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Brasilia — Traum und Erwachen

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Das monumentale Denkmal, das für seinen Ruhm „Jota Ka“, wie Juscelino Kubitschek de Oliveira sarkastisch genannt wird, mit Brasilia setzen wollte, ist im Begriff, ein Mahnmal der nationalen Besinnung zu werden.

Wo sind jene oberen Zehntausend, die am 30. Juni 195 8 vor der Traumkulisse aus Glas, Stahl und Beton, den erleuchteten Wolkenkratzern, die „Geburt der Metropole der jüngsten Großmacht“ feierten? Am anderen Morgen flogen sie heim nach Rio oder an die Cöte d'Azur, Paris, Deauville, auf allen Weltplätzen ist Brasiliens „Elite“ zu treffen, die Devisen verprassend auf Rechnung des Volkes, von 70 Millionen Menschen. Und da wundert man sich, wenn über den- Anden lächelnd der rote Vollmond, das Gesicht Mao Tse-tungs, aufgegangen ist. Unser Cruzeiro taumelt dem Abgrund zu. Im Hochofen der Inflation ist die erste Dollar-Milliarde der „Allianza para o Progresso“ zerschmolzen. Der Staatsbankrott könnte spielend überwunden werden, wenn jene Elite die ins Ausland verschobenen Devisen — eineinhalb Milliarden Dollar — wieder auf den Altar ihres heißgeliebten Vaterlandes legten. Brasilia brauchte uns weniger Sorgen zu machen. Wohnen wir nicht in der „Terra da Santa Cruz — im Land des Heiligen Kreuzes“? So nannten sie einst den neu entdeckten Erdteil.

Mein Freund, Senhor Afonso D. de T., ist einer der hier seltenen nationalen Idealisten, die selber zu jedem Opfer bereit sind. Kein Schönschwätzer, wie wir sie aus der Politik kennen, jene Geschäftemacher, die sich einzig zur Befriedigung ihres „sacro egoismo“ der Parteien bedienen. Mein Freund hätte als hoher Beamter, sich seinen rebellischen Kollegen in Rio anschließend, die Versetzung verweigern können. (Der weltbekannte Umzug der Akten mit 2300 Lastwagen hat bis heute noch nicht stattgefunden! Die Akten der Ministerien und Ämter ruhen zum großen Teil noch in Rio!) Sein stolzes Indioblut ließ es nicht zu. Woche für Woche nimmt er das Opfer auf sich, am Freitagabend entfliehtentfliegt er dem „Regierungs-Silo“, um wenigstens das Wochenende bei seiner Familie in Rio zu verbringen, um dann am Montagmorgen in die Stadt der roten Staubwinde, die „synthetische Gespensterstadt“, zurückzukehren.

Kilometer brechen das Genick

Wir Auslandsjournalisten witterten schon lange die Tragödie. Einige Herren von der Automobilindustrie waren auf den Gedanken gekommen, zu dem offiziellen Staatsakt der Verlegung des Regierungssitzes mit Karawanen von Wagen aus allen Himmelsrichtungen nach der neuen Metropole zu pilgern.

Wir aus der Region Ost (Rio) mußten 1200 Kilometer fahren. Die aus der Region West 600. Die aus dem Süden und Norden jedoch 2100 bis 2300 Kilometer, und über Straßen, auf denen noch vor wenigen Monaten der von wilden Menschen und Tieren beherrschte Urwald turmhoch stand. Vor der großen Feldmesse zählte man die eingetroffenen Autos. Vom Norden hatte nur eine kleine Gruppe nach einigen Abenteuern schlammbespritzt, zum Umfallen erschöpft, das Ziel erreicht. Richtig: „Brasilia sollte die Entfernungen brechen, doch in Wahrheit haben die Entfernungen Brasilia das Genick gebrochen“ („Correio“).

Schlecht hat in den Ohren der Brasilianer das Urteil geklungen, das Dr. Albert H u n o 1 d vom schweizerischen Institut für Auslandsforschung über Brasilia erstattete. In seiner Diagnose der allgemeinen Wirtschaftslage in Südamerika führt er gerade diese Stadtgründung als Beispiel von Wirtschaftsverschwendung an. „Man denke nur an Brasilia, das mit einem Kostenaufwand von rund 500 Millionen Dollar (allein von Seiten des Staates; mit den privaten Investitionen hat das Monstrum mehr als 2.500,000.000 Dollar verschluckt!) auf dem .größten Bauplatz der Welt' errichtet wurde.“ Geld spielt hier keine Rolle. Der Schreiber dieses Berichtes erinnert sich noch an den offenen Mund, den in Rio vor Jahren die Zuhörer vor dem deutschen Wirtschaftsminister Erhard machten, als er wunschgemäß über das Geheimnis des deutschen „Wirtschaftswunders“ sprach. Die Brasilianer erwarteten eine Zauberformel. Und was hörten sie? Ich sah, wie ihr Mund sich ruckartig wieder schloß. Was hatte der Mann gesagt? — „Sparen, meine Herren, sparen, sparen!“ Jedenfalls hätten diese Riesensummen für tausendmal wichtigere Aufgaben ausgegeben werden müssen, so redet heute der Mann der

Straße. Gehört nicht fast halb Brasilien zu jenen berüchtigten Gebieten, wo sich die Bewohner nicht sattessen können? Wo die Neugeborenen wie Fliegen wegsterben? Wo es in allen zwanzig Staaten noch Aussätzige gibt? Keine Schulen, keine Kirchen, keine Krankenhäuser. Die nötigsten Straßen fehlen.

Der „Mann mit dem Strahlen antrieb

Doch wie gelangt mit solchen Lappalien ein Staatspräsident zu seiner „gloria“? Juscelino Kubitschek verkörpert die wirtschaftliche Explosion, die Brasilien dank den zwei Weltkriegen erlebt hat. Es scheint ein weiter Weg von den feudalen Grundherren, die noch vor fünfzig Jahren die Politik bestimmten, bis zu dem Sohn einer armen schlesischen Einwanderin, deren Namen er trägt und die sich nach dem frühen Tod des brasilianischen Vaters als „professora“ in dem toten Landesinneren von Minas durchs Leben brachte. Ihr Söhnchen Juscelino begann als Telegraphist in Belo Horizonte, der Hauptstadt der Provinz Minas. Nachts morste er seine Kabel, tagsüber studierte er Medizin. Seine Tüchtigkeit öffnete ihm, dem Präfek-ten von Belo Horizonte, die Bahn zum Staatsgouverneur. Seine Impulse belebten das ganze Land. Die deutschen

Mannesmann-Werke fanden in ihm einen tatkrätigen Förderer. Eine starke Wahlgemeinschaft seiner Partei, der Sozialdemokraten, und Gruppen der Mitte erhoben den vierundfünfzig-jährigen „Mann mit dem Strahlenantrieb“ Zur Präsidentenwahl 1955 auf den Schild. Sofort mobilisierte er die ökonomischen Kräfte überall im Land, nachdem er die halbe Welt, zuerst den reichen Bruder im Norden, dann England, Frankreich, Deutschland, die Schweiz, auf der Suche nach Kapital besucht hat. Er fasziniert, verblüfft. Er will allen zum Bewußtsein bringen, daß in Brasilien ein neues Zeitalter angebrochen sei. Sein „Entwicklungsprogramm der künftigen Großmacht“ sieht die Erschließung aller Reichtümer des Landes vor. Rund eine Dollar-Milliarde braucht er dazu. Doch plötzlich verstummen diese Themen. Um Jota Ka wird es still. Er sitzt mit dem

Architekten Oscar N i e m e y e r zusammen. Eines Tages lesen wir in der Zeitung:

Morgenröte?

„Bei dem Wettbewerb um den Gesamtplan einer neuen Hauptstadt des Landes, 16. März 1957, wurde der Vorschlag Lucio Costas mit dem ersten Preis ausgezeichnet und Oscar Niemeyer mit der Projektierung aller Bauten beauftragt. In drei Jahren wird Brasilia bezugsbereit sein.“

Bald darauf heißt es: „60.000 Ingenieure und Arbeiter haben das gigantische Unternehmen inmitten des Urwalds begonnen. In Tag- und Nachtschichten, pausenlos, wird gearbeitet. Flugzeuge transportieren das Baumaterial.“

Am 21. April 1961 verlegte Präsident Kubitschek, genau nach Termin, den Regierungssitz von Rio de Janeiro nach Brasilia.

Ungläubig verfolgte alle Welt das Zauberwerk. Bis dann im Fenster der Television die Staatsgebäude erschienen: das Präsidentenpalais, dem Jota Ka den poesievollen Namen Morgenröte gab. Dann auf dem Platz der „Drei Gewalten“ am Ende der Prachtstraße der Oberste Gerichtshof,“ der Senat und das Parlament. Auf dem Bildschirm tauchten dann noch im Rohbau die am wenigsten originellen Glaskästen der Ministerien auf, alle in Reih und Glied, ein Dutzend oder mehr: Außenministerium, Wirtschaft, Finanz, Heer, Marine, Luftfahrt, Gesundheit usw. In den Himmel ragten die Gerüste ungeheurer Wohnblocks, düster wie hinterbliebene Betonbunker des Krieges, jeder hundert bis hundertfünfzig Meter lang. Wer kennt Brasilia nicht? Der „Mann mit dem Strahlenantrieb“ hatte die Stadt wahrhaftig aus der Steppe gestampft. Diktatorisch erteilte Kubitschek unbeschränkte Vollmacht dem Architekten Oscar Niemeyer und Lucio Costa für alle Projekte. Niemand wagte es, dem geldfressenden Sog des Unternehmens Einhalt zu gebieten. Die Zentrifuge Brasilia entrahmte den letzten Cruzeiro aus den zwanzig Provinzen.

Brasilia wurde zu einem Mekka der Architekten. Damals überwog das

Staunen jede Kritik. Oscar Niemeyer hat selbst sein Werk definiert, „Warum diese Assoziationen von Häusern, von Autoschnauzen, von Kühlrippen?“ fragte man ihn. Er erwiderte: „Ich strebte nach Formen, die nicht auf dem Boden lasten, sondern die Paläste halten, wie wenn sie, leicht und weiß, an den unendlichen Nächten der Hochebene aufgehängt wären — Formen der Überraschung und der Erregung, welche die Besucher von den schweren Problemen, mit denen das Leben alle quält, abwendet.“ Mit diesem Bekenntnis sprach sich der Schöpfer Brasilias selber das Urteil.

„Alles für die Besucher — und wir?“ So fragen die Beamten, die hier (mit doppelten Gehältern 1) leben müssen. „Hätte diese Stadt eine Seele, die fühlt, leidet, jubelt, könnte man sie lieben oder hassen“, äußerte sich ein Diplomat. Hat der Mensch hier eine andere Wahl als unterzugehen in Zement, Stahl und Glas? Vergebens wartet Kubitscheks Walhalla auf die „Al-vorada“. Statt der Morgenröte brach die Sintflut der Inflation herein.

Präsident Goulart und seine Regierung erklärten dieser Tage: „Brasilia nao funciona. Es ist unmöglich, zu regieren.“ Die „Hauptstadt der kommenden Großmacht“ wurde hundert Jahre zu früh gebaut.

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