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Allianz mit Europa?

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Was trotz extremrier Verschiedenheiten die Nationen Lateinamerikas — außer der Sprache (Portugiesisch ist dem Spanischen ähnlich) und einiger Traditionen — gemeinsam haben, ist, daß sie sich bis zu einem gewissen Grade in ähnlicher Lage befinden. Dies in zwei Hinsichten. Selbst die entwickeltsten Lander stehen noch am Beginn des Industriezeitalters, haben „europäisches Niveau“ noch nicht erreicht; selbst die wenigst entwickelten haben damit begonnen, einige Industriezweige aufzubauen. Die erste Etappe der Industrialisierung war und ist immer, in aller Welt und unter . allen Bedingungen, mit äußersten sozialen, ökonomischen und daher auch politischen Spannungen verbunden; das gilt für England ebenso wie für die Sowjetunion, für die USA wie für Italien und alle übrigen. England und Italien litten jahrzehntelang unter der Arbeitslosigkeit, und der Arbeitslosigkeit wegen mußten die Arbeiter dieser Länder zu elendsten Bedingungen arbeiten. In den USA war die . Industrialisierung mit einem grausamen, vierjährigen Bürgerkrieg verbunden, in der Sowjetunion mit dem harten Regime der Stalin-Epoche. Eine — neben anderen, und eine für Lateinamerika heute besonders typische — Ursache dessen ist es, daß die Industrialisierung in ihrer ersten Etappe mehr Arbeitsmöglichkeiten liquidiert als neue schafft. Die jungen Industriebetriebe erzeugen je Arbeitskraft ein Vielfaches dessen, was die Handwerksbetriebe erzeugen konnten, die von der Industrialisierung zum Sterben verurteilt sind. In Lateinamerika verhält es sich heute so, daß — im Gesamtdurchschnitt — eine Produktivitätssteigerung pro Arbeitskraft um 3 oder 4 Prozent jährlich fast „unvermeidlich“ ist; sie ergibt sich, selbst ohne große Investitionen, einfach aus der besseren Ausbildung der Arbeiter, aus der Erweiterung der Schulpflicht und aus organisatorischen Verbesserungen. Gleichzeitig vermehren sich

— dank der Fortschritte der Medizin und der medizinischen Dienste, bei hohen Geburtenzahlen — Bevölkerung und Arbeitskräfteangebot um ebenfalls 3 Prozent oder mehr. Das Nationalprodukt müßte also zumindest um 7 Prozent jährlich steigen. In der Landwirtschaft ist es — schon von der Nachfrageseite her — fast unmöglich, eine derartige jährliche Steigerung zu erreichen, für eine entsprechende Ausweitung der Bautätigkeit und der „Dienstleistungen“ fehlt das Geld. Und der noch relativ kleinen Industrie das Kapital, um so schnell zu wachsen, daß sie für einen ausreichenden Teil des Bevölkerungszuwachses und außerdem noch für die Handwerker, die sie selbst arbeitslos macht, genügend Arbeitsplätze schaffen könnte.

Die harte, bittere erste Industrialisierungsepoche haben alle heutigen Industrienationen durchmachen müssen. Für die lateinamerikanischen Länder werden die „naturgegebenen“ Schwierigkeiten aber noch dadurch verschärft, daß die entwickelten Industrienationen Lateinamerika aus „ihrer Welt“ mehr oder weniger ausgeschlossen, die anderen noch nicht industrialisierten Weltteile aber wenigstens bis zu einem gewissen Grad integriert haben.

Die USA betreiben, wirtschaftlich, rücksichtslose Autarkiepolitik. Sie haben nicht nur die höchsten Zolltarife der ganzen Welt, sondern beschränken außerdem ihre Importe auch noch mengenmäßig — so etwa jene von Agrarprodukten, Textilien und Petroleum. Die Sowjetunion bildet mit den osteuropäischen Ländern einen Wirtschaftsblock. Die übrigen europäischen Länder haben sich zu einer Zollunion (EWG) und einer „Freihandelszone“ (EFTA) zusammengeschlossen; diese beiden Gruppierungen gewähren — wegen traditioneller und finanzieller Interessen teils Frankreichs, teils Englands — Afrika und Südasien Vorzugsbedingungen für den Import ihrer Waren nach Europa, die allein Südamerika diskriminieren. Europa importiert heute kaum 5 Prozent seines Fleischkonsums, die USA etwa 1 Pt zent — obwohl Lateinamerika Fleisch zu einem Drittel des europäischen oder amerikanischen Preises anbietet. Obwohl der amerikanische Weizen viel teurer produziert wird als der argentinische, sind die USA — : dank Staatssubvention — nicht nur Weizenselbstversorger, sondern größter Weizenexporteur der Welt, der den Argentiniern die Preise verdirbt. Der Kaffee — hauptsächliches Exportprodukt zweier der größten südamerikanischen Länder, Brasiliens und Kolumbiens — ist in Europa wie in den USA das beliebteste Sonderbesteuerungsobjekt, so daß die Produzenten nur einen Bruchteil des Marktpreises erhalten. Die Einfuhr von Textilprodukten unterliegt in Europa den höchsten Zollsätzen und ist in den USA sogar mengenmäßig begrenzt. Alle lateinamerikanischen Länder brauchen sehr viele Investitionsgüter der Industrieländer. Aber die Industrieländer sind nicht bereit, Lateinamerika seine Waren abzukaufen, und wenn, so nur zu durch handelspolitische Maßnahmen

äußerst gedrückten Preisen. Teils, weil sie vielfach teurere, eigene Produktionen schützen, teils, weil sie anderen Weltteilen den Vorzug geben.

Daß Lateinamerika traditionell und kulturell Europa viel enger verbunden ist als Afrika oder Südasien, daß es in Lateinamerika „unbegrenzte Möglichkeiten“ gibt, daß eine wirtschaftliche Allianz Europas gerade mit Lateinamerika am geeignetsten wäre, um nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das politische Gleichgewicht zwischen Europa und den USA wiederherzustellen — das haben in Europa nur sehr wenige begriffen. Nur die spanische und die jugoslawische Handeslpolitik (Ironie der Weltgeschichte) haben dem bisher, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, sogar auch Rechnung getragen.

Lateinamerika ist stark genug, auch allein mit seinen Problemen fertig zu werden. Seine großen Schwierigkeiten werden nicht zu äußersten Katastrophen führen. Diesen Optimismus begründen die Erfahrungen Mexikos, Argentiniens und Perus, aber auch anderer Länder. Der Patriotismus dieser Nationen ist so stark, daß er teilweise sogar schärfste Klassengegensätze überbrücken kann. Dies auch deshalb, weil die lateinamerikanischen Oberklassen nur einerseits ihre eigenen Unterklassen, anderseits aber dem nordamerikanischen Kapital im eigenen Land gegenüberstehen, und ebensooft das Bündnis mit der einen wie der anderen Seite suchen wollen oder suchen müssen. Weü selbst denen, die das Bündnis mit dem nordamerikanischen Kapital suchen, der allgemeine Patriotismus verbietet, direkte Interventionen zu fordern, und dies wieder den USA direkte Intervention unmöglich macht. Weil die Kirche in den meisten Ländern stark ist, sich zwischen den Extremen in wahrhaft neutraler Position befindet und konsequent alle fortschrittlichen Bestrebungen begünstigt, solange sie nicht zu blutigem Bürgerkrieg führen können. Und weil, schließlich, die Sowjetunion einerseits durch ihre Auseinandersetzungen mit China und ihre mangelhafte Unterstützung Kubas, anderseits durch die Okkupation der Tschechoslowakei kompromittiert ist, was die Lateinamerikaner viel bewußter miterlebt haben — gerade wegen ihrer Erfahrungen mit nordamerikanischen Militärinterventionen früherer Zeiten — als man sich das in Moskau oder in Europa hat „träumen“ lassen, besser gesagt: als man es bis heute begriffen hat. Lateinamerika wird seine Zukunft auch ohne Europa gestalten können. Dies wäre allerdings schade, für Europa ebenso wie für Lateinamerika. Und es würde beides, im wörtlichen und im übertragenen Sinne, vieles kosten.

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