe, wie schön andere Leut’ wohnen!” hören wir.

Wir besuchen die Familie St. Eine fürchterliche Wohnung, gleich zwei Minuten von den prächtigen, im Grünen liegenden, mit Garagen versehenen Eigentumswohnungen. Drei Viertel des Putzes fehlen von der Zimmerdecke. Die Malerei ist nicht mehr zu erkennen. Die Feuchtigkeit steht am Deckenansatz. Wir fragen die Frau, die gleich bei den ersten Worten zu weinen beginnt, was sie anfangen will. „Punkte hab’ ich, aber zuwenig. Man hat mir gesagt: ,Ja, wenn der Mann krank war’ …’ Denken Sie nur, erst muß ein Mensch krank werden, dann bekommt er vielleicht eine Wohnung! Der Vermittler, bei dem ich hernach war, verlangte einen sogenannten Investitionsbeitrag von 3300 S — und die Vermittlergebühr machte extra 1000 S … es ist zum Verzweifeln … da, schauen Sie die Kasten an, alles angeschimmelt … die Kleider hängen wir, wenn die Sonn’ scheint, zum Trocknen in den Hof — aber das muß zu Mittag sein, denn nur zu Mittag kömmt die Sonn’ in unseren Hof, dort unten, am End’, sehen Sie?”

Dann waren wir beim Herrn Z. Er ist augenkrank. Die Wohnung empfängt kein natürliches Licht, Tag und Nacht brennt eine 40-Watt- Lampe. Das Kabinett mißt 9,3 5 Quadratmeter. Der Boden (Holzbohlen) ist schadhaft. Der Kamin gehörte seit vier Jahren repariert (das Zimmer riecht wie eine Selchkammer). Herrn Z. wurde bedeutet, es gäbe dringlichere Fälle, Obdachlose zum Beispiel. Eine solche Obdachlose war Frau Therese P„ 1912 geboren, ledig, römisch-katholisch, Bezieherin einer Rente von 492 S monatlich. Diese Frau hat vom Wohnungsamt — nachdem sie im Ressel-Park unterstandslos „wohnte” — eine Behausung zugewiesen erhalten. Kabinett und Küche. Nur leichter Schimmelbelag an den Wänden, in der Wohnung ist bloß kein Gas. Aber sonst ist sie „in Ordnung”.

Dann kommen wir zu Herrn P. In seiner Wohnung, die im 10. Bezirk liegt und aus Zimmer und Küche besteht, hausen neun Personen! Die Kinder gehören auch zu jenen 8000 von 44.000 in unserer Stadt, die kein eigenes Bett besitzen. Am liebsten halten sie sich draußen auf der Straße auf. Die Straßen und Höfe sind ihre Wohnheimat.

DIE WOHNUNGSMISERE (trotz Wohnungseigentum, Bausparkassen und Genossenschaften, trotz sozialem Wohnungsbau) begann nicht erst jnit den Bomben und den in die Luft geblasenen 2,8 Millionen Quadratmetern Dachfläche. - Sie begann, genau genommen, im vorletzten Jahre des ersten Weltkrieges, als — aus durchaus moralischen Gründen — ein Mieten- und Kündigungsstopp erlassen wurde. Nach dem Kriege ging diese Bestimmung in die republikanische Gesetzgebung über — noch 1929 hat man das Gesetz novelliert. Keine Rede davon, daß man den Mietenaufwand in den Index nahm. Das hätte schließlich die Zahlung höherer Löhne und Gehälter bedeutet. Das „Rührmichnichtan” eines rationellen Wohnungswirtschaftsgesetzes hatte zur Folge: elf Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges gab es zum Ende 1956 in 1226 österreichischen Gemeinden 167.044 Wohnungssuchende Familien, davon in Wien allein 62.741. Trotz des Aufwandes von beiläufig 15 Milliarden Schilling aus öffentlichen Mitteln für den Wohnungsbau und einer Bautätigkeit wie nie zuvor bleibt Jahre hindurch schon die Zahl der Wohnungsuchenden in der Bundeshauptstadt bei rund 60.000 stehen. Das.rwääMr wiederholen — obwohl etwa die Gemeinde Wien seit Ende des ersten Weltkrieges rund 113.000 Wohnungen für mehr als 300.000 Menschen erstellte (das ist mehr als d’’e Landeshauptstädte Salzburg, Innsbruck, Klägenfürt und Eisenstadt zusammen Einwohner haben), obwohl der Verein der Freunde des Wohnungseigentums zum Beispiel für Ende 1956 650 Projekte mit 17.427 Wohnungen (bei einem Fertigstand von 278 Häusern mit 6891 Wohnungen) auswies.

IN DER WOHNUNGSWIRTSCHAFT gibt es Kurzschlüsse. Wenn das so weitergeht, und wer weiß, ob die gerühmte Konjunktur anhält, dann gibt es eines Tages keine Kurzschlüsse mehr, sondern es brennt das Haus des sozialen Gesellschaftsgefüges. Ein christlicher Staat ohne eine christliche Wohnungsgesinnung, ohne eine allgemeine, umfassende, gleiche, direkte, unbürokratische, gerechte — nicht verpolitisierte und korrumpierte — Wohnungsvergebung, ist undenkbar. Wir brauchen eine Vereinheitlichung der Kreditgebutig und ihrer Verwaltung. Wir brauchen eine abgestimmte Planung für die ganze Republik. Wir brauchen eine Wohnbaubank, deren Aktien durch das Volk zeichenbar sein sollten. Man muß den Sinn der Gemeinschaft wecken und nicht im Taumel der Konjunktur egoistisch genießen. Solange Mitmenschen von Ratten besucht werden, hat jeder sich in seinem Konsum und in den reinen Genußmitteln auf das Nötigste zu beschränken. Einbringung eines gewissen Prozentsatzes des geplanten gestaffelten Quartiergeldes (für den Fall einer einmaligen Zinsregulierung) durch den Arbeitnehmer in die Wohnbaubank, gegen Verzinsung von 7,5 Prozent, wäre anzuraten. Eine Ueberprüfung der „freien Vereinbarungen” zwischen Hausbesitzer und Mieter bzw. Vermittler und Mieter wäre erforderlich. Der Untermietwucher muß abgestellt werden. Es ist untragbar, von der Gemeinschaft Opfer zu verlangen, wenn ein Einzelner ein Vielfaches seines Zinses von mehreren Untermietern einer Großwohnung hereinbringt. Es sollte so lange keine Repräsentativbauten geben, bis alle Obdachlosen und Inhaber gesundheitsschädlicher Wohnungen untergebracht sind. Abgesehen von der jetzt vorgesehenen gesetzlichen unteren Grenze für steuerfreie Einkommen, darf es nicht ein einziges steuerfreies Einkommen geben. Das sind nur wenige — durchaus nicht alle — Punkte, der würgenden Wohnnot ein Ende zu setzen.

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