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Audi eine Gewissensfrage

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Die österreichische Innenpolitik befindet sich seit Jahren in einem Zustand der Lethargie, denn es gelingt kaum noch, im Schöße der Koalition eines der vielen offenen Probleme zu lösen. Die Sanierung der Krankenkassen, das Mühlengesetz und die Einigung mit der Kirche über eine Bereinigung der vermögensrechtlichen Fragen — Beispiele aus der jüngsten Zeit —, das alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß wichtige Probleme einfach deshalb nicht bewältigt werden, weil man sich im Koalitionsausschuß nicht einigen kann.

Es ist überhaupt eine eigene Sache, das Regieren in Österreich. Eine heikle Frage kommt in den Ministerrat. Hier sitzen die Vertreter der beiden Regierungsparteien zusammen. Man kann sich nicht einigen und tritt daher den Gegenstand an den Koalitionsausschuß ab. Er besteht seinerseits aus Vertretern der beiden Regierungsparteien. Ist das „Klima“ gut, streitet man sich zusammen. Meist aber herrscht eine sehr kühle und frostige Atmosphäre. Ergebnis: die Dinge bleiben liegen! So geht das seit Jahren.

Zu jenen Problemen, die aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen ernstlich angepackt und gelöst werden müßten, gehört die Wohnungsfrage. Hier gibt es Klagen und Anklagen, Beschuldigungen und Vorwürfe hin und her. Die Leidtragenden dieses „Koalitionskrieges“ sind die Obdachlosen, die Wohnungsuchenden oder die von Delogierung bedrohten Menschen.

Ihre Not wird nicht geringer, sondern von Tag zu Tag ernster.

Jährlich werden in Österreich etwa vierzigtausend Wohnungen gebaut, und man sollte glauben, es müßte sich mathematisch errechnen lassen, wann der Wohnungsbedarf gedeckt erscheint. Dem ist leider keineswegs so, denn immeT wieder vergrößern unerwartete Ereignisse die Zahl der Wohnungsuchenden. Da meldet der Hausbesitzer Eigenbedarf an, dort muß ein Haus aus baupolizeilichen Gründen geräumt werden. So geht es am laufenden Band, und die Gerichte geben den Delogierungsanträgen statt.

Dabei gibt es anscheinend — auch in Wien — sehr viele Wohnungen, die zu haben sind. Man lese nur einmal aufmerksam den Anzeigenteil der Sonntagsblätter. Hunderte Wohnungen werden zum Kauf oder zum Tausch angeboten. Immer aber spielt das Problem der „Ablösen“ die wesentliche Rolle. Leider ist es heute so, daß man sagen muß: Wer Geld hat, kann sich eine Wohnung nach seinem Geschmack suchen, wer arm ist, muß in der einsturzgefährdeten Wohnung oder im Obdachlosenasyl ausharren.

Welche Rolle die „Ablösen“ heute spielen, dafür einige wenige Beispiele: Eine Kriegerwitwe hat die Zusicherung, eine Konzession für eine Tabaktrafik zu erhalten, wenn sie ein Lokal beizustellen vermag. Sie findet ein solches, allerdings in sehr desolatem Zustand. „Ablöse“: 30.000 Schilling. In einer Zeitung wird eine aus

Zimmer, Kabinett und Küche bestehende Wohnung angeboten. „Ablöse“: 20.000 Schilling. Dabei müssen die kommenden Mieter den Fußboden auf ihre Kosten gänzlich erneuern lassen. Ein kinderloses Ehepaar gibt die in einem Privathaus befindliche und aus Zimmer und Küche bestehende Wohnung auf, um in einen von der Gemeinde Wien errichteten Neubau zu übersiedeln. (Beziehungen?) Obwohl das Ehepaar die neue Wohnung praktisch gratis bekommt, wird von ihnen für die aufgegebene Privatwohnung eine „Ablöse“ von 15.000 Schilling gefordert und angenommen!

Seitenlang ließen sich diese Beispiele fortsetzen. Dabei ereignen sich täglich tragische Fälle. Ein junges Ehepaar hat das Glück, eine winzig kleine Mansardenwohnung zu bewohnen. Sie möchten gern ein Kind haben, bringen aber in ihrem jetzigen Heim nicht einmal einen Kinderwagen unter. Und keine Hoffnung auf eine größere Wohnung! In einem anderen Fall droht eine junge Familie an der Wohnungsnot zu zerbrechen. Die Frau wohnt mit einem Kind bei ihren Eltern, er bei seinen Eltern. Die junge Frau ist mit den Nerven total fertig. Seit fünf Jahren laufen die jungen Leute zum Wohnungsamt, schreiben Gesuch um Gesuch, aber alles ist umsonst!

Immer drückender wird das Wohnungsproblem, weil sich die Politiker nicht einigen können. Die Sozialisten meinen offenbar, mit Bewirtschaf-tungsgeseticn alleia der Situation Herr weiden und mit der Wohnungsnot ihre politischen Geschäfte auch in Zukunft treiben zu können. Das ist ein ganz arger Trugschluß, denn die unr mittelbare Vergangenheit sollte auch sie davon überzeugt haben, daß mit Kleiderkarten und Bezugscheinen der Mangel an Kleidern und Schuhen nicht überwunden werden konnte.

Woran es heute mangelt, ist der Mut zur Wahrheit. Der Mensch braucht Nahrung und Kleidung. Er braucht aber auch eine Wohnung. Es ist wirtschaftlich ein glatter Unsinn, wenn für Nahrung, Kleidung, Auto, Waschmaschine, Kühlschrank und Fernsehen ein bestimmter Teil des Einkommens abgezweigt wird, nur die Wohnung soll nichts oder doch nur sehr wenig kosten. Die Allgemeinheit, also jeder Steuerzahler, wird viel, sehr viel sogar, für den Wohnungsbau opfern müssen, ohne daß unter den jetzt obwaltenden Zuständen ein Ende der Wohnungsnot abzusehen wäre.

Dabei ist es nun keineswegs so, daß die Menschen nicht bereit wären, für die Wohnung einen entsprechenden Preis zu zahlen. Das Hochhaus am Matzleinsdorfer Platz ist genau so ein Beweis dafür, wie die Eigentumswohnungen. Man streiche daher endlich die Schlagworte von den „Zinsgeiern“ und der „Hausherrenrente“ aus dem politischen Vokabular und überlege ernstlich, ob nicht die Möglichkeit geschaffen werden müßte, freiwerdende Wohnungen zu einem gerechten Mietzins zu vergeben, dafür aber den Ablösewucher mit aller Strenge zu unterbinden. Man kann nämlich auch von einem Arbeiter nicht erwarten, daß er für ein Trinkgeld arbeitet, und man sollte keinem Hausbesitzer — auch nicht der Gemeinde Wien — zumuten, Wohnungen für einen Preis zur Verfügung zu stellen, der auch nicht die bescheidensten Instandsetzungskosten deckt. Die Gemeinde Wien zahlt jährlich viele Millionen aus Steuergeldern, um ihren Bestand an Althäusern zu sichern.

Auf dem Gebiet des Wohnungs- und Mietenwesens herrscht in Österreich ein Chaos, das geradezu nach einer Lösung schreit. Wer daher Wohnungen leer stehen läßt, weil er auf einen zahlungskräftigen Mieter wartet, macht sich um kein Jota mehr schuldig als jene Politiker, denen es an Vernunft und Einsehen zu einer richtigen und gerechten Ordnung mangelt. Die Obdachlosen, die jungen Ehepaare, sie alle wollen nicht den politischen Kleinkrieg, sondern eine Wohnung, von der sie sagen können: „Mein Heim ist meine Burg!“

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