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Zwischen Terror und Antiterror

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Zum Unterschied von den anderen romanischen Sprachen heißt „esperar“ in der portugiesischen Nationalsprache der Brasilianer nicht in erster Linie hoffen, sondern warten. Gewiß, die beiden Begriffe sind benachbart. Wie immer man zum „Brasilianischen Wunder“ — und damit ist die wirtschaftliche Entwicklung seit 1969 gemeint — stehen mag, manche nennen es „Experiment“, andere „Abenteuer“ — sicher ist, daß man Warten dort nicht mit Untätigkeit gleichsetzt. Man kann dem heutigen Brasilien vorwerfen was immer, wenngleich man die Jahreszahlen nicht durcheinandermischen und die Sünden der Vergangenheit nicht der Gegenwart anlasten sollte; eine ganze Menge der kritischen Vorbehalte sind berechtigt, aber daß ihm nach Jahrzehnten verbissenen Mühens und nach einer argen Durststrecke von 1964 bis 1969 der ökonomisch-technische Durchbruch gelang, ist unbestreitbar. Umstritten ist, ob und wann der nächste unerläßliche Schritt, ohne den alles bisher Erreichte zerrinnen müßte, gelingen wird, nämlich die gerechte Verteilung des neugewonnenen nationalen Reichtums, die politische Humanisierung, die Sozialreform.

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Zum Unterschied von den anderen romanischen Sprachen heißt „esperar“ in der portugiesischen Nationalsprache der Brasilianer nicht in erster Linie hoffen, sondern warten. Gewiß, die beiden Begriffe sind benachbart. Wie immer man zum „Brasilianischen Wunder“ — und damit ist die wirtschaftliche Entwicklung seit 1969 gemeint — stehen mag, manche nennen es „Experiment“, andere „Abenteuer“ — sicher ist, daß man Warten dort nicht mit Untätigkeit gleichsetzt. Man kann dem heutigen Brasilien vorwerfen was immer, wenngleich man die Jahreszahlen nicht durcheinandermischen und die Sünden der Vergangenheit nicht der Gegenwart anlasten sollte; eine ganze Menge der kritischen Vorbehalte sind berechtigt, aber daß ihm nach Jahrzehnten verbissenen Mühens und nach einer argen Durststrecke von 1964 bis 1969 der ökonomisch-technische Durchbruch gelang, ist unbestreitbar. Umstritten ist, ob und wann der nächste unerläßliche Schritt, ohne den alles bisher Erreichte zerrinnen müßte, gelingen wird, nämlich die gerechte Verteilung des neugewonnenen nationalen Reichtums, die politische Humanisierung, die Sozialreform.

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Es ist ein gigantischer Kampf um Zeit, der sich abspielt und der die Zukunft der nach territorialer Ausdehnung, Bevölkerungszahl und natürlichen Resourcen mit Abstand führenden Nation Lateinamerikas bestimmen wird. Sein Ausgang ist noch keineswegs sicher; die Chancen können ihm nicht abgesprochen werden. Esperar — ist die offizielle Parole in des Begriffes zweifacher Bedeutung: warten, hoffen; wozu noch das Verbuni precisar kommt,' das auf brasilianisch brauchen, nötig haben bedeutet. In der nationalen Propagandaformulierung heißt dies: Ordnung und Freiheit.

Brasiliens gegenwärtiges Regierungssystem hat trotz aller scharfen Ablehnung und Verfolgung kommunistischer Ideologien jeglicher Färbung mehr mit dem Osten als mit dem Westen gemeinsam, zumindest nach seinen äußeren Aspekten; ob-zwar dies von seinen westlichen Kritiker - geflissentlich , übersahen wird. OrTmung, Arbeitsfrieden werden groß geschrieben, nicht Freiheit; obwohl es sehr viel mehr Freiheiten gibt als in irgendeinem Land des kommunistischen Ostens.

Man sucht den Geschäftspartner, aber nicht den Protektor. Dies gilt den USA gegenüber wie gegenüber jeder Art des internationalen, rein spekulativen Kapitalismus. Die führenden Zeitungen des westlichen Auslands sind frei erhältlich — wenngleich mit zwei- bis dreitägiger Verspätung; ihre zum Teil vernichtende Kritik sieht an einem vorüber: nämlich an der stärksten motorischen Kraft, die zur Zeit die übergroße Mehrheit aller Brasilianer beherrscht, ob Weiße, Mulatten, Mestizen oder Neger — dem brasilianischen Nationalismus.

Die Nation, die vor gar nicht allzu langer Zeit vom Liberalismus im guten wie im schlechten Sinne lebte, hat sich in allen ihren Schichten einem nationalen Bewußtsein verschrieben, das sich von dem Moment an, als es den großen Massen, zumindest in den Städten, besser ging — gewiß noch immer ein relativer Begriff —, als stärker erwiesen hat als die revolutionären Parolen zahlloser Gruppen und Grüppchen. Dazu kommt der im Grunde tolerante portugiesische Charakter, der viel weniger zu Gewaltaktionen neigt als seine Verwandten aus der spanisch sprechenden Welt, die übrigens unter den Ausländern zum Unterschied von der sehr angesehenen italienischen, polnischen, deutschsprachigen und japanischen Immigration, neben den Nordamerikanern zu den weniger beliebten zählen. Die spanische Sprache wird in Brasilien immer noch Kastilianisch genannt. An die Stelle der Matadore des Stierkampfs sind die Heroen des brasilianischen Alltags getreten, die großen Namen der nationalen Fußballteams. Solange das nationale Fußballteam in internationalen Kämpfen siegt, findet keine Revolution statt.

Die Regierung verweist auf eine Steigerung des Bruttonationalpro-dukts von mehr als 11 Prozent im Jahre 1971 im Vergleich zu den 2,8 Prozent der USA; auf eine Steigerung der Exporte 1972 auf 3,5 Milliarden Dollar; darunter Exporte von den brasilianischen Volkswagenwerken in Säo Paulo nach Deutschland, von Messer und Scheren brasilianischer Erzeugung nach Solingen. Die Inflationsrate, die noch vor acht Jahren 40 Prozent im Jahresdurchschnitt betrug, wurde 1972 auf etwa 12 Prozent gesenkt, im Vergleich zu 100 Prozent im benachbarten Argentinien. Die Inflation wird in Brasilien löffelweise verordnet und damit den Exportchancen neuer Auftrieb verschafft. Übrigens gibt es auch eine gleitende Lohnskala; ob sie ausreichend ist, um den Verlust der Kaufkraft auszugleichen, ist eine andere Frage. Was ungleich schwerer wiegt, ist nunmehr die anerkannte Sauberkeit zumindest in den führenden Rängen. Die alten Erbkrankheiten, der Schlendrian und die Korruption, scheinen ausgemerzt zu sein. Leider nicht das Unwesen des organisierten Kinderbettelns und vor allem der Kriminalität, in der Rio und Säo Paulo Städten wie Chikago und New York trotz ungleich stärkeren Polizeiaufgebots kaum nachstehen.

Weder Militärdiktatur und Polizeiregime noch die unbestreitbaren Auswüchse des Antiterrors, die jedem Terror folgen wie das Amen aufs Gebet — und nicht nur in Brasilien —, noch auch die Haltung der katholischen Kirche, zu der sich nominell 95 Prozent der Brasilianer bekennen; mit einem Wort, das ganze heutige Brasilien ist ohne Kenntnis seiner politischen Geschichte nicht zu verstehen.

Der Portugiese Pedro Alvares Cabral und nach ihm, gleichfalls in portugiesischen Diensten, der Italiener Amerigo Vespucci entdeckten um 1500 das Land. Seine neuen portugiesischen Herren, noch völlig im Dunklen über seine Ausdehnung, haben es zunächst Terra dos Papagaios und dann Santa Cruz benannt, während die gleichfalls an der Kolonisierung interessierten Franzosen nach einer speziellen brasilianischen Rotholzart den Namen Bresil wählten. Er wurde von den neuen portugiesischen Kolonialherren übernommen. Die Kolonisierung ging im übrigen die gleichen oft erbarmungslosen und blutgetränkten Wege wie in den übrigen neu entdeckten Ländern des Westens, zumeist auf Kosten der Indianer; allerdings mit dem bedeutsamen Unterschied, daß die Portugiesen zunächst und für lange ein geringeres Interesse an ihrem neuen Besitz zeigten als ihre spanischen, französischen und bald auch holländischen Rivalen, ganz zu schweigen von der angelsächsischen Kolonisation in den späteren USA. Der Grund war wohl, daß die Berichte der ersten Entdek-l*er entmutigend klangen: das Land sei höchstens wegen des Ausbaues seiner möglichen Seehäfen von Interesse; kein Vergleich mit dem Orient, mit Malayen und Indien ... Erst heute weiß man, daß die Resourcen Brasiliens denen der USA kaum nachstehen, die allerdings um rund 100 Jahre voraus sind; so etwa in der Frage des Durchbruchs zum fernen Westen, der in den Vereinigten Staaten durch den forcierten Eisenbahnbau gelang und der in Brasilien heute durch Mammutautostraßenbauprojekte versucht wird. Hat nicht das nordamerikanische Beispiel gezeigt, daß trotz mancher barbarischer Härten am Ende der Nutzen für alle und, im Durchschnitt gerechnet, der höchste Lebensstandard der Welt steht?

Schlußfolgerung: was dort gelang, müßte trotz erheblicher Verspätung auch hier möglich sein. Und zwar in relativ kurzer Zeit bei konsequenter sachkundiger Planung und Ausnützung allen technischen Fortschritts. Zunächst müsse die gesicherte nationale Höchstleistung da sein, bevor man an eine sozial gerechtere Verteilung der Revenuen denken könne. Den Kalender aufzustellen sei Sache der Technokraten, nicht der Politiker. Daher: esparer...

So ähnlich könnte man die offizielle Begründung des heutigen Regimes formulieren; wobei natürlich sofort auffällt, daß der Vergleich mit den USA nicht zur Gänze stimmt. Einmal, weil man in Brasilien bei der Tempoberechnung des Fortschritts den Menschen von heute und nicht den der Jahrhundertwende oder auch noch den der letzten 30 Jahre ins Kalkül ziehen muß; dann, weil hier und dort die Menschen in ihrer großen Mehrheit doch sehr verschieden sind, teils infolge der äußeren Lebensbedingungen des tropischen Landes; dann auch, weil im Amazonas-Gebiet, um dessen Erschließung und Besiedlung es sich handelt, die Natur auch der fortgeschrittensten Technik eine Herausforderung gegenüberstellt, die schwerste Risken in sich schließt und die Standardvorstellungen menschenwürdiger Arbeitsbedingungen immer wieder in Frage stellt. Das Amazonas-Becken und der Matto-Grosso, also der Westen und Mittelwesten Brasiliens, umschließen aber 64 Prozent des Landareals mit derzeit nur 9 Prozent der Bevölkerung.

Demgegenüber hat Brasilien allen anderen großen und potentiell reichen Nationen eines voraus: es hat keine internationalen Probleme, es sei denn, jene wirtschaftspolitischer Natur, die es jedoch mit seinen beträchtlichen Exportsteigerungen und Importreduktionen seit 1971 zufriedenstellend lösen kann. Einst im wesentlichen als „Kaffeeland“ bezeichnet, gehört Brasüien heute, so unwahrscheinlich dies klingt, zu den Kaffeeimporteuren.

Was man in Brasilien die Erste Republik nennt, reichte bis 1930. Am Beginn der Nation stand der Gegensatz: Unabhängigkeitsbewegung — Kolonialherrschaft, also der brasilianische Nationalismus. Ihm folgte die Polarisierung der Gegensätze: Regionalismus — nationale Einheit, will sagen: zentralistische Führung. Die Abschaffung des Sklavenhandels und dann der Sklaverei am Ende des und durch das monarchische Regime, führte zu wirtschaftlichen Umschichtungen großen Stils, zu Unruhen, zur Republik und damit zu neuen politischen Antipoden. Die Ausschaltung der Monarchie war das Werk der Armee, so auch die durchaus humanen Formen, in denen sich der Umschwung vollzog. Dom Pedro I. (1821 bis 1831) aus dem portugiesischen Königshaus wird heute als Schöpfer der brasilianischen Unabhängigkeit gefeiert; seine erste Gemahlin, Erzherzogin Leopoldine, Tochter Kaiser Franz I., lebt heute noch in der Erinnerung als „Mutter der Nation' und liegt im Nationaldenkmal vor Säo Paulo begraben. Das Experimenl seines Sohnes, des übrigens bis heut verehrten Kaisers Dom Pedro II (1840 bis 1889) — mehr wissenschaftlichen als politischen Interessen zugetan —, Brasilien nach dem damaligen Modell des konstitutioneller England zu formen, ist gescheitert Die Führung der Armee versuchte es mit dem Kopieren des damaliger bundesstaatlichen Konzepts der Vereinigten Staaten: weitreichend Autonomie der Bundesstaaten unc schwache Zentralgewalt. Der Manchester-Liberalismus der in der Gliedstaaten herrschenden Oligarchien erwies sich als der stärkere Teil Wiederum, wie schon in der Kolonialzeit, stand die Kirche in scharfei Opposition, zum Schutz der nach den-heutigen Sprachgebrauch Unterprivilegierten. Daraus entsprang der irr damaligen Brasilien besonders akut Antiklerikalismus. Nachdem . da; Land verschiedene lokale Kriser schlecht und recht überstanden hatte rief Getulio Vargas zum Zweck politischer, sozialer und wirtschaftlicheireformen zur nationalen Revolution auf (1930). Die Revolution war erfolgreich: Getulio Vargas wurde zum Präsidenten gewählt und blieb zunächst bis 1945 an der Macht. Unter ihm begann die Industrialisierung Brasiliens und zugleich die Stärkung der Zentralgewalt. Er schenkte den Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit besonderes Augenmerk und wurde deshalb bisweilen mit Franklin D. Roosevelt verglichen. 1937 diktierte er eine neue Verfassung und suspendierte damit die fälligen Neuwahlen unter der Motivierung, daß die Uneinigkeit im Land wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt sowie ein ordentliches Regieren verhindere. Während des zweiten Weltkriegs intervenierte er militärisch auf der Seite der USA. Vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober 1945 kam es zu schweren Straßenschlachten in Rio. Die Armee, die „das Ende der Diktatur und Garantie aller bürgerlichen Freiheiten“ verlangte, zwang Vargas zum Rücktritt. Zu seinem Nachfolger wählte das Parlament General Dutra, den früheren Kriegsminister. Fünf Jahre später wurde Getulio Vargas mit 55 Prozent der Stimmen neuerlich zum Präsidenten gewählt und amtierte bis 1954.

Im August 1954 erfolgte ein Attentat auf den Chefredakteur des katholischen Blattes „Tribuna de Impren-sa“ in Rio, in dessen Verlauf ein ihn begleitender Major der Luftwaffe getötet wurde. Die Armee bezichtigte Vargas der Mitschuld und forderte seinen Rücktritt. Getulio Vargas, nach dem heute eine der Prachtstraßen Rios benannt ist, beging daraufhin Selbstmord. Die Probleme verschärften sich in den nächsten zehn Jahren. Aber — Recht oder Unrecht — mit Getulio Vargas begann das neue Brasilien.

Vom August 1954 bis Jänner 1956 folgten in rascher Reihenfolge drei Präsidenten; und vom Jänner 1956 bis Jänner 1961 der Präsident Jusce-lino Kubitschek, dessen Name hauptsächlich mit der Planung und Durchsetzung der neuen Retortenhauptstadt Brasilia verknüpft ist. Was vor zehn Jahren Utopie schien, ist heute ein zwar nicht von allen begrüßtes, aber unbestreitbar funktionierendes und geographisch in günstiger Mitte gelegenes Zentrum der nationalen Verwaltung. Der Nachfolger Kubit-scheks blieb nur sieben Monate im Amt. Nach ihm kamen sechs turbulente Präsidentschaften und eine versuchte Verfassungsreform (1961), die den Ubergang vom Präsidentschaftssystem zur parlamentarischen Demokratie zum Gegenstand hatte; sie wurde auf Grund eines Plebiszits schon im Jahre 1963 widerrufen. Damit war die Präsidentschaftsdemokratie wiederhergestellt.

Von 1961 bis 1964 regierte mit kurzer Unterbrechung Präsident Joäo Goulart. Er verkündete weitreichende Reformpläne in Richtung einer durchgreifenden Demokratisierung; darunter Aufhebung des seit 1947 bestehenden Verbots der kommunistischen Partei, Zulassung der Analphabeten zum aktiven und passiven Wahlrecht, entschädigungslose Enteignungen zugunsten landloser Bauern. Dafür erreichte er im Kongreß keine Mehrheit. Darauf mobilisierten die Gewerkschaften und drohten dem Kongreß mit Generalstreik.

Wiederum bedurfte es nur eines Funkens, um das Pulverfaß zur Explosion zu bringen. Diesmal war es ein Konflikt um meuternde Matrosen und Deserteure, die der Präsident gegen seinen eigenen Marineminister deckte. Der Minister wurde entlassen, Worauf die Armeeleitung den Rücktritt Goularts verlangte; das Parlament beschloß seine Absetzung, und der Präsident ging ins politische Exil nach Uruguay.

Damit begann die neue Phase der Herrschaft der Militärs, die bis heute dauerte. In einem folgenden Bericht geht es um die Zukunftsaussichten des Regimes Medici, der als Präsident dem heutigen Brasilien vorsteht.

Dies ist die Vorgeschichte der Militärrevolte von 1964, die am Beginn des gegenwärtigen Regimes steht. Das Parlament wählte den General-stabsehef Marschall Castello Branco zum Präsidenten, der den militärischen Notstand erklärte. Er blieb bis zu seinem Tod durch Flugzeugabsturz im Juli 1967 im Amt. Zu seinem Nachfolger wurde wiederum der Generalstabschef, diesmal Marschall da Costa e Silva, gewählt.

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