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Alteisen mit Glas

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Wenn man diese Anlagen entlangfährt und die gigantischen Blocks der Glasministerien auf tauchen, läuft es einem heiß den Rücken herunter, als habe man einen Blick in das nächste Jahrhundert getan. Der erste — und letzte! — Eindruck ist: „Das ist erschütternd, neu und zu groß, um als Alteisen mit Glas weggeworfen zu werden.“

Das Gespenstische wird noch durch die Leere gesteigert. Am Sonntag abend um 20 Uhr und am Montag früh 8.30 Uhr habe ich auf dieser Autobahn, die mit Parallelstraßen für den Lokalverkehr 16 Kraftwagen nebeneinander Platz bietet, auf einer Strecke von drei Kilometer kein Auto gesehen. Warum? Am Sonntag abend waren die Beamten in den Wohnungen und am Montag vormittag in den Ämtern (sie werden in Staatsomnibussen abgeholt und heimbefördert). Brasilia wird fast nur von Beamten bewohnt. Die anderen wohnen in der Umgebung, in den „Satellitenstädten“.

Der Staat Goiäs hat der Bundesregierung eine Fläche von 6000 km2 für den „Distrito Federal“, den „Bundesdistrikt“ zur Verfügung gestellt. In ihm liegen die moderne Hauptstadt nach dem Stadtplan, dem „Plano Piloto“, (man sagt aber auch: „Ich wohne Plano Piloto W. 3“), ebenso wie die fünf „Satellitenstädte“ und zahlreiche „Favelas“ — Elends Siedlungen.

Es war nicht einfach, festzustellen, wie viele Leute heute in Brasilia leben. Ich fragte sieben Leute, vom Hotelportier und Fremdenführer bis zum Parlamentarier und Diplomaten. Jeder gab eine andere Auskunft. Schließlich bekam ich die offizielle Statistik. Nach ihr leben im Bundesdistrikt 235.000, im „Plano Piloto“ aber nur 89.000 Menschen. Sie wohnen auf dem Gerüst einer Traumstadt, die für 600.000 Einwohner geplant ist, und sie benutzen mit ihren 4000 Kraftwagen Autobahnen, die für 100.000 Autos gebaut sind. Eine gewaltige Verpackung für einen kleinen Inhalt. Bisher sind 35 Prozent des Zentrums, aber zum Beispiel nur fünf Prozent der Nordachse ausgebaut. Brasilia ist noch nicht einmal zu zehn Prozent fertig!

Es fehlt am Kapital

Nun scheint es auf den ersten Blick unbegreiflich, daß — bis vor kurzem — in Säo Paulo die Hochhäuser aus dem Boden schossen,

während in Brasilia von 1000 nur zehn aus privaten Mitteln gebaut wurden. Brasilia wächst so langsam, weil das Privatkapital kein Vertrauen zu der Stadt — und vor allem zu ihrer wirtschaftlichen Rentabilität! — gewonnen hat. In Rio de Janeiro lebt es sich viel angenehmer. Also sind nur zwei Gruppen umgezogen: Beamte, die versetzt wurden und außerdem das doppelte Gehalt in Brasilia beziehen, und Leute, die schnell reich zu werden hofften. Nun hat die Bundesregierung allein — das heißt abgesehen von Staats- und Versicherungsgesellschaften — 63 Milliarden Cruzeiros (vor der Inflatoin!) investiert. Für alle am Bau Beteiligten boten sich große Chancen. Aber Beamte und Bauhandwerker schaffen keine Kaufkraft. Für eine Viertelmillion

Menschen zogen nur 200 Ärzte in den Bundesdistrikt. Das Privatkapital sah ein großes Risiko, nämlich die mögliche Einstellung des Baues, und kleine Gewinnchancen. So ist es auch zu erklären, daß es für die 90.000 Menschen im Plano Piloto nur zwei Kinos gibt.

Alle klagen über das unzureichende Warenangebot und die zu hohen Preise. Aber die Geschäfts-

leute antworten, daß sie alle Waren (sogar Gemüse) 1200 km aus Säo Paulo heranschaffen, hohe Mieten (70 bis 220.000 Cruzeiros: 2500 bis 10.000 österreichische Schilling) zahlen müssen und geringe Umsätze haben.

Da Private nur wenig bauen, zahlt ein Bekannter für ein Vierzimmerhäuschen an der Umgehungsstraße, auf deren gegenüberliegender Seite ohne Planung eine sechs Kilometer lange Geschäftsstraße entsteht — das Achtfache (3500 Schilling) der Miete, die ein Beamter für eine gleichwertige staatliche Wohnung ausgeben muß.

Der „Superquader“

Der Aufbau Brasilias ist in erster Linie ein Problem des Wohnungsbaus: Obwohl es auch Einzelhäuser — sogar mit Gärtchen vor der Tür — gibt, wird als typische Wohnform der sogenannte „Superquader“ gebaut: 4000 Menschen wohnen in elf Ameisenhaufen aus Zement mit Glas: in zehn Wohnblocks mit je 35 und einem mit 60 Wohnungen. Auf jeden „Superquader“ kommen Geschäftsstraße, Volksschule, Kinderspiel- und Sportplatz. Auf je vier „Superquader“ sind eine Kirche, ein Kino, eine höhere Schule, ein Swimming-pool und eine Tanzbar geplant. Ein Drittel der Fläche soll aus Rasen und Blumen bestehen. Aber vorläufig ist das nur Theorie. Ein einziger „Superquader“ ist nach dem Plan beendet. Er \ sieht wohnlich aus. Zehn andere sind mehr oder weniger fertig. 80 stehen noch auf dem Papier.

Der Wohnungsmangel führt zu grotesken Erscheinungen. So besetzten 187 neugewählte Parlamentarier gewaltsam „unbenutzte Wohnungen“. (Sie waren von rückversetzten Beamten oder nicht wiedergewählten Abgeordneten oder von ledigen Beamten, die Kolleginnen mit Wohnung geheiratet hatten, nicht zurückgegeben worden.) Die Polizei hinderte sie an dem Wieder betreten der Wohnungen. Noch jetzt wohnen 100 Parlamentarier im Hotel. (Die Kammer zahlt ihre Wohnung, aber nicht ihr Essen.) Sie beklagen sich über die Isolierung. Nun gibt es eine Luftbrücke nach Rio de Janeiro, auf der stündlich ein Flugzeug verkehrt. Der Flug dauert etwa zwei Stunden und kostet hin und zurück 60.000 Cruzeiros, mehr als 1000 österreichische Schilling.

Parlamentarier haben mit ihren Familien einmal im Monat einen Freiflug. Beamte bekommen Ermäßigung. Die einzige billige Verbindung bieten bequeme Omnibusse, die auf gut asphaltierten Straßen in etwa 24 Stunden nach Rio und Säo Paulo — zirka 1200 km — verkehren und zirka 7000 Cruzeiros — 300 österreichische Schilling — hin und zurück kosten. Obwohl jetzt fast 200 Journalisten am Regierungssitz arbeiten, zwei Rundfunk- und drei Fernsehstationen betrieben werden und sich die Zahl der Zeitungen von einer auf fünf erhöht hat, fehlt es an Verbindungsmitteln, zum Beispiel an Telex oder Mikrowellen. Auch fehlt dem Parlamen tarier der dauernde Kontakt mit den Wählern, den er zum Beispiel in Rio hatte.

Geteilte Behörden

Auf dem Mangel an Wohnraum und Verbindungen beruht es auch, daß die brasilianischen Zentralbehörden bisher nur zu etwa einem Zehntel in die neue Hauptstadt verlegt wurden. Nur die „richterliche

Gewalt“ wird wirklich schon von dem „Platz der drei Gewalten“ gelenkt. Das Justizministerium und der Oberste Gerichtshof arbeiten schon zu 100 Prozent in Brasilia. Im Außenministerium findet man dagegen nur elf höhere Beamte. 20 Legationsräte repräsentieren das „diplomatische Corps“. „Man sieht immer die selben Gesichter. Jeder kennt jeden. Alle sitzen aufeinander. Das hat — negativ — die Nachteile der Distanzlosigkeit, des Klatsches und so weiter, schafft aber — positiv — einen starken menschlichen Zusammenhalt“, sagte mir ein Diplomat. Obwohl die moderne Universität — mit jetzt 700 Studenten — im Aufbau ist, fehlt Kulturleben. Das „gesellschaftliche Leben“ ist auf die zahllosen Klubs konzentriert. 30 gelten als beachtlich, drei als „erstklassig“. Einige haben schöne Anlagen an dem künstlichen See. Die Aufnahmegebühr kostet zwischen 900 und 30.000 österreichische Schilling, wird aber oft in Raten gezahlt — wie alles in Brasilien. Viele haben sich auch in der Umgebung kleine Grundstücke gekauft, auf denen sie ihr Wochenende verbringen. Freilich können sie erst in großer Entfernung auf Wald treffen. Brasilia liegt auf einer Hochebene, etwa 1100 m hoch. Es gibt natürliche Sträucher, aber keine Bäume. Die Stadtverwaltung hat längst zugesagt, Rasen anzulegen. Aber es ist kaum geschehen. Das Bild von dem gigantischen Skelett wird gerade auch durch die nackte rote Erde im Gegensatz zu den Zementhochhäusem und den Asphaltautostraßen hervorgerufen. Der rote Sand ist einer der größten Nachteile der neuen Hauptstadt. Im Sommer — Dezember bis Februar —• regnet es täglich. Die rote Erde verwandelt sich in glitschigen Lehm. Im Winter — Mai bis September — regnet es nie, es bleibt aber windig. Zuweilen bilden sich hohe rote Windhosen, in denen der Sand durch die Stadt quirlt. Auch sonst dringt der rote Staub in Häuser und Kleider ein wie in London der Nebel.

Soweit Bäume überhaupt — in minimalem Ausmaß! — gepflanzt wurden, hatten sie noch keine Zeit zum Wachsen. Brasilia ist eine Stadt ohne Schatten, ein Alpdruck der Helle…

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