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Ist Lateinamerika schon verloren?

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Seit dem 24. Oktober 1970 scheinen in Lateinamerika die Uhren anders zu gehen: In die Moneda, das Präsidentenpalais von Santiago de Chile, ist der erste marxistische Staatschef Latednamerikas eingezogen, der auf demokratische Weise in sein Amt gewählt wurde. Der Einzug in den Präsidentenpalast war teuer erkauft: mit dem Ausnahmezustand in Chile, mit Massenverhaftungen und dem Tod des Oberbefehlshabers der Armee. Seither sind Nachrichten spärMch. Aber schon gibt es in drei lateinamerikanischen Staaten Regime, die wie Chile radikale Wege suchen. Neben Chile ist es Peru, dessen Offiziersjunta eine konsequente Landreform in die Wege leitete, die US-ölflrmen enteignete und die „radikalste Industriegesetzgebung seit Castros Machtübernahme in Kuba“ vornahm, wie die „New York Times“ jammerte.

in Bolivien setzte sich der linke General Juan Jos6 Torres nach einem Putsch und Gegenputsch als 186. Präsident in der 145jährigen Staatsgeschichte an die Spitze des Andenstaates. Das Programm von Torres: Befreiung von fremder Abhängigkeit und Enteignung aller Auslandsfirmen.

Das alles klingt für die Ohren ver-schreckter Europäer und US-Amerikaner wie Revolution und Meuterei. Aber: wie lange soll der internationale Skandal Lateinamerikas noch dauern?

40 Millionen der zusammen 140 Millionen Südamerikaner im arbeitsfähigen Alter sind ohne feste Arbeit. In Venezuela sind 71 Prozent, in Argentinien 74 Prozent, in Kolumbien 79 Prozent und an Panama 94 Prozent der Bauern ohne Landbesitz. Leibeigenen ähnlich, fristen Millionen Landarbeiter ihr Leben um einen Lohn, der sie gerade nicht verhungern läßt. Aber im Nordosten Brasiliens, südlich der kolumbianischen Hauptstadt Bogota, in den Villas Miserias südöstlich von Buenos Aires, verhungern auch täglich Menschen.

Von den 3,5 Millionen Kindern, die in diesem Jahr — 1970 — in Brasilien geboren werden, haben drei Viertel keine Chance für ein gesundes Überleben, wie r'er frühere Staatssekretär in Brasiliens Gesundheitsministerium feststellt. Und die Chancen für eine Änderung dieses Zustands sind schlechter denn je. Es gibt nur Schätzungen über den Analphabetismus. Nur einer von 750 Südamerikanern besucht eine Universität. Zwischen 1962 und 1967 emigrierten 3000 der besten Wissenschaftler in die USA. Dtie Wirtschaft stagniert. Uruguay, früher die Schweiz des Halbkontinents, hat den Weltrekord für Inflation aufgestellt: im letzten Jahrzehnt um 100 Prozent im Jahr. Noch 1937 stand Argentiniens Pro-Kopf-Einkommen an sechster Stelle der Weltrangliste. Heute steht es am 27. Platz. Im Jahr 2000 wird Lateinamerika — so ermittelten amerikanische Wirtschaftsforscher — den Lebensstandard erreicht haben, den Europa 1945 hatte. Dabei ist Südamerika-ein „Bettler, der auf einer Bank aus Gold sitzt“, wie schon im vorigen Jahrhundert Alexander von Humboldt sagte. Der Kontinent ist ungeheuer reich an Bodenschätzen, nutzbarer Fläche und Arbeitskraftreserven. Aber die Struktur der

Länder stammt aus einer Zeit, die in Europa die Französische Revolution provozierte.

Heute ist Südamerika ein exzellenter Boden für die Kommunisten. Allende ist der erste — werden ihm schon bald andere folgen?

ibei hatte es lange den Anschein, als gäbe es zwischen feudal-faschistoider Militärdiktatur auf der einen, dem Castroismus auf der anderen Seite keine Alternative für Südamerika. Inzwischen weiß man aber, daß es einen dritten Weg gibt. Allendes Vorgänger in Santiago, Eduardo Frei, erprobte mit seiner Christlich-Demokratischen Bewegung einen erfolgreichen Mittelweg. Unter Freis Regierung verdoppelte sich die Zahl der Schulbauten. Chiles Analphabetenrate ist in diesen sechs Jahren um sechs Prozent gefallen— und ist jetzt die niederste Latednamerikas. 100.000 Bauern wurden auf umverteilten Großgrundbesitz angesiedelt.

Und dennoch scheiterte der Sohn von Schweizer Einwanderern an der Größe der noch immer ungelösten Probleme — und an der Unvernunft der Rechten: der Großgrundbesitzer, eines Teiles der Armee und der US-Gesellschaften. Sie vor allem sind es, <fie jede Reform in Südamerika zunichte machen — so lange, bis sie selbst den Strick kaufen, an dem sie aufgehängt werden.

Die UNO-Wirtschaftskommission er-mittellte, daß Auslandsunternehmen zwischen 1960 und 1966 in Südamerika 2,8 Milliarden Dollar investierten — aber zur gleichen Zeit 8,3 Milliarden wieder herauszogen. Von jedem Hilfsdollar der USA gehen schon 20 Prozent für das US-Frachtmonopol auf. Das führt soweit, daß im größten Land des Haibkontinents, in Brasilien, 60 Prozent des Gesamthandels von ausländischen Firmen abgewickelt wird; 72 Prozent der Energieversorgung, 85 Prozent der Zigarettenproduktion, 70 Prozent des Maschinenbaus sind in ausländischem, vor allem US-Besitz.

Wen wundert der Antiamerikanismus der armen Brüder am La Plata und Amazonas, in den Pampas Argentiniens und den Saums von La Paz? Europa hat sich in all den Jahren, in denen es mit dem eigenen Wiederaufbau beschäftigt war, um Südamerika nicht gekümmert. Außer spektakulären Staatsvisiten — wie jene des Generals de Gaulle — bekamen die Lateinamerikaner von diesseits des Atlantiks nur wenig. Dabei fühlen sie sich durch Sprache und Kultur, durch Religion und Zivilisation Europa mehr verbunden denn je.

Vergessen halben Südamerika aber auch viele Katholiken in den reichen Ländern Europas und Nordamerikas. Spenden und Caritas-Hilfe wanderten oft unkontrolliert eher in Länder mit nichtchristlicher Einwohnerschaft in Asien oder Afrika: die getauften Verhungerten im Nordosten Brasiliens wären zu retten gewesen...

Heute erwacht ein Teil der Kirche Lateinamerikas. Noch ist er in der Minderheit. Aber viele Priester und Laien sehen angesichts der Ungerechtigkeit und des Elends nur mehr den Weg der Gewalt. Sie demonstrieren, sabotieren und revoltieren; die Militärdiktatoren machen kurzen Prozeß. An die hundert

Priester und Nonnen sollen, in brasilianischen Gefängnissen gefangen-gehalten werden — viele, heißt es, werden gefoltert.

Aber auch Bischöfe treten bereits mutig gegen Not, Elend, Ungerechtigkeit und Unfreiheit auf. Der Vorsitzende der chilenischen Bischofskonferenz, Erzbischof Jose Manuel Santos: „Wenn Christus uns betrachtet, wird Sein Urteil streng sein. Denn Er kann keine kapitalistische Struktur gutheißen, die gegen die Würde des Menschen ist.“

Gegen die Struktur des Kapitalismus wurde auch vor fast 80 Jahren die Enzyklika „Rerum novarum“ geschrieben. Gilt sie für Südamerika nicht?

Man müßte — spätestens seit dem Vormonat dieses Jahres — Südamerika den Kommunismus ersparen. Es gibt einen dritten Weg. Die Katholiken können ihn zeigen. Nicht nur in Santiago oder. Recife. Auch in Europa. Noch ist Lateinamerika nicht verloren.

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