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Wo ist der neue Mensch?

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Zehntausende junger Argentinier demonstrierten — ausnahmsweise — friedlich. Sie gehörten zu den (rechtsgerichteten) Gewerkschaften, zu den (linken) „Juventudes Peronistas“, den (ultralinken) Guerillero-Verbänden der „Montoneros“, der „FAP“ und „FAR“, der trotzkistischen „ERF“ und (mit Hammer und Sichel) zu den Kommunisten. Sie waren sich einig in ihrem Protest gegen den Staatsstreich in Chile, den Tod Allendes und in ihrem gemeinsamen Ruf nach „Emanzipation“. Dieses Modewort gellt durch Lateinamerika. „Wir wollen Freiheit vom nordamerikanischen Joch“, rufen Nationalisten so laut wie Marxisten. Das traditionelle Feindbild vom „teuflischen Yankee“ ersetzt klare politische Vorstellungen. Es fällt den leidenschaftlichen „Castristas“ nicht schwer, ihren Haß aus der Isolierung Fidel Castros zu schüren. Dazu kommen Hinweise auf längst verjährte nordamerikanische Invasionen in Guatemala und in der Dominikanischen Republik.

Auf höherem Niveau wird das Gespenst der „wirtschaftlichen Aggression“ belebt. Hier liegen neue Beispiele vor. Ekuador und Peru kaperten nordamerikanische Fischereischiffe am laufenden Band, die in der von den lateinamerikanischen Ländern einseitig proklamierten „200-Meilen-Grenze“ gefischt hatten. Mit mehreren Staaten, vor allem Peru und Chile, gab es erbitterte Auseinandersetzungen über Entschädigung für enteignete nordamerikanische Unternehmen. Die Enthüllungen über skandalöse Umtriebe der multinationalen ITT gegen die Amtsübernahme Allendes erregten bis in den nordamerikanischen Kongreß hinein Aufsehen. Gerade deshalb ist es so unwahrscheinlich, daß die von Perön und Fidel Castro beweislos erhobenen Vorwürfe, daß die CIA hinter dem neuen chilenischen Putsch “stehe, auf Wahrheit beruhen. Aber alle lateinamerikanischen Staaten sind sich darüber einig, daß sie von der USA-Regierung ungenügend beachtet und in ihren wirtschaftlichen Interessen beeinträchtigt werden. Das bezieht sich einmal auf die multinationalen Gesellschaften. Ihnen wird vorgeworfen, daß sie nur ihre eigenen Interessen verträten und unmäßige Gewinne transferierten. Derselbe Vorwurf wird weitgehend dem Auslandskapital gegenüber erhoben, dem man mit seltsamer Haßliebe begegnet.

Aus dieser Sachlage hat sich die Theorie von der sogenannten „De-pendencia“ („Abhängigkeit“) entwickelt. Ihre Anhänger glaubten, daß die Enteignung der Unternehmen genügt, um die eigenstaatlichen Interessen zur vollen Geltung zu bringen und die Mehrgewinne abzuschöpfen.

Tatsächlich gibt es aber keine echte Unabhängigkeit, es sei denn zwischen gleichstarken Partnern. Ohne Industrialisierung ist der Fortschritt Lateinamerikas undenkbar. Industrialisierung ist aber 'ohne Übertragung der technologischen Kenntnisse kaum vorstellbar. Also bleiben die Entwicklungs- von den Industrieländern abhängig. Nun verändert sich das Bild, wenn die Lieferung von Industrieeinrichtungen und die Abnahme der Rohstoffe in immer geringerem Maße von den USA und in immer größerem von Westeuropa, Japan und den Ostblockstaaten erfolgt. Doch handelt es sich hiebei vor allem um ein massen-psychologisches Phänomen. Dem lateinamerikanischen Anti-Yankee wird nicht klar, daß es nur die Zahl überlegener Partner steigert, ohne seine Unabhängigkeit zu erreichen.

Vor allem ist seine Unterstellung utopisch, daß es genüge, ein Unternehmen zu enteignen, um auch seinen Gewinn zu erwerben. Auch in Europa — also in einer unvergleichlich besser organisierten Zone — erweist sich immer wieder, daß Betriebe, soweit sie in Staatshände übergehen, ihre Rentabilität verlieren. Noch viel stärker versickert der frühere Gewinn bei den nationalisierten Betrieben in Lateinamerika. Das hängt mit der geringen Organisationskraft und der weitgehenden Ämter-Patronage zusammen. Hinzu kommt das veränderte Verhältnis zum Staat, dem nach lateinamerikanischer Sicht zwar eine weitgehende Verpflichtung zur Versorgung der Staatsbürger, aber ein geringer Anspruch auf ihre Arbeitsleistung zukommt. Das Wort „Vaterland“ wird zwar in allzu großen Lettern geschrieben, und der geringste Grenzzwischenfall genügt, um die Fensterscheiben des feindlichen Konsulates einzuschlagen. Landesverrat wird hoch bestraft. Hochverrat aber gilt als Gentleman-Delikt. Die lateinamerikanischen Staaten zeigen sich nach außen stark, nach innen schwach.

Diese Disziplin- und Verantwortungslosigkeit des „Normalbürgers“ gegenüber dem Staate ist den führenden Revolutionären klar. Sie gehen von der Unterstellung aus, daß sich der Volkscharakter in dem Augenblick ändere, in dem die „Oligarchie“ und der „nordamerikanische Imperialismus“ durch die „Herrschaft der Masse“ ersetzt worden seien. So waren sich Fidel Castro und Salvadore Allende in der Uberzeugung einig, daß mit ihrer Machtergreifung der „neue Mensch“ in Erscheinung treten werde. Obwohl die „freiwillige“ Arbeit an Feiertagen oder zu Ernteeinsätzen aus östlichen Volksdemokratien importiert wurde, ist der wirtschaftliche Fehlschlag in Kuba und in Chile zum großen Teil daraus zu erklären, daß bei dem lateinamerikanischen Volkscharakter dieser „neue Mensch“ auch durch intensivierte revolutionäre Propaganda nicht erzeugt werden kann. Niemand hat schärfer gegen Arbeitsscheue gewettert als Fidel Castro, nirgends hat es so viele Streiktage gegeben wie im Chile Allendes. Gewiß hat dieser die „Oligarchie“ und den „USA-Imperialismus“ für alle Widrigkeiten verantwortlich gemacht, aber es war die Streikbewegung von 40.000 (selbständigen) Lastwagenfahrern und des kleinen Einzelhandels — also von Repräsentanten des unteren Mittelstandes —, die seinen Sturz ausgelöst hat.

Wirtschaftliche „Unabhängigkeit“ und der „neue Mensch“ sind für das Lateinamerika von heute illusionäre Wunschvorstellungen.

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