6678866-1961_34_16.jpg
Digital In Arbeit

Die Slums sterben

Werbung
Werbung
Werbung

ALS HAUPTDARSTELLER EINES KRIMINALFILMS kommt man sich vor, wenn man an einem nebeligen Nachmittag durch die Slums von London streift. Fast menschenleer sind die Gassen. Nur hie und da zwei tratschende Frauen vor einer Haustür, ein paar streunende Hunde. Man fühlt sich einsam und verlassen in diesem Sumpf des Elends. Hier, südlich der Themse, in der Slumgegend, die sich weiter flußabwärts erstreckt und in kaum zu unterbietenden Elendsvierteln endet, herrscht eine Atmosphäre, die man eben nur in einem englischen Slum finden kann. Menschenschweiß, Nebel, die Feuchtigkeit des nahen Flusses, das Aussehen der Menschen und so viele Kleinigkeiten sind es, die sie zusammenbrauen. Schlendert man so durch die mehr oder weniger engen Gassen, so spürt man förmlich die Kriminalromanatmosphäre. Die schmalen, kaum mehr als fünf Meter breiten, einstöckigen Häuschen mit ihren schmutzigen Fassaden sind durchweg alle mehr als hundert Jahre alt. Sie stammen aus der Zeit der großen Ausdehnung Londons in der Mitte des vorigen Jahrhunderts.

Die Slums mit ihren typischen Häuschen sind keineswegs ein Stückchen Inselromantik, die nur in London zu finden ist. Auch in Schottland, Wales und Nordirland kann man diesen Bezirken begegnen. 1955 ergab eine Zählung, daß im ganzen Königreich Großbritannien mehr als eine Million Slumhäuschen reif für die Spitzhacke wären. Man nahm damit ein gigantisches Projekt in Angriff, das sich „slum Clearing” — Slumreinigung — nennt und vorsieht, aus den Slums moderne Hochhauskolonien zu machen. Vor wenigen Jahren noch gab es in England und Wales 850.000 solcher Bauten, das waren 6,5 Prozent aller Häuser, in Schottland mehr als 150.000, gleich zehn Prozent, und in Nordirland zählte man 1958 50.000 Häuser, die in Slums zu finden waren und sich zum Bewohnen kaum mehr eigneten. Trotzdem aber lebten Menschen, vier- bis fünfköpfige Familien, in diesen, aus zwei Schlafräumen im Obergeschoß, einem Wohnraum und einer Küche im Parterre bestehenden Elendsquartieren.

In vier Jahren. 1956 bis einschließlich 1959, wurden in England und Wales von den zuständigen Behörden 198.287 dieser Häuser niedergerissen oder als unbewohnbar erklärt. 589.192 Bewohnern wurden neue Heimstätten zugewiesen. In Schottland liegt die Zahl der niedergerissenen oder als unbenützbar erklärten Häuser bei 33.687, während in Nordidand in den Jahren 1958 bis 1959 498 Häusern Slums niedergerissen und 668 für unbewohnbar erklärt wurden. Immer größere Gegenden dieser Slums fallen der Spitzhacke zum Opfer, während sich daneben schon moderne Wohnhochhäuser erheben, ja praktisch neue Städte entstehen. Ein Musterbeispiel für die Llmwandlung der Slums in Hochhauskolonien in London ist Brandon, südlich der Themse im Herzen der großen Stadt. Noch vor wenigen Jahren herrschte in dieser Gegend, wo sich heute modernste

Wolkenkratzer zum Himmel erheben, jene Atmosphäre, wie sie die Kriminalfilmregisseure suchen. Nicht die Menschen waren es, sondern die Häuser, die den Slums ihr unheimliches Aussehen gaben.

BRANDON ESTATE nennt sich das Projekt, das durchgeführt wird. Steht man auf der Terrasse eines der Hochhäuser, so kann man das Slumgebiet ringsum noch gut überblicken. Man sieht in die winzigen Hinterhöfe jener Häuser, die aus dem vorigen Jahrhundert stammen. Die Familie, der diese neue Wohnung jetzt gehört, lebte einmal da unten. Als ich fragte, wie denn das Leben in so einem winzigen Haus sei, beutelten sich alle ab und gaben nur eine Antwort: horrible — schrecklich. In diesem Haus selbst waren die Wände nicht viel stärker als fünf bis acht Zentimeter. Im Flur hatte man kaum Platz, sich umzudrehen, und das Wohnzimmer war mit einer Couch, einem kleinen Tisch und zwei Polstersesseln schon vollgeräumt. Den schmalen Gang weiter kam man zur Küche, in der ein Küchenschrank, ein Tisch und eine Kochgelegenheit mehr als drei Personen nicht mehr einließen. Von dieser Küche führte eine Tür in einen Hinterhof, der aus der Nähe noch viel trostloser aussah als aus luftiger Höhe. Über eine schmale Treppe konnten die Bewohner in ihre Schlafgemächer im Oberstock klettern. Klettern ist der richtige Ausdruck, wie ich mich selbst überzeugen konnte, als ich so ein noch bewohntes Haus besuchte. Zwei Schlafzimmer, eines links und eines rechts der „Treppe”, erinnern in der Größe fast an Kabinette in unseren Neubauwohnungen. Wo die Leute hier jedoch ihre Sachen unterbringen, ist mir ein Rätsel. Aber zurück zur luftigen Höhe des Wolkenkratzers. Hier, im achtzehnten Stock, ist man schon über dem Londoner Nebel und sieht ihn wie ein riesiges graues Ungeheuer über der Stadt liegen. Die Wohnung, die einen Balkon hat, ist nach den modernsten Errungenschaften eingerichtet. Zentralheizung ist hier selbstverständlich, ebenso wie ständiges Heiß wasser. Eine Trockenkammer im Vorzimmer, die nach Belieben ein- oder ausgeschaltet werden kann, erspart der Hausfrau das lästige Aufhängen der feuchten oder nassen Wäschestücke in der Wohnung.

Und die Mieten? Für einen Einzelraum zahlt man 25 englische Shilling, also etwas mehr als achtzig Schilling, pro Woche. Eine drei Zimmer große Wohnung kostet 140 Schilling, während für sechs Zimmer etwas mehr als drei Pfund, also rund 220 Schilling, pro Woche gezahlt werden muß. Dazu kommen noch Zuschläge für Zentralheizung und Warmwasser, die für einen Raum rund vierzig Schilling, für drei Räume fünfzig und für sechs Räume ungefähr siebzig Schilling ausmachen. Die Wochenmiete in einem Haus in den Slums kostet mehr als hundert Schilling. Auf diese neuen Wohnungen warten 52.000 Londoner, davon 10.000 in den Slums.

DER LONDONER HAT. WIE DIE BEWOHNER ALLER GROSSEN STÄDTE, seine liebe Not, wenn er versucht, sich eine Wohnung zu verschaffen. Sind seine Mittel nicht unbegrenzt, gibt es auch für ihn den bitteren Weg vom Wünschenswerten zum Erreichbaren. Und doch ist alles ganz anders, ich bin versucht, zu sagen, viel einfacher, als hier in Wien. Es ist aber auch viel abenteuerlicher, komplizierter, eine Wohnung zu finden, und die Verlockungen und Enttäuschungen scheinen einem viel größer als in anderen Städten. Schon der Ausgangspunkt, die Wahl einer Wohnung, ist nicht einfach. Hier bei uns stellt das kein sehr großes Problem dar. Man weiß, welchen Bezirk man vorzieht, ob man lieber in einem neuen oder alten Haus leben will. Nicht so in London. Da gibt es „Maisonettes”, Wohnungen, die auf zwei Etagen verteilt sind. (Der Londoner liebt es eben, in seinem Haus spazieren zu gehen und Treppen zu steigen.) Diese Häuschen findet man überall, sie bestimmen das Stadtbild Londons. Sie liebt auch der Londoner, wenn er auch ein Einfamilienhaus mit Garten draußen irgendwo am Stadtrand — es kann schon fast bei Brighton sein — vorzieht. Die ungeheuren, unpersönlichen Mietskasernen sind noch immer in der Minderzahl.

Die heutigen Stadtplaner drängen systematisch in die Höhe, und die Hochhäuser schießen, sehr zum Mißfallen alter Londoner, wie Pilze aus dem Boden. Daneben trachtet aber der Grafschaftsrat, viele Leute infolge des großen Ansturms möglichst billig unterzubringen und baut noch immer kleine Einfamilienhäuser. Die großen Mietblocks hingegen, die man auch sehr häufig findet, sind ein Produkt unseres Jahrhunderts.

Viel häufiger aber als diese mehrstöckigen Mietblocks sind die drei oder vier Etagen hohen villenartigen Gebäude, die um einen stillen Platz gebaut sind, in dessen Mitte ein ge meinsamer Privatgarten mit hohen Bäumen und gepflegtem Rasen liegt. Die Bauten ringsum waren einmal Villen. Im Kellergeschoß lagen Küche und Gesinderaum, im Erdgeschoß die Empfangsräume, im ersten und eventuell im zweiten Stock die Schlafzimmer der Herrschaft, und unter dem Dach hausten die Bedienten. Mit dem Verschwinden der Dienstboten und des Geldes, mit dem sie bezahlt wurden, hat das Aufteilen dieser Villen in verschiedene selbständige Wohnungen eingesetzt. Im Gesinderaum, wo einst der Butler und die Köchin ernste Konversation betrieben und ihre Herrschaft über Zofe und Diener ausübten, steht jetzt der Fernsehapparat des Hausbesorgers.

HÄUSERKAUF IST HEUTE IN LONDON noch immer das beste, um eine Wohnung zu bekommen. Es wird viel gebaut, und die Wohnungen sind, dank der Subventionen, recht billig. Sie dienen aber in erster Linie dazu, jene Leute, die heute noch in den Slums leben, in menschenwürdige Quartiere zu bringen.

Die Häuser, die zum Verkauf angeboten werden, zeichnen sich nicht gerade durch besondere Qualität aus. Man findet in der Regel keine Doppelfenster, keine Fensterläden; vielfach kommen Abwasserleitungen außen an der Hauswand herab und frieren im strengen Winter leicht ein. Auch gibt es in diesen Bauten noch sehr häufig offene Kamine statt Öfen. Doch werden diese Nachteile in der Bauweise, durch das milde Golf-Strom- Klima gerechtfertigt, durch die leichte Erschwinglichkeit aufgehoben. Das liegt nicht nur am Preis. Ein Arbeiterhäuschen mit fünf Zimmern kostet etwa 180.000 bis 200.000 Schilling, ein mittelständisches Häuschen gleicher Größe mit Garten in den Vororten draußen gegen 300.000 Schilling. Weiter wird auch die Möglichkeit geboten, bis 90 Prozent des Hauswertes in einer 20 bis 30 Jahre währenden festen und unkündbaren Hypothek ab zuzahlen. Hausbesitzer zu werden ist auch dadurch nicht schwer, daß der Staat seinen Bürgern gestattet, die Hypothekarzinsen in der Steuererklärung als Abschreibeposten anzuführen.

Im allgemeinen unterliegen die Häuserpreise großen Schwankungen. Snobismus, Klassenbewußtsein und Mode diktieren die Preise. Spaziert man durch die noblen Viertel, wie Mayfair, Kensington und Knights- bridge, so sieht man oft höchst unscheinbare Wohnungen, die sich an der Hinterseite herrschaftlicher Häuser über den in Garagen verwandelten Stallungen befinden. Es sind die sogenannten „Mews-Wohnungen”, die Aussicht auf einen gepflasterten, unschönen Hinterhof gestatten. Sie sind nach dem ersten Weltkrieg große Mode geworden als pieds-à-terre für die emanzipierte jeunesse dorée, für kinderlose Ehepaare und für Künstler. Ihre Bewohner zahlen teures Geld für sie. Was in jeder anderen Stadt verächtliche Hinterhöfe wären, hat durch die Mode einen übersteigerten Wert erhalten.

CHELSEA’. Von diesem heute unerschwinglich teuren einstigen Künstlerviertel aus zieht ein Strom von Ölfarbe, Tünche und Innendekoration nach Westen und beginnt, einige früher als ausgesprochene Proletarierviertel geltende Straßenzüge in Fulham zu erobern. Haustüren erscheinen plötzlich in grellem Rot, in Pastellblau oder Gelb, was nicht immer unbedingt schön zu nennen ist, jedoch von einem gewissen Besitzerstolz zeugt. Gewisse Straßen, die noch vor dem ersten Weltkrieg so sehr im Ruf der Sittenlosigkeit und der Armut standen, daß sie umbenannt werden mußten, da junge Leute aus diesen Straßen nirgends eine Stelle erhalten konnten, werden jetzt zum Wohnsitz einer nicht sehr bemittelten, aber sozial und künstlerisch ambitionierten Klasse. Man wohnt in Fulham und verkehrt in den Espressobars Chelseas. Diese Erscheinungen gibt es in ganz London. Straßen, in die man noch vor ein paar Jahren zu abendlicher Stunde keinen Fuß setzte, sind durch ein bißchen Ölfarbe, durch originelle Vorhänge hinter den Fenstern und durch ein paar Blumenstöcke ganz verwandelt worden.

PREISVERÄNDERUNGEN SIND DIE FOLGE dieser Verwandlungen der ehemaligen Proletarierviertel — und manchmal auch Slums. Manche Leute suchen diese Entwicklung spekulativ auszuwerten. Sie kaufen ein billiges Haus, geben ihm durch eine auffallende Bemalung und Hineinstellen irgendwelcher Stilmöbel ein neues Prestige und verkaufen es mit Gewinn. Daß Kapitalgewinne in Großbritannien nicht versteuert werden müssen, bildet einen besonderen Impuls zu solchen Unternehmungen.

Der im allgemeinen hinaufstrebende Lebensstandard trägt viel zu der Entwicklung des Wohnwesens der Mittelklasse und des Arbeiterstandes bei. Die zuständigen Behörden fördern diese Entwicklung sehr, ist es doch auch in ihrem Interesse. Und die Slums verschwinden nach und nach. In fünf bis zehn Jahren - so schätzen Fachleute - wird es in Großbritannien keine Slums mehr geben. Da taucht aber eine Frage auf: Wo werden die Filmregisseure ihre „Jack-the-Ripper- Atmosphäre” dann herbekommen?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung