7213963-1992_42_06.jpg
Digital In Arbeit

Wundertäter gesucht

19451960198020002020

„Opfer und Sorgen" muß Itamar Franco, Nachfolger des suspendierten Präsidenten Collor de Mello, den Brasilianern zumuten, um die chronische Wirtschaftskrise zu bewältigen. Für drei Viertel der Bevölkerung bedeutet das vorerst wieder einmal den Abschied von der Hoffnung auf rasche Besserstellung.

19451960198020002020

„Opfer und Sorgen" muß Itamar Franco, Nachfolger des suspendierten Präsidenten Collor de Mello, den Brasilianern zumuten, um die chronische Wirtschaftskrise zu bewältigen. Für drei Viertel der Bevölkerung bedeutet das vorerst wieder einmal den Abschied von der Hoffnung auf rasche Besserstellung.

Werbung
Werbung
Werbung

Brasiliens neuer Präsident ist schon vom äußeren Erscheinungsbild her ein Gegentyp zum eben abgesetzten, jugendlich wirkenden Hoffnungsträger Collor de Mello: der 62jährige Itamar Franco gilt als zurückhaltend, asketisch und bescheiden.

Ob sich die Politik der beiden ebenso sehr unterscheiden wird wie das jeweilige Aussehen, wird man erst sehen. Die Ankündigungen klangen fast gleichlautend: Beseitigung der Armut, Kampf gegen Korruption, Ende der gravierenden sozialen Ungerechtigkeit...

Nun kommt es darauf an, ob der neue Präsident eine aussichtsreichere Strategie hat als sein Vorgänger -oder ob er eine ähnliche Strategie konsequenter und erfolgreicher in konkrete Maßnahmen umsetzen kann. Collor de Mello setzte auf neoliberale Systemreformen, auf die Kräfte des Marktes, auf die Privatisierung von Staatsbetrieben, den Abbau der Bü-

rokratie und der Staatsverschuldung. Er hoffte auf ausländische Investoren. Frischer Wind der Konkurrenz und dynamischer Schwung sollten den Sprung vom Schwellenland in die „Erste Welt" ermöglichen.

Wenn das Auftreten eines Politikers seinem Programm entspricht, dann könnte man von Itamar Franco eher ein bedachtsameres Vorgehen erwarten. Dabei sah es so aus, als ob Collor de Mello tatsächlich die Chance hätte, die Entwicklung in Brasilien in Bewegung zu bringen. Im Sommer war es möglich, sich mit den Gläubigern auf eine Umschuldung zu einigen: Das Land sollte wieder kreditwürdig werden - und das hätte auch die Neigung ausländischer Investoren zum Engagement vergrößert.

Aber wie das mit Umschuldungs-vereinbarungen so ist: es gibt sie nicht zum Nulltarif. Der Internationale Währungsfonds verlangte Begleitmaßnahmen, die bedeuten, daß die Bevölkerung den Gürtel noch enger schnallen muß.

So schafft es dieses Land womöglich wieder nicht, mit seinen Problemen fertig zu werden - obschon es mit Naturreichtümern gesegnet ist.

Die wirtschaftlichen Probleme sind bedrückend: 25 Prozent Inflation -nicht pro Jahr, sondern jeden Monat. Die Arbeitslosigkeit steigt, (1,3 Millionen Menschen verloren inzwischen im Raum Sao Paulo ihren Arbeitsplatz). Trotz aller Mühen steigt auch

die Produktivität nicht, sondern sinkt. Auf massive ausländische Investitionen wartet man immer noch.

In den letzten zehn Jahren mußten sich die Brasilianer außerdem viermal an neue Namen für ihre Währung gewöhnen. Das wirkt sich natürlich negativ auf das Vertrauen der Bevölkerung aus: „Unsere Politiker erzählen immer stolz, daß Brasilien auf dem Weg in die erste Welt ist. Aber von welchem Land sprechen sie? Sicher nicht von der Heimat der meisten Brasilianer," klagt Herbert de Souza, bekannter Soziologe in Rio de Janeiro im Gespräch mit der FURCHE. 20 Prozent der Bevölkerung verfügen über 67 Prozent der Einkommen, 50 Prozent müssen sich mit einem Zehntel davon begnügen.

Problem Schattenwirtschaft

150 Millionen Einwohner zählt dieses riesige Land in Lateinamerika; drei Viertel leben in den Großstädten, 15 Millionen in Elendsquartieren, die den Menschen eigentlich jede Hoffnung rauben. Von daherkommen auch die „Straßenkinder", die eines der brennendsten sozialen Probleme Brasiliens darstellen (FURCHE 41/ 1992). Als Hauptursache gelten die Bevölkerungsexplosion, die schlechte wirtschaftliche Lage - beides zusammen überfordern wohl jede Regierung. Ein öffentliches Sparprogramm aber bedeutet, daß man Hilfsmaßnahmen, nach denen eine solche

Situation ruft, allmählich einschränkt. „Der wirtschaftliche StabiTisierungs-kurs", so Herbert de Souza, „führt zu noch mehr Arbeitslosigkeit, noch mehr Verarmung, schärferen sozialen Problemen, zu einer weiteren Vergrößerung der Armee der Straßenkinder Brasiliens". Um sich halbwegs über Wasser zu halten, wandern viele Arbeitskräfte in die Schattenwirtschaft, die ohnehin bereits ein großes Problem für die Regierung ist. Die Schattenwirtschaft schädigt zwar nicht die darin Tätigen, aber die Staatskasse bleibt leer und auch dadurch schrumpfen die Mittel zur Milderung der sozialen Not.

Die Armen des Landes hausen in den sogenannten Favelas, den dicht gedrängten Hütten aus Blech und Kartons am Rande der wuchernden Großstädte.Unübersehbar für die Besucher auch die vielen „Mini-Fa-velas" unter Brücken, manchesmal direkt neben Autobahnen, auf einem schmalen Streifen Erde zwischen Beton und Leitplanken...

„Zehn Prozent der Zinsen würden allein genügen, um die Slums zu sanieren" rechnet der Soziologe aus Rio der FURCHE vor. „Rund 121 Milliarden Dollar Schulden hatte 1991 das Land, die jährliche Zinsbelastung beträgt 17 Milliarden Dollar".

Das mag sein; aber erst muß man diese zehn Prozent haben. Und ob es den armen Brasilianern dann wirklich besser geht, wenn man ihnen das Gefühl gibt, man müßte nur die Zinszahlungen reduzieren und schon wäre der erste große Schritt zur Beseitigung des Elends getan? Die Rechnung ist gewiß gut gemeint. Vielleicht hat der Wissenschaftler auch Grund zu seiner Meinung, „von oben" sei wenig zu erwarten, es müßte Druck „von unten" kommen. Allerdings sagt er einschränkend: „Das Volk hat resigniert und kämpft nicht mehr..."

Kann also nur ein Wundertäter Brasilien aus der Misere herausführen? Der neue Präsident kann diesbezügliche Erwartungen wohl auch kaum erfüllen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung